
Von Dr. Johannes B. Metz, Innsbruck
Der Mensch ist jenes seltsame Wesen, das verwandelt werden muß, das sich selbst hinweggenommen werden muß, damit es auf gehe in seiner ganzen Größe und Würde. Darum auch ist es rettend und befreiend für den Menschen, in der Gegenwart von Dingen und Ereignissen zu leben, die größer sind als sein eigenes enges Herz und die deswegen diese verwandelnde Macht für ihn besitzen, die ihn drohend übersteigen und ihn schmerzlich überfordern, die ihn herauslocken über sich selbst und ihn hineinreißen in ihr Geheimnis, darin sie dann sein Herz erst aufschließen zu einer Größe und einer Tiefe, die es selbst kaum geahnt hat.
Alle Verwandlung ist schmerzlich, ist wie ein Untergang des Herzens selbst. Und darum ist es nicht leicht für den Menschen, das Größere zu bestehen, es wirklich bei sich ankommen zu lassen, seine Nähe auszuhalten und sie voll aufgehen zu lassen in der still empfänglichen Demut des Herzens. Nur allzu leicht sucht der Mensch sie zu bewältigen auf seine Art. Er ist immer in Gefahr, das je Größere zu nivellieren, das je Höhere zu verniedlichen, das Überwältigende an ihm niederzuhalten und in seiner verwandelnden Macht zu entschärfen, es abzudrängen in seiner heftigen, erregenden Gegenwart und sich bloß mit ihm zu beschäftigen im unverbindlichen Experiment und Spielwerk seiner Gedanken. So aber hat nicht das je Größere den Menschen verwandelt und zu sich selbst befreit, sondern er hat dieses Größere verwandelt in das Geschöpf seines kleinen Herzens, das all seine rufende und beschwörende, seine bestürzende und bedrängende, seine verwandelnde Macht verloren hat. Und er hat sich selbst dadurch ärmer gemacht.
Nun aber ist offensichtlich die Gefahr dieser Selbstverfallenheit des Menschen, dieser Heimtücke seines Geistes und seines Herzens dort am höchsten, wo das Nächste, in dessen Gegenwart wir leben, das Größte ist und daher seine uns verwandelnde Macht auch die bedrohlichste, schmerzlichste ist: dort wo Gott selbst über die Menschen gekommen ist, wo sein ewiges Antlitz aufgetaucht ist in unseren Horizonten, wo Advent Gottes bei uns ist, wo er über uns hereingebrochen ist in seiner ganzen verheißungsvollen, rettenden, aber auch schmerzlich verwandelnden Größe. Da erschrickt unser Herz, da ist seine radikalste Krise. Denn „wer kann den Tag seiner Nähe ertragen, wer besteht bei seinem Erscheinen?“ (Mal 3,2). Wer hält solcher Verwandlung stand, da Gott selbst auf uns zukommt, da er selbst die je größere Gegenwart wird, in der wir leben und in der wir selbst zu reifen haben? Wen schwindelt nicht vor seiner Größe, wer ringelt sich nicht ein, wer kann ihn ertragen, ihn, den nackten Gott, der „allein unsere Furcht und unser Schrecken“ (vgl. [402] Is 8,13) ist, dieses „verzehrende Feuer“ (Deut 4,24)? Können wir in dieses Feuer unsere Herzen werfen, damit sie an der Größe Gottes selber reifen?
Hier ist die größte Versuchung des Menschen, noch einmal sich selbst zu verfallen, noch einmal alles zu nivellieren und die andrängende Macht dieses Gottes niederzuhalten. Und doch ist er gerufen, diesen Gott zu bestehen. Er muß seine Nähe tragen können, damit er sich selber finde, damit er in dieser Nähe zu sich selbst verwandelt werde. Er muß durch die schreckliche Unendlichkeit Gottes hindurch zu sich selbst kommen. Kein anderer Weg ist ihm gegeben, sich selbst zu finden. Er muß diesen Gott bestehen — nicht einen fernen, antlitzlosen Gott, sondern ihn, den Emmanuel, den „über uns gekommenen Gott“, den Gott mitten in unserem Menschentum. Da er selbst über uns kam, da er selbst Mensch wurde, geht jede „Menschwerdung“ des Menschen durch ihn hindurch.
