
Im Lexion missionstheologischer Grundbegriffe hatte seinerzeit Kristlieb Adloff den Artikel Judentum geschrieben und sich dabei der Frage einer Judenmission angenommen:
Welcher Art ist die Mission der Kirche an Israel?
Eine auch heute noch als rechtgläubig verbreitete, scheinbar zeitlose These besagt: Wie alle Menschen, wie alle Sünder aus den Heiden (Gal 2,15), so sind auch bzw. besonders die Juden gemäß Joh 14,6; Apg 4,12 durch die Kirche zum Heilsglauben an Jesus Christus zu rufen. Die Juden werden damit unter die „ethne“ von Mt 28,19 subsumiert. Ein relativer Unterschied zwischen Juden und Heiden kann dabei konzediert und die Möglichkeit bleibender Treue zum Judentum (Tora) in die christliche Freiheit der Judenchristen (1Kor 7,18) gestellt werden. Jedenfalls ist die Erwählung Israels zum Dienst an den Völkern durch die Mission der Kirche ersetzt bzw. in ihr aufgehoben.
Aus einer sich auf Röm 9-11 stützenden heilsgeschichtlichen Sicht Israels kann sich eine doppelte Konsequenz ergeben:
a) Sieht man die Gegenwart unter endzeitlich-chiliastischem Aspekt, so kann in einer Art von eschatologischem Kurzschluß das Menschenwerk der Judenbekehrung zum Zeichen der Endzeit gemacht und insofern forciert werden.
b) Menschliche Bemühung um Bekehrung von Juden entfällt, wenn die Rettung Israels als endzeitliches Gotteswerk (Röm 11,26) streng von jedem Menschenwerk zu scheiden ist. Dem entspricht die Feststellung, daß nach dem Neuen Testament kein Heidenchrist zur Glauben weckenden Verkündigung von Jesus Christus an Juden berufen wurde. Die wahre Mission an Israel besteht dann wie bei Paulus (Röm 11,11.13f) in der Wahrnehmung des apostolischen Dienstes an den Heiden, in der Existenz einer messianischen Gemeinde inmitten der Völker. In welcher Weise an Jesus als den Messias glaubenden Juden („Messianische Juden“) ihre besondere Mission erfüllen, können Heidenchristen nicht bestimmen, auch nicht, indem sie diese Juden durch die Taufe als Christen definieren und so ihren unverwechselbaren Auftrag an Israel wie an der Kirche verhindern.
c) Die Gefahr des eschatologischen Kurzschlusses (a) wie die mit der Hoffnung auf die Rettung Israels durch Gott selbst (b) gegebene Möglichkeit der latenten oder offenen Judenfeindschaft (die Juden als hoffnungslos verstocktes Volk, Herausdrängen von Juden aus der Kirche) lassen sich ausschließen, wenn man in Röm 11,31 (lectio difficilior) liest, daß die Juden jetzt Gottes Barmherzigkeit erfahren: Eine heilsgeschichtlich-biblizistische Sicht reicht dann freilich nicht mehr aus.
Tritt „nach Auschwitz“ die unermeßliche christliche Schuld an den Juden ins Bewußtsein, so stellt sich die Frage nach der Legitimation christlicher Mission an Israel nicht mehr dogmatisch, sondern ethisch. In der Erkenntnis ihrer Schuld und in der Umkehr zu dem Gott Israels kann die Kirche Röm 9-11 als „Schutzrede für Israel“ (Lothar Steiger) und so die Verteidigung und den Schutz Israels als Inhalt ihrer Sendung neu begreifen lernen. Umkehr läßt nicht zuletzt die Schuld als Dankesschuld für das empfangene und auch künftig zu empfangende Erbe aus Israels bleibendem Dienst an den Völkern sehen, das die Kirche um ihrer selbst willen zum Dienst an Israels Integrität verpflichtet.
In der zur heutigen Weltstunde unumgänglichen Begegnung mit dem Judentum stoßen die Christen auf das Geheimnis des Glaubens Israels, das Geheimnis seiner Treue zur Tora: dieser Glaube kann abgesehen von der Bereitschaft, auf das Selbstzeugnis Israels zu hören, davon zu lernen und sich in Frage stellen zu lassen, nicht Gegenstand eines dogmatischen Dialoges sein. Die für das christliche Selbstverständnis wesentliche Frage, ob das Judentum theologisch als Problem der Ökumene oder des Verhältnisses der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen zu verstehen sei, muß wegen der spezifischen „Asymmetrie“ im jüdisch-christlichen Verhältnis, und so um der Freiheit des jüdischen Partners willen, offengehalten werden. Der Christ aber, der in der Begegnung mit dem Judentum des Geheimnisses des der Kirche anvertrauten Glaubens, des Glaubens Abrahams, und so seiner geistlichen Verbindung nicht nur mit dem biblischen, sondern dem gegenwärtigen Judentum innewird, ist dem Juden das Zeugnis seiner Bekehrung zu dem Gott Abrahams schuldig (Apg 15,3f). Das Zeugnis geschieht in der dem Christen durch Jesus Christus erschlossenen Hoffnung auf ein gemeinsames Gotteslob von Juden und Heiden (Röm 15,8-13). Insofern ist das Christuszeugnis Teil auch einer christlichen Mission an Israel, die sich jeden Gedanken an Bekehrung der im Gnadenbunde mit Gott lebenden Juden verboten sein läßt. Die von den Propheten geforderte stets nötige Umkehr Israels zu seinem Gott steht auf einem anderen Blatt und kann nicht Sorge der Christen sein.
Es zeigt sich, daß die Frage nach der „Judenmission“ einen innerchristlichen Streit um die Wahrheit erzwingt: Dem Dilemma von „Auftrag und Unmöglichkeit eines legitimen christlichen Zeugnisses gegenüber den Juden“ (Pierre Lenhardt) kann man weder nach der einen (Auftrag) noch nach der anderen (Unmöglichkeit) Seite hin entgehen. Geht es dabei um Israel als Kategorie christlichen Denkens, so werden sich alle Beteiligten vor falschen Verallgemeinerungen zu hüten haben. Vielmehr ergeben sich aus diesem Thema mit seiner unlösbaren Problematik, das „Reife und Ernst für unlösbare Probleme“ (Emmanuel Levinas) erfordert, die aus dem Drama einer gemeinsamen Geschichte erwachsen, gerade heilsame Differenzierungen, die dem Verständnis des biblischen Sinns von Sendung zugute kommen.