Dietrich Bonhoeffers Predigt zu Matthäus 16,13-18 im Juli 1933: „Hart am Abgrund des Todestales ist die Kirche gegründet, die Kirche, die sich zu Christus als ihrem Leben bekennt.“

Wilhelm Groß - Stürzende Kirche. Das Kreuz bleibt unversehrt
Wilhelm Groß – Stürzende Kirche. Das Kreuz bleibt unversehrt

Am 23. Juli 1933, dem Wahltag der vom NS-Staat überraschend ausgeschriebenen Kirchenwahlen, predigte der 27jährige Dietrich Bonhoeffer in Berlin über Matthäus 16,13-18:

Predigt zu Matthäus 16, 13-18, Berlin, 6. Sonntag nach Trinitatis, 23. 7. 1933

Von Dietrich Bonhoeffer

Da kam Jesus in die Gegend der Stadt Cäsarea Philippi und fragte seine Jünger und sprach: Wer sagen die Leute, daß des Menschen Sohn sei? Sie sprachen: Etliche sagen, du seiest Johannes der Täufer; die andern, du seiest Elia; etliche, du seiest Jeremia oder der Propheten einer. Er sprach zu ihnen: Wer saget denn ihr, daß ich sei? Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, son­dern mein Vater im Himmel. Und Ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.
(Mt 16, 13-18)

Wenn es nach uns ginge, so umgingen wir wohl immer wieder gern die Entscheidungen, in die wir gestellt sind, wenn es nach [466] uns ginge, so wollten wir uns lieber nicht in diesen Kampf um die Kirche mit hineinreißen lassen, wenn es nach uns ginge, so wollten wir lieber nicht immer wieder auf unserer Sache bestehen müssen, so vermieden wir gern die furchtbare Gefahr des Stolzwerdens gegen den anderen, wenn es nach uns ginge, so zögen wir uns heute lieber als morgen zu den Stillen im Lande zurück und überließen den anderen den Streit und den Stolz. Aber es geht eben – Gott sei Dank – nicht nach uns. Es geht mit Gott genau gegen uns. Wir sind vor die Entscheidung gefordert, wir können nicht ausweichen, wir müssen uns, wo wir auch stehen, die Verdächtigung gefallen lassen, rechthaberisch zu sein, aus Hochmut gegen die anderen zu reden und zu handeln, es wird uns nichts abgenommen – es heißt Ent­scheidung, es heißt Scheidung der Geister. Wir werden uns aus diesem Grunde ehrlicherweise auch die Bedeutung des heutigen Tages nicht verheimlichen.

Mitten durch das Dröhnen und Ächzen eines bis in die Tiefen erschütterten Kirchengerüstes, mitten durch das Abbröckeln und Zusammenstürzen hier und dort, hören wir die Verheißung von der ewigen Kirche, die die Pforten der Hölle nicht überwältigen können, von der Felsen­kirche, die Christus gebaut hat und an der Er durch alle Zeiten hindurch weiterbaut. Wo ist diese Kirche? Wo finden wir sie? Wo hören wir ihre Stimme? Kommt, ihr, die ihr mit Ernst so fragt, ihr Vereinsamten, allein Gelassenen, die ihr die Kirche verloren habt, wir wollen wieder zurück zur Heiligen Schrift, wir wollen zusammen die ewige Kirche suchen gehen. Wer Ohren hat zu hören, der höre.

In die Einsamkeit ist Christus mit seinen Jüngern gegangen, hart ans heidnische Gebiet, hier ist er mit ihnen allein, und hier ist der Ort, an dem er zum ersten Mal als sein Vermächtnis seine ewige Kirche verheißt. Nicht mitten im Volk, nicht auf dem sichtbaren Höhepunkt sei­nes Wirkens, sondern draußen, abseits, fern von den rechtgläubigen Schriftgelehrten, von den Pharisäern und von den Massen, die ihm am Palmsonntag das „Hosianna“ und am Karfreitag das „Kreuzige“ [467] zurufen, redet Er zu seinen Jüngern von dem Geheimnis und von der Zukunft seiner Kirche. Er hat offenbar gemeint, daß diese Kirche nicht in erster Linie auf den Schriftgelehrten, auf den Priestern oder den Massen aufgebaut werden könnte, sondern daß jene kleine Schar der Jünger, die ihm nachfolgten, dazu berufen sei. Er hat offenbar auch Jerusalem, die Stadt des Tempels und den Mittelpunkt des Volkslebens nicht für den rechten Ort dafür gehalten, sondern er geht in die Stille, wo er auf äußere, sichtbare Wirksamkeit sei­ner Verkündigung nicht hoffen konnte. Er hat schließlich auch den Zeitpunkt irgendeines großen Jubeltages nicht für den angemessenen gehalten, um von seiner Kirche zu reden, son­dern er verheißt diese Kirche angesichts des Todes, unmittelbar vor der ersten Leidensver­kün­digung. Also Kirche der kleinen Schar, Kirche da draußen in der Stille, Kirche angesichts des Todes – so etwas muß hier gemeint sein.

