Der jüngst verstorbene katholische Philosoph Richard Schaeffler (1926-2019) hat als Sohn einer jüdischstämmigen Mutter eine besondere Sensibilität für eine anamnetische Vernunft im Licht der Liturgie sowie des Gebets gezeigt. Sein Vortrag auf dem Katholikentag 1978 in Freiburg unter dem Titel „Christlicher Glaube – Hoffnung aus Erinnerung“ ist mehr als 40 Jahre später immer noch lesenswert.
Christlicher Glaube – Hoffnung aus Erinnerung
Von Richard Schaeffler
1. Das Thema – ein geistreiches Wortspiel?
Wer das Thema „Hoffnung aus Erinnerung“ hört, könnte auf den Gedanken kommen, hier würden zwei Begriffe miteinander verknüpft, die einander schlicht entgegengesetzt sind. Denn Hoffnung greift in die Zukunft aus, Erinnerung aber verweilt in der Vergangenheit. Darum ist Hoffnung die Sache der Jugend, die das Leben noch vor sich hat, Erinnerung aber das Thema des Alters, das sich an der Rückschau erfreut. Und in diesem Gegensatz von Zukunft und Vergangenheit, von Jugend und Alter, werden tieferliegende Gegensätze spürbar. Die Zukunft, in die die Hoffnung ausgreift, ist die Weite [113] von Möglichkeiten, die noch zu entscheiden sind. Die Vergangenheit aber, in die die Erinnerung zurückblickt, ist das Ergebnis von Entscheidungen, die schon gefallen sind. Die Zukunft, so sagt man deshalb, ist offen; die Vergangenheit dagegen ist, wie sie ist, und läßt sich nicht mehr ändern. Und schließlich: die Zukunft ist zwar heute nur im Bewußtsein dessen lebendig, der sie erwartet; aber sie drängt aus dem bloßen Vorgestelltsein in die Realität. Die Vergangenheit dagegen ist Realität gewesen und als solche unwiederbringlich dahin und lebt nur noch im Vorgestelltsein eine Weile fort.
Kann ein Thema, das so gegensätzliche Begriffe miteinander verbindet, mehr sein als ein geistreiches Wortspiel, das dazu dienen soll, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Fachleute der Werbung geben ja den Rat, gelegentlich solche Formulierungen zu benutzen, die zunächst widersinnig erscheinen und dadurch die Neugierde wecken, was „da wohl dahintersteckt“. Oder ist dieses Wortspiel etwa dazu erfunden worden, einen Vorwurf zu übertönen, der nicht selten gegen den christlichen Glauben erhoben wird? „Was sprecht Ihr“, so ruft man uns Christen zu, „beständig von dem, was vor 2000 Jahren gewesen ist? Sagt uns doch lieber, was im nächsten Jahrhundert sein wird oder wenigstens, was dann sein könnte und sollte! – Die Welt“, so fährt man dann fort, „will Lösungen für die Probleme von morgen. Aber die Christen suchen die Antwort in Büchern, die schon Jahrtausende alt sind.“ Aus solchen Vorwürfen hört man leicht heraus, welchen Eindruck die christliche Botschaft bei vielen Hörern erzeugt. Es fehlt den Christen nicht an Erinnerung. Hier haben sie reiche Schätze gesammelt und tragen sie in Schrift und Tradition durch die Zeit. Von der Hoffnung dagegen wird unter Christen zwar viel gesprochen – und dies in jüngerer Zeit in wachsendem Maße –, aber es wird nicht recht sichtbar, wie derjenige einen Weg in die Zukunft finden kann, der so sehr mit der Vergangenheit beschäftigt ist. Soll etwa die Rede von „Hoffnung aus Erinnerung“ nur dazu dienen, diese Angriffe auf den christlichen Glauben zu beschwichtigen?
2. Eine erste Antwort: Erinnerung setzt der Erwartung den Maßstab
Einen ersten Hinweis darauf, welchen Sinn es hat, von einer „Hoffnung aus Erinnerung“ zu sprechen, gewinnen wir dann, wenn wir fragen, woher unsere Erwartung ihren Maßstab bezieht. Denn gewiß ist schöpferische Einbildungskraft nötig, wenn unsere Erwartung sich in eine Zukunft ausstrecken soll, die mehr ist als eine bloße Verlängerung der Gegenwart in eine kommende Zeit hinein. Aber das bloße Spiel der Phantasie, so schöpferisch es sein mag, garantiert nicht, daß wir unsere Erwartung auf dasjenige richten, was nötig ist, und daß wir Wege finden, um das Nötige wirklich zu machen. Soll Erwartung mehr sein als ein unverbindliches Spiel, dann bedarf sie des Maßstabes. Dieser Maßstab aber, so lautet nun meine These, wird der Erwartung von der Erinnerung gesetzt. Zwei Arten der Erinnerung tun das auf unterschiedliche [114] Weise: die frohe Erinnerung an vergangenes Glück, und die schmerzliche, ja empörte Erinnerung an erlittenes Unrecht und Leid.
Die glückliche Erinnerung sagt: „Es war einmal anders, als es heute ist.“ Der graue Alltag, die lastende Not, der unbarmherzige Lebenskampf, die lähmende Enttäuschung – das alles ist wirklich. Aber es hat Stunden gegeben, in denen all dies nicht das Entscheidende war. Die Kindheit war zwar nicht so „golden“, wie wir meinen, wenn wir es unterlassen, uns genau zu erinnern; aber sie hat doch Tage des fraglosen Einverständnisses mit dem Leben enthalten. Die Jugend bestand zwar keineswegs nur aus Erfahrungen überschäumender Lebenskraft; aber sie kannte doch die Stunden des Aufbruchs, in denen das Neue, das uns verpflichtete und zugleich beglückte, zum Greifen nah vor den Augen lag. Und die Jahre, die man „die Blüte des Lebens“ nennt, haben zwar an allen Ecken und Enden die Grenzen der eigenen Kraft spürbar gemacht und zugleich die Grenzen dessen erfahren lassen, was in diesem Leben, wie es nun einmal ist, erreicht werden kann; aber diese Jahre enthielten doch auch die Erfahrung, daß Aufgaben, die sich uns stellten, und Ziele, die wir uns selber setzten, untereinander wie im Einverständnis zu stehen schienen, so daß die Sozialrolle und die eigene Person, die Herausforderung durch die Umwelt und der eigene Lebensentwurf sich gegenseitig weckten und bestärkten. Und wenn jemand heute entgegnet: „Das ist nicht die Realität“, dann können wir sagen: „Vielleicht heute nicht; aber es war einmal das Reale.“ Und weil alles irgendwann einmal – einige Male, wenn auch vielleicht nicht sehr oft – anders war als es heute ist, darum ist zugleich erwiesen: So, wie das Leben ist, müßte es nicht sein. Denn was einmal wirklich war, ist immer möglich.