Und nun fragen wir uns einmal ganz schlicht in diesen adventlich-weihnachtlichen Stunden: Wissen wir wirklich, was wir sagen, wenn wir in unseren Gebeten und Gesängen bekennen: „Gott ist über uns gekommen, er hat uns heimgesucht“? Oder rücken wir nicht diesen Advent Gottes allzu rasch ein in die gewohnten Horizonte unseres Lebens, erliegen wir nicht gar bald der List unseres Herzens, das Erregende und Bestürzende, die andrängende Macht dieses Geheimnisses sanft, aber bestimmt abzureagieren? Ach, was machen wir Menschen so leicht aus diesem Advent Gottes! Wie zerschlagen wir ihn fein säuberlich in zwei Teile; den einen verlegen wir 2000 Jahre zurück und den anderen in eine ungreifbare, unendlich ferne Zukunft, nur damit wir uns selbst auf der Insel unseres eigenen Lebens aus der bedrängenden, verwandelnden Macht dieser adventlichen Nähe heraushalten können. „Gottes Advent“ — wir verrücken ihn zum Kind in der Krippe, zu dem wir dann alljährlich in friedlich-frommen Gedanken unserer Herzen zurückdämmern, und zu einer Episode am Horizont unserer Weltzeit, an die wir „glauben“ (wenn wir dieses anspruchsvolle Wort ohne weiteres für ein solch bloß gedankliches Einverständnis, ein reines Nichts-dagegen-haben gebrauchen dürfen). Aber den Zwischenraum, diese „Zwischenzeit“, in der wir alle leben (und die doch die End-Zeit ist, da ja „das Ende der Zeiten schon über uns gekommen ist“: 1 Kor 10, 11), halten wir uns selbst nur allzu rasch frei von dem drängenden Zuspruch dieser adventlich-eschatologischen Nähe Gottes. Wir haben doch schließlich die Kirche, ihre Sakramente, die Gnade, den Glauben! Gewiß. Aber wissen wir denn, mit welchem Feuer wir eigentlich spielen, wenn wir sagen „Gnade“, „Glaube“, „Sakrament“ —? Wissen wär etwas von der adventlichen Nähe Gottes gerade in diesen Geheimnissen unseres alltäglichen Lebens? Wissen wir, daß auch sie uns taufen mit dem Feuer seines alles verwandelnden Adventes? Sie werden nicht anders unser eigen, als daß wir in ihnen unser Herz dem Zugriff dieses Gottes selbst aus-[403]setzen, als daß wir uns hineinreißen lassen in die Not und das Glück seiner Nähe, die sie uns künden, die sie heraufführen in unsere Gegenwart, mit der sie uns einkreisen. Sie sind es gerade, die uns bezeugen, daß sich dieser eine große Advent Gottes bei den Menschen nicht hinabmindern und abdrängen läßt in die Perspektive einer versunkenen Vergangenheit und einer ungreifbaren Zukunft. Wir sind nie die Zuspätgekommenen und auch nicht die Zufrühgeborenen. Wir selbst stehen im Spannungsfeld der adventlichen Nähe Gottes, wir selbst sind je und je von ihr ergriffen, umzingelt von ihrer geschichtlichen Macht. Sie ist es, von der auch wir geprüft und gefragt sind in unserer Zeit, die auch wir zu bestehen und nicht bloß nachträglich oder vorläufig zu quittieren haben. Glaube, Gnade, Sakrament —, sie schützen uns nicht vor der verzehrenden Nähe Gottes, sie ziehen sie vielmehr auf uns, sie verdecken nicht, sie exponieren das Herz und machen uns alle zu Menschen dieses einen großen Advents, der einen großen Verwandlung, in der wir erst unser begnadetes Wesen finden.
So wäre es denn unsere adventlich-weihnachtliche Aufgabe, auf dieses Geheimnis unseres Glaubens, unserer Gnade … uns wirklich einzulassen, es gewähren zu lassen in seiner ganzen waltenden Größe, es aufgehen zu lassen in seiner verwandelnden Macht, so daß die Wogen der Nähe Gottes selbst zusammenschlagen über unserem kleinen armen Herzen und es hineinreißen in die Wahrheit seiner Ankunft. Ach, wenn uns das gelingt, dann mag das zunächst gar nicht aussehen wie eine friedliche weihnachtliche Erfahrung. Es ist der Untergang, den wir da kosten, da alles seine Gestalt und seinen Halt verliert, da die Sterne vom Himmel fallen und die vertrauten Horizonte unseres Lebens fliehen und alles wie eine Bewegung ins Leere aussieht. Wenn wir diese Leere aber aushalten, wenn wir Gott selbst wachsen lassen können in der schweigenden Empfänglichkeit unserer Herzen und die andrängende Macht seiner Nähe nicht niederhalten, dann werden wir in der letzten Tiefe unseres Herzens, dort wo wir uns selbst nicht mehr anblicken können und allein im Schweigen uns ertragen, auch etwas besitzen vom freundlich-seligen Geheimnis der weihnachtlichen Erfahrung. Wir werden ahnen: Dieser Untergang unseres Herzens ist doch wie ein großer Advent, unser Advent bei Gott im Advent Gottes bei uns, das Glück seiner Nähe, die alles erfüllt, die keine Horizonte mehr hat, weil sie unendlich ist, die uns wie ein Nichts bedroht, weil sie der Armut unseres Wesens alles geben will, die uns jeden Halt nimmt und jeden Boden entreißt, weil wir ganz und ungehalten in sie hineinstürzen sollen. Denn in ihr und nur in ihr, nur im Feuer dieser Nähe Gottes selbst werden wir unser eigenes Wesen finden, das er uns in Liebe zugesprochen hat, und nur in ihr werden wir den Frieden der Weihnacht haben, den wir in allen unseren Liedern und Worten und Tränen eigentlich meinen.
Geist und Leben. Zeitschrift für Askese und Mystik 29 (1956), S. 401-403.