
Was Wilhelm Vischer in seinem Vortrag „Der Antisemitismus im Licht der Bibel“ von 1939 hinsichtlich einer NAMENsbezogenen Israeltheologie gesagt hat, ist noch immer lesenswert:
Der Antisemitismus im Licht der Bibel
Von Wilhelm Vischer
1.
Ihre Kommission, die vom Weltbund für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen beauftragt ist, sich der religiösen Minderheiten anzunehmen, hat allen Grund, sich ernstlich mit dem Antisemitismus zu befassen. Wenn sich der Antisemitismus gegen alle «Semiten» richtete, dann wäre allerdings nicht eine Minderheit bedroht. Tatsächlich ist jedoch der Antisemitismus der tödliche Haß gegen Israel, Und Israel ist kraft göttlicher Setzung die religiöse Minderheit par excellence, indem Gott aus der Gesamtheit der Völker, die in Unkenntnis des einen wahren Gottes vielen falschen Göttern dienen, das kleine Israel zur Offenbarung seiner Gottheit auserwählt hat. Darum ist der Antisemitismus international und vom leidenschaftlichen Glauben beseelt, daß sich mit dem Schicksal der Minderheit von zirka 15 Millionen Juden das Heil oder der Untergang der ganzen Menschheit entscheide.
2.
Die Bezeichnung «Antisemitismus», die irreführend scheint und wohl auch irreführen soll, als handle es sich um einen Rassenkampf, ist doch nach biblischem Sprachgebrauch die treffende Bezeichnung des Kampfes gegen Israel. Denn die Söhne Abrahams sind die eigentlichen «Semiten», d. h. die Träger des Gottesnamens. Abraham stammt nach Gen. 11 aus der Linie der Erstgeborenen Sems. Sem oder genauer «Schem» bedeutet auf hebräisch «Name». Gemeint ist der Eigenname Gottes, der durch die auserwählten «Söhne Sems» allen Geschlechtern auf der Erde bekanntgemacht werden soll. Wenn nach Aussage der Heiligen Schrift alle Dinge durch Gottes Wort in das Dasein gerufen worden und also hörbare Worte Gottes sind, so ist der Sinn, das Wort in allen diesen Worten der Eigenname Gottes. Das heißt: der Schöpfer des Himmels und der Erde will nicht irgend etwas sagen, sondern er will sich selbst mitteilen. «Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name auf der ganzen Erde!» (Ps. 8.) Den großen Namen seines Herrn und Vaters zu vernehmen und [11] in Kindesfreude zu preisen, dazu ist der Mensch berufen und inmitten aller andern Geschöpfe wenig niedriger gestellt als Gott. Er aber will sich selbst einen Namen machen. Stall in Gottes Namen will er in eigenem Namen leben. Das führt zu dem gigantischen Unternehmen jener vorsintflutlichen «Männer des Namens» (Gen. 6, 4), jener Gewaltmenschen, die das von Gott Geschaffene dazu mißbrauchen, daß sie sich selbst groß machen. Sie verkehren den Sinn der Welt in sein Gegenteil. Wenn Gott mit der Sintflut die Weltgeschichte nicht völlig abbricht, sondern sie noch einmal neu beginnt, so tut er es nur deshalb, weil er trotz dem bösen Trachten des menschlichen Herzens seinen Namen offenbaren will. In diesem Sinne darf Noah seinen Erstgeborenen segnen mit den Worten: «Gepriesen sei der Herr, der Gott Sems!» (Gen. 9, 26.) Die nachsintflutliche Menschheit faßt jedoch alle ihre Kräfte zusammen, um nach eigener Idee und mit eigener Gewalt ihr Schicksal zu bestimmen. Das Motto des Baus von Babel lautet: «Wir wollen uns einen Namen machen!» (Gen. 11, 4.) Das ist der Anti-Semitismus. Nun aber ruft Gott einen einzelnen heraus, damit er als ein Fremdling unter der antisemitischen Masse auf eine völlig andere Ordnung warte, auf die Polis, deren Baumeister Gott ist (Hebr. 11, 10). Abraham verkündigt den Namen des Herrn (Gen. 12, 8). Durch ihn und seine Nachkommen macht Gott seinen Namen allen Geschlechtern bekannt als der «Ich bin», wie er sich Mose gegenüber nennt (Ex. 3, 14). Israel hat nicht ein Bild oder eine Idee von Gott, es hat seinen Namen. Ihn soll es nicht entleeren (Dekalog). Ihn legen Aaron und die Hohenpriester immer wieder dreifältig auf die heilige Gemeinde, sie zu segnen (Num. 6, 23-27). Der Tempel, den Salomo als Gegenpol zum Turm von Babel, als den symbolischen Mittelpunkt der Königsherrschaft Gottes baut, ist die Stätte, von der Gott sagt: «Mein Name soll da sein» (1. Kön. 8, 29). Wer ihn betend anruft, wird erhört.