Die Einsicht, daß immer möglich ist, was einmal wirklich war, ist nicht nur ein abstraktes Gesetz für die Lehrbücher der Logik. Diese Einsicht lebt auch im Bewußtsein ganzer Gruppen und Völker und gibt ihnen die Kraft zur Überwindung von Resignation. Ein unterworfenes Volk erinnert sich an seine verlorene Freiheit. Eine Minderheit denkt an die Zeit zurück, in der ihre Ideale breite Zustimmung fanden. Eine Kirche erinnert sich, daß es Zeiten gab, in denen das Evangelium Weltreiche erschütterte, und andere Zeiten, in denen das Verlangen der Menschen nach ewigem Heil so stark war, daß auch noch der kühlste politische Rechner es ins Kalkül setzen mußte. Dieses Volk, diese Gruppe, diese Kirche müssen sich vorhalten lassen: Das ist heute nicht die Realität. Aber sie antworten: Vielleicht heute nicht, aber so war es einmal. Und was einmal wirklich war, ist immer möglich.
So beseitigt die glückliche Erinnerung den Anschein, was heute ist, das müsse so sein und werde ewig so bleiben. Erinnerung hält in einer sich schließenden Welt der Erwartung eine Zukunft offen.
Die schmerzliche, ja empörte Erinnerung sagt: „Niemals wird die Welt von dem Makel frei, daß geschehen konnte, was geschehen ist.“ Das Fortschreiten im Wissen und Können, der steigende Wohlstand wachsender Bevölkerungskreise, die Teilhabe von immer mehr Menschen an den Gütern der Bildung [115] und Kultur, das Zusammenrücken der Völker zur einen Welt, all das ist zwar wirklich, und diese Wirklichkeit ist von hohem Wert. Aber dieser Wert beseitigt nicht den Skandal dessen, was in dieser Welt geschehen ist. Das Inferno der Kriege, die Gaskammern der Vernichtungslager, die Verführung der Gewissen durch den Mißbrauch hoher Ideale, aber auch die Entwertung der Ideale durch Verallgemeinerung des Mißbrauchsverdachtes, dies alles ist nicht ungeschehen zu machen. Und wenn jemand einwendet: „Wozu die Schattenseiten hervorheben, wo das Leben doch so strahlende Lichtseiten hat?“, dann bleibt die Antwort auch hier: „Was einmal wirklich war, ist immer möglich.“ Aber der gleiche Satz, der zuvor die glückliche Erinnerung zum Ausdruck gebracht hat und damit der Erwartung eine Zukunft geöffnet hat, erhält nun einen bedrohlichen Klang. Nichts von dem, was an Entsetzlichem und Empörendem geschah, ist in der Wurzel getilgt, solange die Welt ist, wie sie ist.
Die Einsicht aber, daß in der Welt, wie sie ist, auch das Widersinnige und Skandalöse, das jemals wirklich war, jederzeit wieder als Möglichkeit aufbrechen kann, verändert den Blick in die Zukunft. Die schmerzliche, ja empörende Erinnerung beseitigt den Anschein, was ehedem an Schrecklichem geschehen ist oder an fremden Orten noch heute geschieht, das sei nur der vermeidbare Fehler oder auch die unvermeidbare Entwicklungskrise auf dem Wege in eine immer bessere Welt. Eine Welt, in der dasjenige wirklich gewesen ist und also möglich bleibt, was wir zwar verdrängen, nicht aber vergessen können, verdient nicht das Vertrauen in ihre immanente Entwicklungskraft. Sie muß von Grund aus und bis an die Wurzel verändert werden. In einer Welt, die die Zukunft nur als die Fortsetzung gegenwärtiger Entwicklungen und Tendenzen kennt, macht erst die schmerzliche Erinnerung die Erwartung radikal.
Erinnerung, so hat sich gezeigt, hält der Erwartung eine Zukunft offen. Erinnerung, so zeigt sich nun, macht die Erwartung radikal. In beiden Hinsichten also gewinnt die Erwartung an der Erinnerung ihren Maßstab. Und wer das Vergangene nicht erinnernd im Gedächtnis behält, verliert die Orientierung für die Zukunft, in die er erwartend hineingeht.
Auch diejenige Erinnerung, der der Glaubende die Treue hält, steht in diesem doppelten Dienst an der Erwartung. Als glückliche Erinnerung an die Großtaten Gottes hält sie dem Glaubenden eine Zukunft offen, die alle sich schließenden Systeme dieser Welt hinter sich läßt. Und als schmerzliche Erinnerung an den Skandal des Kreuzes macht sie die Erwartung des Glaubenden so radikal, daß er das Heil nicht dort erwartet, wo die gegenwärtig beobachtbaren Entwicklungstendenzen der Welt zusammenlaufen, sondern allein dort, wo diese Welt von Grund aus und in der Wurzel neu geschaffen wird. Warum kehren in der Erinnerung des Glaubens alle diejenigen Momente wieder, die auch sonst, wie wir gesehen haben, die Erinnerung an die Vergangenheit mit der Erwartung der Zukunft verbinden. Und all diese Momente scheinen am konkreten Inhalt dieser besonderen Erinnerung in eigenartiger Weise verstärkt und verwandelt. [116]
3. Glückliche Erinnerungen an die Großtaten Gottes
Die glückliche Erinnerung, die den Glaubenden des Alten und des Neuen Bundes gemeinsam ist, ist die Erinnerung an die Herausführung aus Ägypten. Sie ist der Inhalt des jüdischen Passah-Festes; und auch wir Christen hören in der Osternacht singen: „Heute hast Du unsere Väter, die Söhne Israels, aus Ägypten befreit und trockenen Fußes durch das Rote Meer gehen lassen.“ Ein kleines Volk, eher ein loser Verband von Familien und Sippen, war in den Sklavendienst einer Weltmacht geraten und hatte von dort aus den Weg in die Freiheit gefunden –einen Weg gerade dort, wo alle Wege zu Ende schienen, quer durch das Schilfmeer. Und das Volk trug die Erinnerung weiter durch die Erfahrung aller seiner Knechtschaften in der Geschichte, durch Assur und Babel, durch die Römerherrschaft der Antike und den Massenmord unseres Jahrhunderts. Und solche Erinnerung hielt der Erwartung eine Zukunft offen Einmal, in der Zeit der Väter, ist Befreiung geschehen. Und wer die Erinnerung daran nicht verrät, der weiß: Es gibt kein ehernes Gesetz der Geschichte, wonach die Großen herrschen und die Kleinen Sklavendienste tun. Was einmal wirklich war, ist immer möglich. Und es kann noch heute sein, daß dieses Mögliche wirklich geschieht.