Jesus selbst stellt die entscheidende Frage, auf die die Jünger längst gewartet hatten: „Wer sagen die Leute, daß des Menschen Sohn sei?“ Antwort: „Etliche sagen, Du seist Johannes, der Täufer, etliche sagen, Du seist Elia, etliche Du seist Jeremia oder der Propheten einer.“ Ansichten, nichts als Ansichten. Man könnte diese Aufzählung von Ansichten ja beliebig erweitern. Etliche sagen, Du seist ein großer Mensch, etliche sagen, Du seist ein Idealist, etliche sagen, du seist ein religiöser Genius, etliche sagen, Du seist ein Heros, ein Held, ein Führer zu aller Größe. – Ansichten, mehr oder weniger ernsthafte Ansichten – aber auf An­sichten will Christus seine Kirche nicht bauen. Darum fragt er nun in unmittelbarer Anrede: „Und wer sagt denn ihr, daß ich sei?“ In diesem unausweichlichen Gegenüber mit Christus gibt es kein „Vielleicht“, kein „etliche sagen“, keine Ansichten mehr, sondern nur Schweigen oder die eine Antwort, die jetzt Petrus gibt: „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn.“ Hier wird mitten in dem Wirbel menschlicher Meinungen und Ansichten etwas ganz neues sichtbar. Hier ist Gottes Namen genannt, hier ist das Ewige ausgesprochen, hier das Geheim­nis erkannt, hier ist nicht mehr menschliche Ansicht, sondern genau das Gegenteil hiervon, hier ist göttliche Offenbarung und Bekenntnis des Glaubens. „Selig bist du, Simon, Jona’s Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein [468] Vater im Him­mel.“ „Du bist Petrus, der Fels, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen.“

Was unterscheidet Petrus von den anderen? Ist er eine so heldische Natur, daß er die anderen so hoch überragt? Er ist es nicht. Ist er von so unerhörter Charakterstärke? Er ist es nicht. Ist er von so unerschütterlicher Treue? Er ist es nicht. Petrus ist nichts, garnichts als ein beken­nender Mensch, ein Mensch, dem Christus in den Weg getreten ist und der Christus erkannt hat, und der ihn nun im Glauben bekennt, und dieser bekennende Petrus wird der Fels ge­nannt, auf den Christus seine Kirche bauen will.

Petruskirche – das heißt Felsenkirche, Kirche des Christusbekenntnisses. Petruskirche – das heißt nicht Kirche der Ansichten und Meinungen, sondern Kirche der Offenbarung, nicht Kirche, in der von dem geredet wird, was „die Leute sagen“, sondern Kirche, in der das Be­kenntnis des Petrus immer neu gesagt und ausgerichtet wird, Kirche, die garnichts anderes tut, als immer und allein das Bekenntnis singend, betend, verkündigend, handelnd auszurichten, Kirche, die nur so lange Fels unter sich hat als sie hierin bleibt, und die alsbald das auf Sand gebaute Haus wird, das der Wind dahinbläst, wenn sie hiervon aus irgendeinem verwegenen Grund meint abgehen oder auch nur einen Augenblick absehen zu dürfen. Aber Petruskirche – das ist nicht nur etwas, das man so mit ungetrübtem Stolz sagen könnte. – Petrus, der beken­nende, glaubende Jünger, Petrus hat in jener Nacht den Herrn verleugnet, in der Judas ihn verriet, er hat in jener Nacht am Feuer gestanden und sich geschämt, als Christus vor dem Hohenpriester stand, er ist der Kleingläubige, Furchtsame, der im Meer versinkt, Petrus ist der Jünger, dem Jesus gedroht hat: „Weiche von mir, Satan,“ er ist der, der auch später immer wieder schwach wurde, immer wieder verleugnete und fiel, ein schwacher, wankelmütiger, dem Augenblick unterworfener Mensch. Petruskirche, das ist die Kirche, die diese seine Schwäche teilt, die Kirche, die selbst immer wieder verleugnet und fällt, die untreue, klein­gläubige, furchtsame Kirche, die immer wieder weg von ihrem Auftrag auf die Welt und ihre Meinung sieht, Petruskirche, [469] das ist die Kirche aller derer, die sich ihres Herren schä­men, wo sie für ihn gerade stehen sollten …

Aber Petrus ist nun auch der, von dem es heißt: er ging hinaus und weinte bitterlich. Von Judas, der den Herrn auch verleugnete, heißt es: er ging dahin und brachte sich um. Das ist der Unterschied. Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. Petruskirche ist die Kirche, die nicht nur bekennen, nicht nur verleugnen kann, sie ist die Kirche, die noch weinen kann. An Was­serflüssen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Das ist Kirche; denn was heißt denn dies Weinen anderes, als den Weg zurück gefunden zu haben, als auf der Heimkehr sein, als der verlorene Sohn sein, der vor seinem Vater weinend in die Knie fällt. Petruskirche ist die Kirche mit der göttlichen Traurigkeit, die in die Freude führt.

