Rechtfertigungslehre und Glaube im Anschluss an den Römerbrief erläutert
Wenn es in der evangelischen Lehre um die Rechtfertigung des Sünders vor Gott geht, geschieht dies in der Perspektive des Jüngsten Gerichts, wo menschlichen Leben unter dem Gesetz endgültig nach göttlichen (nicht menschlichen) Maßstäben beurteilt wird: „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“ (Röm 14,10, vgl. Röm 2,1-16) Im göttlichen Urteil können Menschen mit ihrem eigenen Handlungsvermögen und mit den eigenen Werken nicht bestehen: „Wir wissen aber: was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, damit allen der Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei, weil kein Mensch durch die Werke des Gesetzes vor ihm gerecht sein kann. Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ (Röm 3,19f) bzw. „Ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.“ (Röm 7,18-20)
Wie wird nun der gerechte Richter ungerechten Sündern im Gericht gerecht? In einem Strafprozess hat nach menschlichem Verständnis die Unparteilichkeit des Richters zu gelten, der unter Beachtung vorgegebener Rechtsnormen ohne Ansehung der Person nach der Schwere der Tat das entsprechende Strafmaß („einem jeden nach seinen Werken“, Röm 2,6) festlegt und im jeweiligen Urteil ausspricht. Die darin enthaltene Gerechtigkeit distanziert den Richter vom Verurteilten. Die Gerechtigkeit Gottes hingegen, die sich im Christusgeschehen offenbart (vgl. Röm 1,16f; 3,21f), hält den Richter nicht auf Distanz zum Verurteilten, nimmt doch der Sohn Jesus Christus stellvertretend den Schuldspruch auf sich. Göttliche Gerechtigkeit ist damit gerade nicht unparteiisch, sondern ergreift im Kreuz von Golgota Partei für den Schuldigen, indem Jesus Christus als gerechter Hingerichteter die Schuld des Sünders selbst annimmt. So heißt bei Paulus: „Was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert, in uns erfüllt würde“ (Röm 8,3f; vgl. 2Kor 5,21 bzw. Gal 3,13). Der Gott wird dem Sünder nicht länger in der gesetzlich geforderten Zuschreibung einer verdienten Strafe gerecht (im Sinne einer retributiven Gerechtigkeit), sondern in seiner Gemeinschaftstreue (hebräisch zedaka[1]), die in Jesus Christus sich des Sünders in dessen untreuen Verlorenheit annimmt und diesen mit sich selbst versöhnt (restaurative Gerechtigkeit nach Howard Zehr[2]).
Rechtfertigung des Sünders geschieht durch Jesus Christus, „welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt“ (Röm 4,25). Göttliche Gerechtigkeit offenbart sich somit im Pascha-Mysterium, also dem Kreuzestod und der Auferstehung Jesu Christ, indem menschliches Unheil und menschliche Sünde nicht den Menschen als gerechte Strafe jeweils vergolten wird, sondern im Tod Jesu Christi zur endgültigen Auswirkung gebracht worden ist (vgl. Röm 3,21-28). Wirklich werden die Rechtfertigung des Sünders und dessen Versöhnung mit Gott sowie die Erlösung vom Tod im Glauben der Menschen an Jesus Christus: „Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.“ (Röm 10,9f)
Darin schließt wiederum sich die Frage an, wie der Glaube zu verstehen sei. Gilt er als freiwillige Glaubensentscheidung, die Menschen sich selbst zuschreiben, wäre schlussendlich das göttliche Werk der Versöhnung bzw. Erlösung in Jesus Christus vom menschlichen Werk des Glaubens abhängig, um wirklich zu sein. In Luthers Auslegung zum dritten Glaubensartikel aus dem Kleinen Katechismus heißt es hingegen:
„Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben“.
Ich glaube, dass ich nicht glauben kann. Mit diesem Paradoxon wird menschlicher Heilsglaube als göttliches Werk bestimmt. Der Heilige Geist schafft durch das Evangelium den Heilsglauben. Damit ist keine menschliche Heilsentscheidung, sondern ein menschliches Heilsvertrauen angesprochen. Man könnte dabei sagen: Gottes Wort vertraut sich uns durch den Heiligen Geist an – das ist unser Glaube. Das Evangelium schafft das Vertrauen in die göttliche Gerechtigkeit zu unserem Heil.