Und doch ist damit die Zukunft, die durch eine solche Erinnerung offengehalten wird, noch nicht ausreichend beschrieben. Denn was damals wirklich war und dadurch seine bleibende Möglichkeit bewiesen hat, war noch mehr. Wie wenig das, was sich der Erinnerung Israels eingeschrieben hat, sich in der bloßen Tatsache der Befreiung erschöpfte, wird durch ein Wort aus dem Buche Exodus bezeugt. Da sagt Mose zum Herrn: „Wenn nicht dein Angesicht mit geht, dann laß uns nicht hinaufgehen, weg von hier“ (Ex. 33,15). Daß Befreiung geschenkt wird, gerade dort, wo ein fliehender Stamm von der Heerschar einer Weltmacht eingeholt wird, daß Wege sich öffnen gerade dort, wo nichts als Ausweglosigkeit erfahrbar wird, das ist nicht genug. Ja, wenn nichts anderes geschähe als dies, wäre es besser, alles bliebe so, wie es zuvor gewesen ist. „Laß uns nicht hinaufgehen, weg von hier.“ Denn alle Wege sind nur die Fortsetzung alter Irrungen, jede Befreiung ist nur der Übergang von alten zu neuen Herren, jede Herausführung führt nur von der alten Fremde in die neue Heimatlosigkeit, solange das Schicksal des Volkes und der Individuen namenlos bleibt, „wenn nicht dein Angesicht mitgeht“. Weg, Befreiung, Führung, werden zum Heilsereignis erst unter der Zusage „Mein Angesicht geht mit, ich habe mich dir in Gnade verbunden“ (Ex. 33,14). Diese Erinnerung hat das Volk weitergetragen durch alle Erfahrung der Irrungen und der stets neuen Heimatlosigkeiten einer langen Geschichte. Und diese Erinnerung bleibt lebendig auch in den Erfahrungen der christlichen Gemeinde von Wegen, die ins Offene zu führen schienen und sich oft doch in neuen Verstrickungen verliefen, von Einzügen in manches räumliche wie geistige Neuland, das aussah wie das Land der Verheißung und dennoch bald die Erwartung enttäuschte. Auch diesen Erfahrungen hat die Erinnerung eine Zukunft offengehalten. Denn einmal, am Beginn der Geschichte zwischen Gott und [117] dem Volk, ist die Anonymität eines undurchschauten Schicksals durchbrochen worden, hat sich ein Angesicht gezeigt und ist Weggemeinschaft erfahren worden. Und wer die Erinnerung daran nicht verrät, der weiß: Es gibt kein ehernes Gesetz unseres Lebens, wonach wir bei der Frage nach dem, was uns führt und trägt, ins Undurchschaubare hineinfragen und, einem unbenannten Schicksal gegenüber, stets nu r das Echo unserer eigenen Stimme zu hören bekommen. Was einmal wirklich war, ist immer möglich. Und es kann heute sein, daß dieses Mögliche wirklich geschieht.
Aber wo die Zusage erinnert wird, daß Gott auf dem Wege der Menschen mitgeht und ihnen personal, in Zuwendung seines Angesichtes, erfahrbar wird, da verbürgt die Erinnerung nicht nur, daß etwas, das einmal war, immer möglich bleibt und daher jederzeit wieder geschehen könnte. Es geht nicht nur um die Ausnahme, um das Wunder, das immer geschehen kann und doch so selten geschieht. In jenem Ursprung, der nicht vergessen werden darf, wurde ein Bleibendes gestiftet. Gott ist von damals her und für immer seinem Volk ein Gott der Gegenwart; und diese Gegenwart hat die Gestalt der Weggenossenschaft. Sein Name bleibt „Ich bin da“. Die Erinnerung bewahrt hier nicht nur ein Vergangenes im Geiste auf, sondern hält ein Verborgenes gegenwärtig bewußt, das einmal offenkundig war und wieder offenkundig werden soll. Was hier einmal wirklich war, immer möglich bleibt und daher jederzeit wieder wirklich geschehen kann, ist das Zerreißen des Schleiers, der uns das„Mitgehen des göttlichen Angesichts“ zumeist schmerzlich verbirgt.
Die glückliche Erinnerung an den Auszug aus Ägypten ist den Glaubenden des Alten und Neuen Bundes gemeinsam. Jene glückliche Erinnerung aber, die für die Christen spezifisch ist, heißt „Jesus der Christus“. Diese Erinnerung gibt aller Erwartung der Christen vorweg den Inhalt. Denn Er „ist es, der da kommen soll“, und wir „haben keinen anderen zu erwarten“. Und der Erweis dafür, daß der, der schon da war und erinnert wird, der Gleiche ist, der da kommen soll und den wir erwarten, lautet mit den Worten des Evangeliums: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Armen wird die Frohe Botschaft verkündet.“ Oben wurde gesagt, jede glückliche Erinnerung sei dem Einwand ausgesetzt: „Aber das ist doch nicht die Realität.“ Und von welcher Erinnerung müßte das mehr gelten als von dieser? Die Welt ist voll von Blinden, die nicht sehen, von Lahmen, die nicht gehen, von unheilbar Kranken, die nicht gesund werden. Und was die Armen dieser Welt zu hören bekommen, ist zumeist eine Botschaft, die alles andere ist als „froh“. Oben wurde gesagt, auf den Einwand, das sei doch nicht die Realität, antworte die glückliche Erinnerung stets: „Aber es war einmal wirklich und ist darum immer möglich.“ Auch das gilt für die glückliche Erinnerung an Jesus in ausgezeichneter Weise. Not und Krankheit, Armut und Tod sind kein Wesensgesetz der Welt, dem wir uns endgültig zu fügen hätten. Ihre Überwindung ist durch Jesus einmal geschehen, sie ist deshalb eine bleibende Möglichkeit. Und es kann noch heute sein, daß diese Möglichkeit wirklich geschieht. [118]
Und doch ist damit die Zukunft, die durch solche Erinnerung offengehalten wird, noch nicht ausreichend beschrieben. Denn was wäre schon geholfen, wenn da und dort Wunder geschähen, wenn nicht zugleich der erfahrbare Unheilszusammenhang der Welt zerrissen würde. Dieser führt immer wieder dahin, daß jeder Geheilte zuletzt stirbt, jede behobene Not neue Notlagen erzeugt, daß die „Frohen Botschaften“, die im Namen politischer und sozialer Programme „den Armen verkündet werden“, immer wieder zur Aufrichtung neuer Gewaltherrschaft führen, und daß andererseits die, denen das Heil der Menschen am Herzen liegt, an der Heillosigkeit eben dieser Menschen zugrundegehen. Die Gemeinde der Glaubenden macht sich da keine Illusionen. „Der Jünger ist nicht über dem Meister.“ Die glückliche Erinnerung an Jesus bleibt unlösbar verbunden mit der schmerzlichen, ja empörenden Erinnerung an den Skandal des Kreuzes. Und die Erwartung, die aus dieser Erinnerung hervorgeht, ist nicht nur darauf gerichtet, daß der Unheilszusammenhang dieser Welt jederzeit durch einzelne, außergewöhnliche Ereignisse durchbrochen werden kann, sondern darauf, daß er im ganzen überwunden wird in der Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde.