Wahrhaftig schwankender Boden, nicht wahr? Aber doch Felsboden, denn dieser Petrus, die­ses schwankende Rohr, ist von Gott berufen, von Gott gefangen, von Gott gehalten. „Du bist Petrus“, wir alle sind Petrus, nicht der Papst, wie die Katholiken haben wollen, nicht die­ser oder jener, sondern wir alle, die wir vom Bekenntnis an Christus einfach leben als die Furcht­samen, Treulosen, Kleingläubigen und doch von Gott gehaltenen.

Aber nicht wir sollen bauen, sondern Er will bauen. Kein Mensch baut die Kirche, sondern Christus allein. Wer die Kirche bauen will, ist gewiß schon am Werk der Zerstörung. Denn er wird einen Götzentempel bauen, ohne es zu wollen und zu wissen. Wir sollen bekennen – Er baut. Wir sollen verkündigen – Er baut. Wir sollen zu ihm beten – Er baut. Wir kennen seinen Plan nicht. Wir sehen nicht, ob er baut oder einreißt. Es mag sein, daß die Zeiten, die nach menschlichem Ermessen Zeiten des Einsturzes sind, für ihn die großen Zeiten des Bauens sind, mag sein, daß die menschlich gesehen großen Zeiten der Kirche Zeiten des Einreißens sind. Es ist ein großer Trost, den Christus seiner Kirche gibt: Du bekenne, verkündige, zeuge von mir, Ich allein aber will bauen, wo es mir gefällt. Fahr mir nicht ins Regiment. Kirche, tu du das Deine recht, dann hast du genug [470] getan. Aber tu es auch recht. Sieh nicht nach Meinungen und Ansichten, frage nicht nach Urteilen. Rechne nicht immer wieder, sieh dich nicht nach anderem Halt um. Nicht nur Kirche bleibe Kirche, sondern du Kirche bekenne, bekenne, bekenne. Christus allein ist dein Herr, von seiner Gnade allein lebst du, wie du bist. Christus baut.

Und die Pforten der Hölle sollen dich nicht überwältigen. Der Tod ist der große Erbe alles Bestehenden. Er findet hier sein Ende. Hart am Abgrund des Todestales ist die Kirche gegrün­det, die Kirche, die sich zu Christus als ihrem Leben bekennt. Sie hat das ewige Leben gerade, wo der Tod nach ihr greift und er greift nach ihr, gerade weil sie das ewige Leben hat. Die bekennende Kirche ist die ewige Kirche, denn Christus schützt sie. Ihre Ewigkeit ist nicht sichtbar in dieser Welt. Sie ist unangefochten durch die Welt, die Wellen gehen hoch über sie und manchmal scheint sie ganz verdeckt und verloren. Aber der Sieg gehört ihr, weil Christus, ihr Herr, bei ihr ist und die Welt des Todes überwunden hat. Fragt nicht danach, ob ihr den Sieg seht, glaubt an den Sieg, dann gehört er euch.

Mit riesigen Buchstaben ist unser Text in die Kuppel der großen Peterskirche, der Papstkir­che, in Rom hineingeschrieben. Stolz weist diese Kirche auf ihre Ewigkeit, ihren sichtbaren Sieg über die Welt über die Jahrhunderte hinweg. Solche Herrlichkeit, die auch unser Herr nicht begehrt und getragen hat, ist uns versagt. Aber eine Herrlichkeit, die über alle Maßen größer ist als diese Herrlichkeit in der Welt, ist uns gewiß. Ob der Haufe groß und klein, ob niedrig oder hoch, ob schwach oder stark, wenn er Christus bekennt, so bleibt ihm der Sieg in Ewigkeit. Fürchte dich nicht du kleine Herde, denn es ist meines Vaters Wohlgefallen euch das Reich zu geben. Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Gottes Stadt steht fest gegründet. Amen.

Quelle: Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 12: Berlin 1932-1933, hrsg. v. Carsten Nicolaisen und Ernst-Albert Scharffenorth, München: Chr. Kaiser Verlag 1997, S. 465-470.

Hier die Predigt als pdf.

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