3.
Das Volk, das in Gottes Namen lebt, ist frei und heilig. Es lebt von der Gnade, hat sich also weder als Ganzes noch in seinen Gliedern mit Gewalt durchzusetzen. Die Herrschaft übt allein Gott. Er hat sein Volk als Minderheit auserwählt (Deut. 7, 7) und schützt in ihm die Minderheiten und die Schwachen, die Fremdlinge, die Witwen und die Waisen. Mit den Wehrlosen kehrt er die Machtverhältnisse auf der Erde um. Die Großmacht [12] Aegypten erfährt als erste diese Politik des Reiches Gottes. Der Bund mit dem Einen, der allein mächtig ist, verbietet Israel, sich mit den «Mächten», mit den Völkern und ihren Göttern zu verbünden. Diese politische Heiligung, d. h. Absonderung des Volkes Gottes zeigen vor allein Josua und die Propheten.
4.
Israel hält es nicht aus, heilig zu sein und als fremde Minderheit unter den Völkern allein von der Gnade Gottes zu leben. Schon am Sinai gestaltet es aus der Angst und Sehnsucht seines Herzens das goldene Stierbild. Von Samuel verlangt es, daß er ihm einen König gebe, wie ihn alle Nationen haben, damit er seine Existenz militärisch sichere. Es sucht die Verbindung mit den Mächten der Natur und der Geschichte (Elia, Jesaja). Israels Untreue hebt aber Gottes Treue nicht auf! Im Gegenteil: gerade an denen, die seinen Namen vor allen Völkern entweihen, heiligt der Herr seinen Namen, und zwar dadurch, daß er es tötet und wieder lebendig macht. Seine Auserwählten gibt er den Weltmächten preis (babylonische Gefangenschaft und Zerstörung des Tempels), so daß offenbar wird: Er ist der heilige Gott und nicht ein nationaler Götze, sein Name ist nicht zu verwechseln mit der religiösen Idee Israels. Zugleich bewahrt er einen heiligen Rest und setzt gerade den Paria der Welt wieder ein als Priester auf dem Zion (Jes. 40-55). Allein um seines Namens willen. Gerade der ungetreue Knecht ist berufen, unzweideutig zu bezeugen, daß das wahre Wesen des lebendigen Gottes seine reine Gnade gegen über den Sündern ist (Hes. 36, 20 ff; Ex. 34, 5-7; Ps. 115, 1).
5.
Gottes heiliger Name ist Jesus, der gekreuzigte und auferstandene Christus Israels. Durch ihn ist Gott den Menschen gegenwärtig und hat der Heilige Gemeinschaft mit den Sündern. Das Heil kommt von den Juden (Joh. 4, 22). Nur als der gekreuzigte König der Juden ist er der Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge (Off. Job. 3, 14). Ihm, der sich seiner göttlichen Gestalt entäußerte und als Jude geboren wurde und starb, hat Gott den Namen gegeben, der über alle Namen ist, neben dem kein anderer unter dem Himmel den Menschen gegeben ist, darin wir sollen selig werden (Phil. 2, Apg. 4). Durch ihn trägt Gott die Schuld der Welt seit dem Sündenfall, Gott persönlich, Gott allein mit seinem lieben Sohn, dem Einzigen. Das ist die Minderheit Gottes [13] gegenüber der ganzen Welt. Wo sind die Frommen? Da sind auch in Israel keine Frommen mehr neben dem Einen. In dem Einen offenbart der heilige Gott seine Frömmigkeit als die eine, alles umfassende Kraft, jeden zu erretten, der glaubt, Juden und Heiden, ohne Ansehen der Person. Da fällt die Schranke zwischen Israel und den Weltvölkern, und es bildet sich das Volk Gottes aus allen, die den Namen des gekreuzigten und auferstandenen Herrn, Jesus Christus, anrufen.
6.