4. Schmerzliche Erinnerung an die Zerstörung Jerusalems und an den Skandal des Kreuzes
Glückliche Erinnerung, so wurde oben gesagt, hält der Erwartung eine Zukunft offen. Aber schmerzliche, ja empörende Erinnerung macht die Erwartung radikal. „Was einmal wirklich war, ist immer möglich. Und es kann noch heute sein, daß dieses Mögliche wirklich geschieht.“ Dieser Satz besagte im Lichte glücklicher Erinnerung: Der Zusammenhang der Welt ist kein geschlossenes System, wird nicht durch ein ehernes Gesetz in seinen immer gleichen Bahnen gehalten. Das überraschende, das sich nicht vorher berechnen läßt, kann jederzeit wie ein Wunder in diese Welt einbrechen und unser Leben erleuchten. Denn die Erinnerung bezeugt, daß dies einmal, ja mehrere Male wirklich geschehen ist und also jederzeit möglich bleibt. Wer der Erinnerung treu bleibt, gibt die Erwartung an das Unverfügbare weiter, das wie ein Licht in das Grau unserer Welterfahrung einbrechen kann.
„Was einmal wirklich war, ist immer möglich. Und es kann heute noch sein, daß das Mögliche wirklich geschieht.“ Der gleiche Satz besagt im Lichte der schmerzlichen Erinnerung: Unter der geglätteten Oberfläche eines Lebens, das wir mit wachsender Perfektion zu beherrschen meinen, ist ein Abgrund aufgetan. In Ereignissen, die wir nur verdrängen, nicht vergessen können, ist dieser Abgrund offenkundig geworden. Was damals an Entsetzlichem und Empörendem wirklich geschah, ist jederzeit möglich und kann heute schon wieder wirklich werden. Darum ist nichts von alledem in der Wurzel getilgt, solange die Welt ist, wie sie ist. Wenn wir nicht eine neue Welt erwarten dürfen, dann haben wir überhaupt nichts zu erwarten.
Es fehlt der Menschheit in ihrer Geschichte nicht an schmerzlichen Erin-[119]nerungen solcher Art. Und doch ist solche Erinnerung nur an wenigen Stellen der Menschheitsgeschichte zur Quelle radikaler Erwartung geworden. Auf exemplarische Weise geschah dies in der Leidenserinnerung Israels und in der Kreuzeserinnerung der Christen.
Als die Babylonier Jerusalem eroberten, den Tempel zerstörten, die Stadt niederbrannten, den König töteten, die führende Schicht des Volkes in die Verbannung führten und den verbleibenden Rest mit Deportierten aus fremden Ländern durchsetzten, da schien die Geschichte des alttestamentlichen Bundesvolkes zu Ende zu sein. Und als sich zeigte, daß diese Geschichte weiterging, daß es Heimkehr gab, einen Wiederaufbau von Tempel und Stadt, da erschien dies wie ein Wunder, wie eine „Wiederbelebung von Totengerippen“, die auf weitem Acker verstreut gelegen hatten. Der Prophet Ezechiel hat die Zusage Gottes an die Juden, daß sie noch eine Zukunft haben, unter diesem Bilde geschaut. Aber die Erinnerung an den Untergang hat die Erwartung des Judentums verändert. Was einmal wirklich war, ist immer möglich und kann jederzeit wieder geschehen. Und in der Tat wurde auch der zweite Tempel zerstört, auf die Gefangenschaft in Assur und Babel folgte die Versklavung im römischen Imperium, und auf die versuchte Vernichtung des Volkes durch die Babylonier folgte der versuchte Völkermord unserer Zeit. Das Volk des Alten Bundes bestand seine Geschichte, denn es wurde von keiner Katastrophe mehr überrascht und aus der Fassung gebracht. Wer die Erinnerung nicht verdrängte, ging von da an erhobenen Hauptes in jedes Inferno. Wer im Bewußtsein behielt, was geschehen war, richtete seine Erwartung gewiß nach wie vor auf den, der sein Volk vor Knechtschaft und Mord bewahren kann, zugleich und vor allem aber auf den, der sich als fähig erwiesen hatte, es aus jedem Feuerofen der Geschichte zu neuem Leben herauszuholen. Und eben darum war es stets ein neues Leben, auf das die Erwartung sich richtete, nicht mehr das alte. Auch wo Heimkehr gelang und Wiederaufbau glücklich geleistet wurde, gab es für den, der der Erinnerung treu blieb, keinen Weg zurück in den Zustand vor der Zerstörung des Tempels. Denn die Welt, in der solches geschehen konnte, wie Israel es durchlitten hatte, blieb dadurch fortdauernd gezeichnet. Sie ist „diese Welt“, in der das Entsetzliche und Empörende jederzeit wieder geschehen kann. Wenn wir nicht auf eine „kommende Welt“ warten dürfen, dann haben wir, trotz gelegentlich gelingender Restaurationen, im Letzten überhaupt nichts mehr zu erwarten. So wurde die Erwartung Israels durch den Stachel schmerzlicher Erinnerung zur Erwartung einer „kommenden Welt“.