Daran schließt sich unweigerlich die Frage nach dem freien Willen an. In dem maßgeblichen evangelischen Lehrbekenntnis, dem Augsburger Bekenntnis wird in Artikel 18 festgehalten:
„Vom freien Willen wird so gelehrt, daß der Mensch in gewissem Maße einen freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben und zu wählen unter den Dingen, die die Vernunft begreift. Aber ohne Gnade, Hilfe und Wirkung des Heiligen Geistes kann der Mensch Gott nicht gefallen, Gott nicht von Herzen fürchten oder an ihn glauben oder nicht die angeborenen, bösen Lüste aus dem Herzen werfen, sondern dies geschieht durch den Heiligen Geist, der durch Gottes Wort gegeben wird. Denn so spricht Paulus: „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes“ (1. Kor 2,14).“
In zwischenmenschlichen Beziehungen haben Menschen von einem freien Willen auszugehen, so dass sie als verantwortlich Handelnde zu behandeln sind (und nicht als willenlose Marionetten). Bezüglich des Heils bei Gott kann es jedoch keine freien „Selbstbestimmungswillen“ geben. Ist Heil nicht durch menschliche Entscheidung zu erhalten, sondern gottgegeben, müsste man von göttlicher Vorbestimmung (Prädestination) sprechen. Der Gott hat uns durch das Evangelium Jesu Christi im geistwirkten Glauben zum Heil bestimmt. Auf diese Erwählung dürfen wir im Leben und im Sterben vertrauen – mit den Worten Paulus gesprochen:
„Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.“ (Röm 8,28-30)
Reflektiert man – ganz menschlich – diese Vorbestimmung außerhalb der unbedingten Heilszusagen des Evangeliums und damit außerhalb Gottes Wortes auf einen göttlichen Willen, muss dieser Wille als willkürlich erscheinen. Denn ohne die Gegenwart von Gottes Wort können Menschen sich nur eine abstrakte Wahl vorstellen, als schwebe eine göttliche Hand über der Menschheit und würde nach eigenem Gutdünken Menschen für sich auswählen. Das „Gutsein“ der Erwählten wäre in der Wahrnehmung der Menschen kein moralischer Qualitätszustand (als „guter“ Mensch mit guten Werken), sondern wäre – als Vorherbestimmung des menschlichen Lebens zum ewigen Heil durch den irdischen Lebensweg hindurch – nichts anderes als eine Zufalls- oder Willkürentscheidung Gottes: Die „beguteten“ Menschen sollen grundlos zum Heil bestimmt sein, die anderen jedoch nicht. In der Konsequenz dieser göttlichen „Willkürlichkeit“ würde sich das menschliche Vertrauen in Gott verlieren. Denn dieser würde ja in willkürlichen Auswahl den Menschen – ob erwählt oder verworfen – keine Gerechtigkeit erweisen. Hielt man sich als Christ dennoch an diesen Gott, bestünde für das eigene Gewissen eine unüberwindbare (Prädestinations-)Anfechtung.
Aus dieser reflexiven Aporie (Ausweglosigkeit) führt nur ein Weg heraus: Christen haben den Gott beim Wort zu nehmen. In seinem Wort – dem Evangelium Jesu Christi – zeigt sich seine heilschaffende Gerechtigkeit (vgl. Röm 1,16f), nicht aber in einem unerforschlichen göttlichen Willen bzw. Ratschluss (vgl. Röm 9,11-23). Die Heilszusage in Jesus Christus ist nicht auf einen göttlichen Willen (oder Unwillen) spekulativ zu hinterfragen. Die Heilszusage kann nicht auf eine wortlose Heilsbestimmung hintergangen werden. Durch ein Hinterfragen wird vielmehr dem eigenen Misstrauen Vorschub geleistet. Um es mit einer zwischenmenschlichen Beziehung zu vergleichen: Wo Worte, beispielsweise Liebeserklärungen, auf den „wirklichen“ Willen hinterfragt werden („Liebst du mich wirklich?“), können diese Worte nicht länger Vertrauen schaffen oder behalten.
Jenseits des Vertrauens in die Zusage der göttlichen Gerechtigkeit in Jesus Christus gibt es für Christen keine Heilsgewissheit. Umgekehrt können Christen anderen Menschen das Heil in Jesus Christus nur zu- aber nicht absprechen, heißt es doch bei Paulus im Römerbrief: „Worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest.“ (Röm 2,1; vgl. Mt 7,2; bzw. 1Kor 4,5).
Das christliche Zeugnis kann in der Verdammung von anderen keine Geltung finden, sondern allein im Evangelium. Da lässt sich einem Glaubensfremden gegenüber durchaus bezeugen: Außerhalb des Gotteswortes wie auch außerhalb des Glaubens an Jesus Christus sehe ich weder für mich noch für dich Erlösung von den Sünden bzw. Rettung im Jüngsten Gericht. Deshalb ist es für Christen unbedingt geboten, dass ihnen Gottes Wort immer wieder neu als Zusage gegenwärtig ist und dass sie anderen gegenüber dieses Heilswort auf den rechtfertigenden Glauben hin bezeugen.
[1] Vgl. dazu Klaus Koch, Wesen und Ursprung der »Gemeinschaftstreue« im Israel der Königszeit, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 45, 1961, 72-90.
[2] Howard Zehr, Fairsöhnt. Restaurative Gerechtigkeit – Wie Opfer und Täter heil werden können, Schwarzenfeld: Neufeld Verlag 2010.