Können gebürtige Juden auch dem Volke Christi angehören? Oder sind sie deshalb, weil sie den Herrn der Herrlichkeit den Heiden zur Hinrichtung ausgeliefert und damit den Namen Gottes in der grauenhaftesten Weise gelästert haben, vom Heil ausgeschlossen? Wer so fragt, hat nichts vom Evangelium verstanden. Die Kronzeugen Jesu Christi sind gebürtige Juden. Den Juden hat Petrus schon an Pfingsten verkündet: «Tut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes. Euch zuvörderst hat Gott auferweckt seinen Knecht Jesus und ihn zu euch gesandt, euch zu segnen.» Kein Mensch hat teil am Heil in Christus, der sich nicht in Solidarität mit den Juden schuldig bekennt am Tode Christi. Insofern der geborene Jude vor allen andern Menschen belastet ist mit der Schuld am Tode Jesu, insofern ist gerade er der kräftigste Zeuge für den Sieg der Gnade und Treue Gottes. Die jüdische Minderheit in der Kirche ist das sichtbarste Zeichen der wahren Kirche, das Kennzeichen ihres echten Ursprungs und das Unterpfand ihres Ziels. Die Gegenwart der Brüder aus Israel in den Kirchen der verschiedenen Nationen und Konfessionen hat für die Bildung der Einen heiligen allgemeinen Kirche eine unvergleichliche ökumenische Bedeutung. Das, was man heute als «die Entjudung» der Kirche preist, ist die radikale Entchristlichung der Kirche.
7.
Die Christusgläubigen aus dem alten Israel sind eine verschwindende Minderheit im Vergleiche zu der großen Masse der Juden, die den Christus Jesus ablehnt. Das eigenartige Wesen dieser «Juden» ist dadurch geprägt, daß sie berufen sind, vor allen andern Menschen den Namen Gottes zu tragen, ihn aber vor allen andern verwerfen. Rätselhafter Weise erhält Gott sie [14] in dieser Eigenart neben den Christen und den Heiden. Sie folgen der Kirche durch alle Zeitalter wie ihr Schatten. Der Apostel Paulus läßt uns in diesem Rätsel der Juden das göttliche «Geheimnis» erkennen: das Ende der Wege Gottes mit der Menschheit, die Wiederkunft Christi in Herrlichkeit, die letzte erlösende Wendung der Weltgeschichte hängen aufs engste damit zusammen. «Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren so lange, bis die Fülle der Heiden eingegangen sei» (Röm. 11, 25). Gerade in ihrer Verstocktheit muß die besondere Minderheit der Juden der übrigen Menschheit den Ernst und die Freiheit der Gnade bezeugen. Die Welt versteht das nicht. Ihr sind die Juden, die das Lamm Gottes verworfen haben, die gegebenen Sündenböcke, die sie schlachtet, um sich selbst zu rechtfertigen. Dadurch wird sie selbst immer gnadenloser. Gott aber hält denen, die er einmal zur Offenbarung seines Namens auserwählt hat, die Treue. Mitten durch alle Gerichte hindurch beweist er gerade mit ihnen, daß Heil und Verdammnis einzig und ganz von seiner freien Gnade abhängen und nichts, keine Bosheit und Sünde des menschlichen Herzens, weder Engel noch Teufel, den endlichen Sieg seiner Liebe in Jesus Christus vereiteln kann. Daß Gnade nicht ein leeres Wort, sondern der Inbegriff des Namens Gottes ist, daß alles allein an der Gnade hängt und eben darum für jeden, der glaubt, die Möglichkeit gegeben ist, daß er gerettet wird, das ist es, was nun gerade an den Juden allen andern deutlich werden muß. «Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und welches ich mich erbarmen will, dessen erbarme ich mich. So liegt es nun nicht an jemandes Wollen und Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Denn Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf daß er sich aller erbarme» (Röm. 9, 15 f; 11, 39).
So offenbart Gott das Geheimnis seines Namens vom Anfang bis zum Ende an Israel. An unserer Stellung zu den Juden muß es sich darum zeigen, ob wir den Namen Gottes recht erkennen und bekennen und ob wir in Wahrheit aus dem Glauben an die Gnade leben. Uns, die Gott aus den Heiden zu seinem Volke berufen hat, ist die Möglichkeit geschenkt, den Antisemitismus, mit dem sich die Menschheit zugrunderichten will, dadurch zu überwinden, daß wir jetzt auch und gerade den Juden die Barmherzigkeit Christi durch Wort und Tat bezeugen, auf daß alle, Juden wie Heiden, aus einem Munde den heiligen Namen Gottes preisen.
Referat, gehalten vor der Minoritäten-Kommission des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen in Genf am 8. August 1939.
Quelle: In Extremis 1 (1940), S. 10-14.