Vergleichbares ist den Jüngern Jesu widerfahren. Als die Führer des Volkes erwirkten, daß die römische Besatzungsmacht Jesus ans Kreuz schlug, da schien die Geschichte der jungen Gemeinde dieses Jesus zu Ende zu sein. Die Erzählung von den zwei Jüngern, die sich aus dem Kreise der Freunde entfernten und nach Emmaus gingen, spiegelt den Zustand einer Gemeinde, die dabei war, sich aufzulösen. Nichts und niemand war imstande, sie wieder zu sammeln und ihr einen neuen Weg in eine neue Zukunft zu öffnen, als der [120] Gekreuzigte selbst, der ihnen als der Lebende wiederbegegnete. Was beim Propheten Ezechiel ein Bild gewesen war, das er im Traumgesicht schaute und das ihm die Wiederherstellung des jüdischen Volkes deuten sollte, das Bild von der „Wiederbelebung der dürren Gebeine“, das war für die Jünger Jesu Erfahrung von dem, was die Sammlung der Glaubensgemeinde erst möglich machte. Der Getötete lebt, der Entzogene bleibt bei ihnen „alle Tage bis ans Ende der Welt“. Aber er lebt als der Gekreuzigte, er bleibt bei ihnen als der, den sie nicht festhalten können, als der, der gerade dann, wenn sie ihn „am Brotbrechen erkennen“, sich „ihren Blicken entzieht“.
Darum hat die Erinnerung an das Kreuz auch die Erwartung der Jünger verwandelt. Was einmal wirklich war, ist immer möglich und kann schon heute wieder geschehen. Im Licht der Erinnerung an das Kreuz gewinnt dieser Satz die Bedeutung: „Wundert Euch nicht, wenn die Welt Euch haßt“ (1. Joh. 3,13). „Es kommt die Stunde, da jeder, der Euch tötet, Gott einen Dienst zu tun meint“ (Joh. 16,2). Nicht nur die Feindschaft einer ungläubigen Öffentlichkeit, auch die Verfolgung durch die, die aus der Treue zu Gott zu handeln meinen, ist jene Möglichkeit, die den Christen nicht überraschen darf. Wer der Erinnerung an das Kreuz treu bleibt, hat diese Möglichkeit immer schon in seine Erwartung aufgenommen und darf sich allenfalls dankbar darüber wundern, daß ihm solches so selten auferlegt wird. Das Kreuz hat unwiderruflich offenbar gemacht, daß unter allem vermeintlich sicheren Bestand von Welt und Gemeinde ein Abgrund sich auftut. Tragender Grund aber ist, wie der Brief an die Hebräer es sagt, nicht in der Welt, wie sie ist, zu gewinnen, sondern nur in der kommenden Welt, auf die die Glaubenden hoffen. „Es ist aber der Glaube ein Standnehmen in dem, worauf man hofft“ (Hebr. 11,1). Wer im Bewußtsein behält, was an Jesus in seinem Sterben und Auferwecktwerden geschehen ist, richtet auch seine eigene Erwartung nicht darauf, vor Kreuz und Tod bewahrt zu bleiben, sondern auf ein neues Leben aus der Auferweckung der Toten. Und er hofft für die Welt nicht, daß sie als die, die sie ist, erhalten bleibt, sondern daß sie zu „einem neuen Himmel und einer neuen Erde“ umgeschaffen wird.
Wenn von irgendeiner Erinnerung gesagt werden kann und muß, was oben von jeder schmerzlichen Erinnerung gesagt worden ist, dann gilt dies zuerst und vor allem von der Kreuzeserinnerung der Glaubenden. Solche Erinnerung macht die Erwartung radikal. Denn nun richtet die Erwartung sich auf jene Welt, die kommen soll, oder sie hat überhaupt nichts, wonach sie sich erwartend ausspannen könnte.
5. Ist radikale Erwartung schon Hoffnung?
Am Anfang dieser Überlegungen stand die Verwunderung über ein Thema, das die Begriffe „Erinnerung“ und „Hoffnung“ trotz ihres unverkennbaren Gegensatzes miteinander verknüpfte. Daran schloß die Behauptung sich an, nur aus der Erinnerung gewinne die Erwartung den Maßstab, den sie braucht, [121] wenn sie sich vom unverbindlichen Spiel der Einbildungskraft unterscheiden soll. Diese Behauptung wurde sodann an Beispielen glücklicher und schmerzlicher Erinnerung aus unserem Alltag belegt und auf die glückliche Erinnerung an die Großtaten Gottes, aber auch auf die schmerzliche Erinnerung an den Skandal des Kreuzes angewendet. Durch solche Belege und Anwendungen hat sich, wie ich hoffe, die zweifache These bestätigt: Glückliche Erinnerung hält in einer sich schließenden Welt für die Erwartung eine Zukunft offen. Schmerzliche Erinnerung macht in einer scheinbar gesichert voranschreitenden Entwicklung die Erwartung erst radikal und bezieht sie auf eine Überwindung der alten und eine Heraufkunft der kommenden Welt.
Aber ist damit schon erwiesen, was das Thema versprach? Mag aus der Erinnerung eine zukunftsoffene, radikale, auf eine kommende Welt gerichtete Erwartung hervorgehen, ist diese Erwartung schon „Hoffnung“ in jenem Sinn, in welchem die Botschaft des Glaubens ihren Hörer auf Hoffnung verweist?
Erste Zweifel daran, ob unsere Überlegungen schon zum Kern der christlichen Hoffnung vorgedrungen sind, entstehen aus folgender Beobachtung. Die beiden Formen der Erinnerung und die beiden Formen der Erwartung, von denen bisher die Rede war, schienen unverbunden einander gegenüberzustehen. Glückliche Erinnerung läßt uns darauf vertrauen, daß der Lauf der Dinge keinem unerbittlichen Gesetz folgt, sondern für das Unvorhersehbare offen ist, das wir erwarten dürfen. Schmerzliche Erinnerung macht uns gerade dagegen skeptisch; denn sie läßt uns in einen Abgrund schauen, dem wir erst entrissen sind, wenn diese Welt im ganzen, die von einem verborgenen Gesetz des Unheils beherrscht zu sein scheint, einer neuen Welt Platz gemacht hat. Im Gedächtnis des Glaubens dagegen ist die glückliche Erinnerung an die Großtaten Gottes mit der schmerzlichen Erinnerung an den Skandal des Kreuzes zu einer Einheit verbunden. Und die Erwartung richtet sich auf das Wunder, das mitten in der Welt, wie sie ist, jederzeit und auch heute geschehen kann, und zugleich auf das Ende dieser Welt im ganzen und die Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde.
