
Fernsehansprache zu Heilig Abend 1972
Von Martin Niemöller
Dies Gloria in excelsis wird seit vielen hundert Jahren in fast jedem Gottesdienst zum Lobe Gottes laut. Jeder kennt es, auch der, dem es nicht mehr ist als eine blasse Kindheitserinnerung. Durch die Weihnachtsgeschichte ist uns eben vielleicht wieder bewußt geworden, daß dies Gloria eine Antwort ist, eine Antwort nämlich auf die vom Engel den Hirten verkündigte, aber für »alles Volk « bestimmte »große Freude«: »Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr!« [Lk 2, 10f.] Als kleines, hilfloses Menschenkind kommt der Retter in die Welt; niemand kann in ihm den auch nur vermuten, in dem der so oft tot gesagte, aber nun eben doch wirkliche, lebendige Gott uns selber besuchen und als unser Vater begegnen will. Der Engel des Herrn verkündigt es, und die »himmlischen Heerscharen« wissen darum und bezeugen deshalb: Die Ehre, die Majestät, gehört Gott in der Höhe; der Friede ist da auf der Erde, und Gottes Wohlgefallen ruht auf den Menschen!
Wohl geht es da um Wünsche und Hoffnungen; aber die gehen nicht in irgendeine, vielleicht ferne Zukunft: »Christ, der Retter ist da«, Jesus ist geboren, und er wird das Werk tun, von dem der Theologe Paulus bekennen wird: »Alle Gottesverheißungen sind Ja in ihm und sind Amen in ihm, Gott zu Lobe durch uns!« [2 Kor 1,20]
Eigentlich hatte man ja einen ganz anderen Erlöser und Befreier erwartet und leidenschaftlich erhofft – und dies Hoffen hat die Erscheinung Jesu noch lange überdauert und ist immer wieder einmal aufgeflammt: Aber die Botschaft vom Kind in der Krippe kam nicht zuerst zu den religiösen und [244] nationalistischen Eiferern; sie kam zu den Hirten – heute würden wir sagen: zu dem »Mann auf der Straße« – zu »gewöhnlichen Leuten«, die nie davon geträumt hatten, sie selber könnten ihr Los zum Guten wenden. Ihnen begegnet Gott als einer der Ihrigen, als ein Mensch, der den Beistand, die Hilfe, die Fürsorge seiner Mitmenschen braucht, um unter ihnen, mit ihnen, für sie leben zu können.
Deus maximus in minimis! Gott ist am größten in den Kleinsten! Aber wir meinen immer noch, unser Heil müßte von Großen, Mächtigen, Reichen kommen, und wir Kleinen, Machtlosen, Armen könnten nur warten, bis es kommt. Nicht so, meine Freunde: Wer das Heil von den – oder einem – Großen, Mächtigen, Reichen erwartet, der wartet ganz gewiß umsonst! Die können wohl die ganze Welt – jedenfalls unsern Planeten und den Mond –, die können wohl die Naturschätze wie die Rohstoffe, die Produktionsmittel wie die Produktionsstätten in ihre Gewalt bringen und sich auch die dafür nötigen Menschen kaufen. Eins können sie nicht: Sie können nicht den »Frieden auf Erden« schaffen. Wer kann das denn, wo auf jeden heute lebenden Menschen, der satt und mehr zu essen hat, zwei – und bald drei – andere kommen, die hungern oder verhungern. Für sie haben wir Satten, wir Großen, Mächtigen, Reichen nicht einmal ein paar Prozent übrig von dem, was wir nutzlos an sogenannte Rüstung verschwenden. Ausgerechnet zum Christfest haben angebliche »Christen« den von ihnen vor zwölf Jahren begonnenen, vorsätzlichen Massenmord wieder in Gang gesetzt; wir helfen ihn zu finanzieren und sehen schweigend zu. So wird kein Friede; aber so wachsen Verzweiflung und Haß, und wie bald mag daraus Katastrophe und Untergang werden?!
Daß Gott sein Wohlgefallen an uns Menschen haben könnte, die wir im Kampf ums Dasein immer egoistischer, immer unmenschlicher geworden sind, ist uns undenkbar, unvorstellbar geworden. Und da liegt die Wurzel aller »Gott ist [245] tot«-Philosophie: Für Gott ist deshalb kein Platz mehr da, weil kein Mensch mehr da ist, an dem Gott Wohlgefallen haben könnte! Darum tun wir lieber so, als gäbe es ihn gar nicht, und retten damit jedenfalls unsere uneingeschränkte Handlungsfreiheit, unseren Profit!
Nun aber liegt in der überfüllten Karawanserei von Bethlehem ein Neugeborenes im Futtertrog, und es wird heranwachsen, und bei seiner Taufe im Jordan wird eine Stimme sprechen: »Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe!« Dieser Menschensohn geht unbeirrbar seinen Weg des Dienens; er lebt und wirkt, er leidet und stirbt nicht für sich selber; er ist lauter Liebe für den Nächsten, den Bruder, den Mitmenschen. Darin erkennt er, anerkennt er, erfüllt er den Willen des Vaters. Er wird weder groß noch mächtig noch reich; aber Gottes Wohlgefallen ruht auf ihm und auf allen, die sich als die Seinen in seine Nachfolge rufen lassen. Und da wird dann auch Friede auf Erden, wie das die Gemeinde Jesu von Anfang an bekennt: »Er ist unser Friede!« [Eph 2,14]
Das »Christentum« schafft keinen Frieden, die christlichen Kirchen haben’s auch nicht geschafft; wo aber Menschen des Wohlgefallens, sich vom Geiste Jesu in Bewegung setzen lassen, da wird Friede geweckt und geboren, da können wir dem Hunger und dem Elend, der Rechtlosigkeit und der Unmenschlichkeit, denen nahe und ferne »Nächste« ausgeliefert werden, nicht unbeteiligt zuschauen; da ruft uns der Vater durch den Sohn seines Wohlgefallens, auch unsern Beitrag zu leisten, nicht ein Almosen, mit dem wir uns einer Verpflichtung entledigen, sondern einen Dienst, mit dem wir unsere mitmenschliche Solidarität zum Ausdruck bringen: »Liebe deinen Nächsten als dich selbst!« Nur so wird Friede, und dieser Friede ist in Jesus da; er will aber gelebt werden! Sei’s auch nur durch Opfer für den Dienst, den andere an unserer Stelle tun, wie bei »Brot für die Welt«. [246]
Jesu eigener Dienst für die leidenden Mitmenschen seiner Erdentage schien keinem der damaligen Geschichtsschreiber auch nur des Erwähnens wert; aber in ihm erschien der Heiland der Menschheit, der Retter unserer Menschlichkeit; und sein früher Tod hat seinem Leben wie seinem Wirken kein Ende setzen dürfen, und wir sagen so die Frohe Botschaft weiter: »Christ der Retter ist da!« – »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« [Lk 2,14]
Fernsehansprache zu Heilig Abend 1972.
Quelle: Martin Niemöller, Gewissen vor Staatsräson. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Joachim Perels, Göttingen: Wallstein 2016, S. 243-246.