Der bloße Begriff der „Erwartung“ reicht offensichtlich nicht aus, um diese Einheit begreiflich zu machen. Schon das Wort „Erwartung“ ist in bezeichnender Weise zweideutig, ohne doch den Zusammenhang dieser beiden Bedeutungen hervortreten zu lassen. „Erwarten“, das kann heißen: Abwarten, bis bessere Zeiten kommen, weil die Erinnerung lehrt, daß geschehen kann, was wir uns nicht hätten träumen lassen. „Erwarten“ kann aber auch heißen: Auf einem Anspruch fordernd bestehen. „Ich erwarte von Ihnen …“, das sagt vielleicht ein Vorgesetzter in strengem Ton zu einem Mitarbeiter, der in der Erfüllung seiner Obliegenheiten säumig geworden ist. „Ich erwarte von der Regierung, von den gewählten Volksvertretern, von der Kirchenleitung …“, so sagt in nicht weniger strengem Ton der „kleine Mann“ zu „denen da droben“, wenn er das Bewußtsein hat, das Seine getan zu haben, und daraus den Anspruch ableitet, es müsse dafür gesorgt sein, daß er sich nicht vergeblich gemüht hat. [122]
Solche fordernde Erwartung geht aus der schmerzlichen Erfahrung hervor, daß „das System“, dem wir eingefügt sind, uns immer wieder um die Frucht unserer Mühen betrügt, daß „die Strukturen“, innerhalb derer die Kommunikation und Kooperation zwischen Menschen abläuft, dasjenige erzeugen, was man „Entfremdung“ nennt. Was wir sagen, wird von anderen so verstanden und beantwortet, daß wir darin unser eigenes Wort nicht wiedererkennen. Was wir tun, löst im Wechselspiel eigenen und fremden Verhaltens Wirkungen aus, die wir gerade nicht verursachen wollten. Wir erkennen unsere subjektiven Intentionen und Absichten nicht wieder in dem, was wir durch unser Sprechen und Tun objektiv zustandegebracht haben. Ja, wir finden uns selber nicht wieder in dem „System“, das uns auf solche Weise beständig den Sinn unserer Worte und das Ziel unserer Handlungen zu verfälschen scheint. Darum „erwarten“ wir von denen, die die Macht dazu haben, eine Veränderung der Strukturen und die Aufrichtung eines neuen Systems.
Erwartung in der Form der Forderung, die auf einem Anspruch besteht, tritt so in einen Gegensatz zur Erwartung im Sinne des Abwartenkönnens, das unter aller Bedrängnis „seelenruhig“ bleibt, um sich für das Unvorhersehbare offenzuhalten. Und gemessen an der fordernden Erwartung, die aus schmerzlicher Erfahrung hervorgeht, erscheint nun jene andere Erwartung, die auf das Wunder wartet, wie eine Sache zwar glücklicher, aber doch naiver Naturen.
Fordernde Hoffnung, die aus schmerzlicher Erfahrung geboren ist, beherrscht nun seit geraumer Zeit die Bemühungen derjenigen Philosophen, die ihr ganzes Interesse auf eine Theorie der Hoffnung konzentriert haben. Für Kant ist die Hoffnung ein System von Forderungen, er nennt sie „Postulate“, zu denen der Rechtschaffene sich berechtigt weiß. Denn wer das Sittengesetz tätig befolgt, der darf „fordern“, daß eine Weltordnung herstellbar sei, in der aus guten Gesinnungen und Taten endlich auch gute Wirkungen hervorgehen. Und weil nach Kants Überzeugung nur Gott eine solche Weltordnung stiften kann, darum darf der sittlich Handelnde einen solchen Gott „fordern“ oder „postulieren“. Die Möglichkeit einer moralischen Weltordnung und ein Gott als ihr allein zu reichender Grund, das sind deshalb die Inhalte von Kants „postularischer Hoffnung“.
Auch für Ernst Bloch ist das „Prinzip Hoffnung“ in seinem Kern ein forderndes, postulatorisches Prinzip. Denn in der Erfahrung des sittlich Handelnden hat „diese Welt“ sich als eine höchst unmoralisch geordnete Welt erwiesen, die ihn beständig um den guten Effekt seiner guten Taten betrügt. Darum darf er fordern, daß „diese Welt“ vergeht und eine „kommende Welt“ heraufkommt. Praxis der Hoffnung, wenn man sie so versteht, wird zur Vollstreckung des Gerichtes an einer Welt, die dem Rechtschaffenen beständig die Erfüllung seiner berechtigten Forderung vorenthält; konkreter gesprochen: Praxis der Hoffnung ist Revolution als Vorwegnahme eines Weltgerichtes, in welchem „diese Welt“ untergeht und der „kommenden Welt“ Platz macht.
Fordernde, „postulatorische“ Erwartung, die aus schmerzlicher Erfahrung geboren ist und auf der Erfüllung eines Anspruches besteht, tritt so in unver-[123]mitteltem Gegensatz jener abwartenden Hoffnung gegenüber, die aus glücklicher Erfahrung stammt und sich dafür offen hält, sich mit einer ungeschuldeten Gnade beschenken zu lassen. Und weil Gott nur solange als Gott verstanden werden kann, wie sein Heilswirken als ungeschuldete Gnade verstanden wird, darum kennt die postulatorische Hoffnung, konsequent zu Ende gedacht, keinen Gott. Wo nicht das Wunder der Gnade, sondern die Erfüllung eines Anspruches „erhoffe“ wird, da ist die Hoffnung atheistisch geworden. Ernst Blochs Hoffnungsphilosophie ist dafür das ausgezeichnete Beispiel.
Zuvor wurde gesagt: Gemessen an der fordernden Hoffnung, die aus schmerzlicher Erinnerung hervorging, erscheint die abwartende Hoffnung, die „seelenruhig“ auf das Unvorhersehbare wartet, wie eine Angelegenheit glücklicher, aber naiver Naturen. Daraus ist jetzt zu folgern: Gemessen an der atheistischen Hoffnung, die auf solchen Forderungen beruht, steht die Hoffnung des Glaubens, die sich mit Gottes ungeschuldeter Gnade beschenken lassen will, stets unter dem Verdacht, eine Angelegenheit glücklicher aber kindlicher Gemüter zu sein, denen der Blick in den Abgrund bisher erspart geblieben ist. Oben wurde gesagt: Der bloße Begriff der Erwartung ist zweideutig; aber er läßt den Zusammenhang zwischen seinen beiden Bedeutungen nicht erkennen. Denn aus jeder der beiden Arten von Erinnerung, der glücklichen und der schmerzlichen, geht je eine besondere Art der Erwartung hervor, die abwartend empfangende und die anspruchshaft fordernde Erwartung. Daraus ist jetzt zu folgern: Solange es bei dem unvermittelten Gegensatz dieser beiden Formen von Erinnerung und Erwartung bleibt, wird die Hoffnung des Glaubens stets als diejenige Art von Erwartung dastehen, die aus glücklichen Erinnerungen lebt und die wahrhaft schmerzlichen, ja empörenden Erfahrungen niemals gemacht oder sogleich wieder vergessen hat. Solange kein gemeinsamer Grund gefunden wird, von dem aus die beiden Arten der Erinnerung und der Erwartung sich als Einheit begreifen lassen, erscheint die Hoffnung des Glaubens, gemessen an der atheistischen Hoffnung, stets als kindliche Naivität.
Nun ist aber, so hat sich gezeigt, in der Erinnerung des Glaubens die glückhafte Erinnerung an Gottes Großtaten mit der schmerzlichen, ja empörenden Erinnerung an den Skandal des Kreuzes notwendig verknüpft. Deshalb ist auch die Erwartung des unvorhersehbaren Wunders mitten in dieser Welt mit der Erwartung des Untergangs dieser Welt und der Heraufkunft eines neuen Himmels und einer neuen Erde unlösbar verbunden. Wer nach derjenigen Erinnerung sucht, aus der die Hoffnung des christlichen Glaubens hervorgeht, muß nach dem Einheitsgrund suchen, der die Verknüpfung so gegensätzlicher Formen von Erinnerung wie von Erwartung möglich macht. Erst wenn der Grund dieser Einheit freigelegt ist, wird sich der Eindruck überwinden lassen, gläubige Hoffnung beruhe auf einer glücklichen Blindheit gegenüber dem Skandal dieser Welt. Der letzte Abschnitt dieser Überlegungen soll dazu dienen, den gesuchten Einheitsgrund gläubiger Erinnerung und Hoffnung zu benennen. [124]
6. Die Erinnerung des Glaubens heißt Danksagung
Wer von Danksagung spricht, hat den äußersten Gegensatz dessen benannt, was Forderung oder „Postulat“ heißen kann. Eine Hoffnung, die aus der Danksagung entspringt, ist dadurch gegen alle fordernde, „postulatorische“ und darum in letzter Konsequenz atheistische Hoffnung aufs Deutlichste abgegrenzt. Aber es ist nicht sogleich zu sehen, wie Danksagung für denjenigen möglich ist, der den Skandal dieser Welt in aller Schärfe vor Augen hat. Der Antwort auf diese Frage nähern wir uns, wenn wir uns daran erinnern: Diejenige Danksagung, von der hier die Rede sein soll, schließt den Skandal des Kreuzes nicht aus, an welchem der Skandal dieser Welt in äußerster Schärfe offenbar wurde. Im Gegenteil. Die Erinnerung an das Kreuz Jesu macht den zentralen Inhalt christlicher Danksagung aus. So gilt es zu begreifen, auf welche Weise gerade das Kreuz zum Inhalt einer danksagenden Erinnerung werden kann, das Gedächtnis des Leidens Jesu zum Inhalt der „Eucharistia“, der Danksagungsfeier im Zentrum christlichen Gottesdienstes.
Um darüber Auskunft zu erhalten, orientieren wir uns an einem liturgischen Text, an der ersten Oration des Karfreitags. Wir wollen uns durch die scheinbar schwerfällige Sprache und die Fülle der Aussagen, die hier auf knappstem Raum zusammengedrängt sind, nicht abschrecken lassen. Die sprachliche Form dieses Gebetes und die Verknüpfung seiner vielfältigen Inhalte sind nicht gegen andere Formen austauschbar, die scheinbar leichter ins Ohr gehen, oder gegen andere Inhalte, die scheinbar verständlicher sind. Gerade so, wie dieser Text überliefert ist, verweist er uns, wenn wir geduldig zuhören, auf jene Mitte, in welcher die schmerzliche Erinnerung an den Skandal des Kreuzes und die glückliche Erinnerung an Gottes Großtaten zusammengehören. Ich versuche, so gut es geht, eine Übersetzung ins Deutsche.
„O Gott, jede Generation der Menschen trat das Erbe der vorigen an und übernahm so den Tod als das Erbgut der Sünde. Du aber bist der, der diesen Tod durch das Leiden deines Gesalbten, unseres Herrn, aufgelöst hat. Durch unser Todesschicksal tragen wir an uns die Prägung unserer irdischen Natur. Laß uns ihm gleichgestaltig werden, damit wir, dadurch geheiligt, die Prägung der himmlischen Gnade an uns tragen.“
Aus dem Wortlaut dieses Gebetes spricht alles andere als jene „glückliche Blindheit gegen den Skandal dieser Welt“, von der an früherer Stelle die Rede war. Weit mehr spricht daraus die schmerzliche, ja empörende Erinnerung an die endlos wiederholte Erfahrung von Vergeblichkeit. Jede Generation der Menschheit beginnt neu mit der Bemühung, die Welt und das Leben besser zu machen. Und doch hat sich in der Abfolge der Generationen der Unheilszustand von Sünde und Tod beständig reproduziert. „Jede Generation“, so sagt der Beter, „trat das Erbe der vorigen an und übernahm so den Tod als das Erbgut der Sünde“. Und diese schmerzliche Erinnerung hat die Erwartung des Beters radikal gemacht. Wenn der Mensch nach so viel Vergeblichkeit überhaupt etwas zu erwarten hat, dann nicht, daß dieses oder jenes verbessert, geheilt oder wiederhergestellt werde. Das Ganze, die „Prägung [125] unserer irdischen Natur“, muß einer Neugestaltung Platz machen, die der Beter die „Prägung der himmlischen Gnade“ nennt.
Aber trotz dieser radikalen Erwartung spricht aus dem Wortlaut des Gebetes nicht die anklagende Forderung, daß dem Menschen nun endlich ein Recht zuteilwerde, das eine böse Welt ihm so lange vorenthalten hat. Der Beter weiß: Der Unheilszusammenhang von Sünde und Tod beherrscht nicht nur die Welt „da draußen“, sondern seine „eigene Natur“, durch die er „irdisch geprägt“ ist; und wenn diese Welt untergehen muß, damit eine kommende Welt entstehen kann, dann sind auch wir selbst in diesen Untergang mit verstrickt. „Durch unser Todesschicksal“, so sagt der Beter, „tragen wir an uns die Prägung unserer irdischen Natur.“
Worauf aber beruht dann die Hoffnung dessen, der so spricht, wenn sie weder aus einer naiven Vergoldung der Vergangenheit hervorgeht noch aus einer anklagenden Forderung nach einer besseren Zukunft? In eben jenem „Todesschicksal“, das ihm bezeugt, daß er ein Teil dieser untergehenden, „alten“ Welt ist, begegnet der Mensch dem Leiden eines anderen, der schon gestorben ist. Ihn nennt der Beter den „Gesalbten Gottes und unseren Herrn“ und glaubt, Gott habe in diesem einen Tod den Tod der Welt und der Menschen „aufgelöst“. Und indem er diesen Gott gegenwärtig anruft, hofft er auf eine Zukunft, die damit beginnt, diesem einen Toten „gleichgestaltet“ zu werden, und die ihr Ziel darin erreicht, umgestaltet zu werden von der „irdischen Natur“ zur „himmlischen Gnade“.
Was ist das für eine Erinnerung? Und welche Hoffnung ist es, die aus ihr hervorgeht? Erinnerung an ein Sterben, das den Tod überwunden hat, und Gegenwart eines Gottes, der aus dem Tode Jesu das neue Leben der Menschen und der Welt schon geschaffen hat, wird zum Ursprung einer Erwartung eines kommenden Lebens. Wer von christlicher Hoffnung sprechen will, und wer sehen will, wie sie aus christlicher Erinnerung hervorgeht, wird so auf eine zentrale Aussage des Glaubens verwiesen: Der Unheilszusammenhang der Menschheitsgenerationen ist nicht dadurch überwunden worden, daß jemand protestierend aus ihm ausbrach, um für sich und für alle ein besseres Leben zu fordern. Dieser Unheilszusammenhang wurde dadurch überwunden, daß einer in ihn eintrat, um für sich und für seine Freunde dieser Welt des Unheils seine Solidarität zu erklären, ihr Todesschicksal anzunehmen und von seinen Freunden das „Gleichgestaltetwerden“ mit diesem Tod zu verlangen.
Wir haben nach der Einheit von glücklicher und schmerzlicher Erinnerung gefragt. Denn aus dem Unterschied dieser beiden Erinnerungen erklärt sich die Differenz der Hoffnungen, die wir in unserer Erfahrung kennen. Aber das Unterscheidende christlichen Glaubens und Hoffens, so schien es, muß gerade dort gesucht werden, wo diese beiden Arten des Erinnerns und Hoffens einander nicht mehr in einer sich ausschließenden Gegensätzlichkeit gegenübertreten, sondern zur Einheit zusammenwachsen. Und diese Einheit suchten wir in der schmerzlichen, ja empörenden und doch zugleich glücklichen Erinnerung an das Kreuz. Nun hat sich gezeigt: Diese Erinnerung an das Kreuz ist [126] schmerzliche, ja empörende Erinnerung. Denn das Kreuz ist der Beweis dafür, daß der Unheilszusammenhang der Generationen, der Teufelskreis von Schuld und Tod, auch durch den „Gesalbten Gottes“ für die uns vor Augen stehende Erfahrung nicht durchbrochen wurde. Sein Auftreten hat vielmehr bewirkt, daß die Mächtigen dieser Welt, vertreten durch Kaiphas, Herodes, Pilatus, sich zum Kampf gegen das angebotene Heil zusammenfanden, daß also die Macht des Bösen sich steigerte und den Heilbringer zu Tode brachte. Und doch ist die gleiche Erinnerung an das Kreuz glückliche Erinnerung an die größte unter allen Heilstaten Gottes, weil die Solidarität, die Jesus der Welt erwies, indem er ihr Todesschicksal annahm, durch keine Feindseligkeit der Welt gegen ihn und gegen seine Freunde unwirksam gemacht werden kann. Er ist, wie so viele vor ihm, an der Welt und ihrer Bosheit gestorben. Aber er ist, und das unterscheidet ihn von all denen, die vor ihm gelitten haben, für diese Welt gestorben, stellvertretend für sie, so daß in seinem Ende diese Welt an ihr Ende kam, in seiner Auferweckung aber der Anfang einer neuen Welt schon gesetzt ist. Das ist es, was die Karfreitagsoration die „Auflösung“ des Todes durch das Leiden des Herrn nennt. Und eben dies war nicht einfach die Wirkung jener selbstlosen, auf Erwiderung nicht rechnenden Solidarität, mit welcher der Mensch Jesus eben jene Welt angenommen hat, die ihn nicht annehmen wollte. „Auflösung“ des Todes, stellvertretendes Vorweg nehmen des Endes der Welt im eigenen Sterben, das ist keine Leistung des Menschen, sondern Gottes Tat. „Du hast im Leiden deines Gesalbten den Tod aufgelöst.“ Daß dies geschehen ist, ist der Inhalt der christlichen Erinnerung. Daß wir dem „gleichförmig werden“, ist der Inhalt der christlichen Hoffnung.
Wir fragen abschließend noch einmal: Was ist das für eine Erinnerung? Und welche Hoffnung ist es, die aus ihr hervorgeht? Und wir wiederholen, was früher deutlich geworden ist: Erinnerung setzt der Erwartung den Maßstab. Aber dieser Satz hat nun eine neue Bedeutung angenommen, wo von der Erinnerung des Glaubens und von seiner Hoffnung die Rede ist. Denn wir erinnern uns glaubend an ein Ereignis, das von Gott her schon gewirkt ist und uns in der Überlieferung des Glaubens weitergesagt wird, während es für unsere Erfahrung noch Zukunft bleibt, die wir zu erwarten haben. Wir erinnern uns an das Ende dieser Unheilswelt, in der wir heute noch leben, obgleich sie im Tode Jesu schon an ihr Ende geraten ist. Und deshalb erwarten wir eine kommende Welt, die für uns noch Hoffnung ist, gerade weil sie in Jesu Auferstehung schon begonnen hat. Unsere Erinnerung ist Danksagung, weil die Vergangenheit, an die wir uns erinnern, die von Gott her schon gewirkte Zukunft ist, die sich für unsere Erwartung auftut. Wir bekennen unseren Glauben als „Hoffnung aus Erinnerung“ mit den Worten eines Hymnus der alten christlichen Gemeinde, den Paulus in seinem Brief an die Philipper zitiert:
„Erkennen wollen wir ihn und die Kraft seiner Auferstehung
und die Gemeinschaft mit seinem Leiden,
gleichgestaltet zu werden seinem Tode.“ [127]
Insoweit spricht dieser Hymnus von der gläubigen Erinnerung. Daran aber knüpft sich die Hoffnung, in welcher der Glaube seine Zukunft hat:
„Entgegenzueilen der Auferstehung von den Toten […]
denn er wird umgestalten den Leib unserer Niedrigkeit,
gleichgestaltet dem Leib seiner Herrlichkeit,
gemäß seinem Wirken, das Kraft hat,
sich zu unterwerfen das All“ (Phil. 3,10f. und 3,21).
Vortrag gehalten auf dem 85. Deutschen Katholikentag in Freiburg, 13.-17. September 1978. Auch enthalten in dem Berichtsband: Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben. Bericht über den 85. Deutschen Katholikentag Freiburg. Paderborn 1978; dort S. 401-417.
Quelle: Theologische Beiträge 10 (1979; Heft 3), Seiten 112-127.