Mein theologischer Lehrer Friedrich Mildenberger hatte auf dem Weg zu seiner Biblischen Dogmatik 1972 den Beitrag „Die Gegenläufigkeit von historischer Methode und kirchlicher Anwendung als Problem der Bibelauslegung“ veröffentlicht:
Von Friedrich Mildenberger
Wir werden mit der Frage nach einem sachgemäßen Verstehen der Bibel sicher nicht in einem Anlauf zu Rande kommen. Aber vielleicht kann es gelingen, wenigstens die verworrene Lage in dieser Frage etwas durchsichtiger zu machen. Dazu müssen wir uns die Spannung vergegenwärtigen, die das Bemühen um ein Verstehen der Schrift bestimmt. Dabei verweise ich zunächst auf den Ort, wo es um dieses Verstehen geht. Das ist einmal der kirchliche Schriftgebrauch, der jetzt freilich nicht in sein vielfältiges Spektrum zerlegt werden soll, sondern als Einheit genommen wird. Das ist zum anderen die wissenschaftliche Bemühung um ein Verstehen der Bibel, eine der Hauptaufgaben theologischer Arbeit. Beides sollte aufeinander bezogen sein, wissenschaftliche Arbeit an der Bibel sollte dem kirchlichen Schriftgebrauch dienen. Es liegt aber am Tage, daß gerade hier Spannungen bestehen, die sich in immer neuen Konflikten entladen. Wir versuchen uns klarzumachen, woran das liegt. Ich habe in der Themaformulierung diese Spannung angesprochen als die Gegenläufigkeit der historischen Methode, deren sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel bedient, und der kirchlichen Anwendung, die für den erbaulichen Schriftgebrauch bestimmend ist. Wir versuchen uns die Entstehung der Spannung klarzumachen.
A. Die Einheit der Schrift als Voraussetzung ihrer Anwendbarkeit.
1. Bibelauslegung hat ihren Sinn in der Anwendung der Bibel hier und heute.
Was diese erste These sagt, ist im Grunde eine Banalität. Aber wir tun gut daran, beim Selbstverständlichen anzufangen. Denn das wird gar zu leicht übersehen.
Gerade bei einer solchen schwierigen Frage ist es aber gut, wenn wir von Anfang an darauf sehen, daß wir mit den Füßen auf dem Boden bleiben. Wir gebrauchen also die Bibel deshalb, weil wir etwas von ihr haben wollen – „Lehre, Aufdeckung der Schuld, Besserung, Erziehung in der Ge-[58]rechtigkeit“, um 2. Tim. 3, 16 anzuführen. Jetzt und hier erwarten wir etwas von der Bibel. Darum allein wird sie gebraucht, wird sie ausgelegt. Darum lesen wir die Bibel, darum predigen wir über biblische Texte. Das ist zunächst einmal der Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Wir hätten keine Bibel, wenn sie nicht so gebraucht, so angewandt und um dieser Anwendung willen durch die Zeiten hindurch in der Kirche weitergereicht worden wäre.
2. Darum setzt der kirchliche Schriftgebrauch die Anwendbarkeit der Bibel voraus.
Auch diese zweite These ist wieder selbstverständlich. Sie ist Folgerung aus dem auf Anwendung zielenden kirchlichen Schriftgebrauch. Anwenden läßt sich ja nur, was auch anwendbar ist. Wird freilich diese Selbstverständlichkeit mit den einzelnen biblischen Texten zusammengebracht, zeigt sich rasch, daß eine solche Voraussetzung nicht ohne Probleme ist, nie in der Geschichte des kirchlichen Schriftgebrauchs ohne Probleme gewesen ist. Eine theologische Theorie zur Begründung dieser Anwendbarkeit ist die Inspirationslehre – etwa an der schon angeführten berühmten Stelle aus dem 2. Timotheusbrief. „Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze – ist tauglich – zur Lehre usw.“ Aber das mußte nun auch in der Praxis des Umgangs mit der Schrift bewährt werden – etwa in der Anwendung des alttestamentlichen Gesetzes. Da konnte ja die christliche Kirche mit einem buchstäblichen Verständnis, mit einer unmittelbaren Anwendung der Weisungen nicht durchkommen. Denn das alttestamentliche Kultgesetz konnte nach Christus nicht mehr gelten. Nicht nur hier ist man darum in der Anwendung den Weg gegangen, daß man einen mehrfachen Schriftsinn statuierte. Wo die Bibel nicht im buchstäblichen Sinn anwendbar ist, da muß ein geistlicher Sinn gefunden werden, der sich anwenden läßt. Das Mittelalter hat diese Hermeneutik dann zu der Theorie vom vierfachen Schriftsinn ausgebaut. Möglichst jede Schriftstelle soll danach nicht nur eine, sondern eine vierfache Anwendung hergeben – littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia. Anwendbarkeit ist hier Kriterium des Verstehens – je mehr Anwendungsmöglichkeiten, desto besser ist die Bibel verstanden. Wir lassen die naheliegende Frage an eine solche Auslegung noch einen Moment anstehen, um eine zweite Voraussetzung, die in unserer ersten These enthalten ist, zu explizieren.
3. Weil eine einheitliche Anwendung der Bibel eine in sich zusammenstimmende Wahrheit fordert, muß von der Anwendung her die Einheit der Schrift postuliert werden.
Auch ein vierfacher Schriftsinn muß in sich zusammenstimmen. Die Anwendung der Bibel soll die Einheit des Glaubens und des Lebens in der einen Christenheit fördern und nicht zerstören. Darum sah man sich ja ge-[59]nötigt, etwa das jüdische Zeremonialgesetz geistlich, allegorisch oder typologisch zu verstehen, weil es sich sonst nicht in diese Einheit eingefügt hätte. Ich setze dazu: Genau in dieser Lage sind wir heute noch. Wir predigen etwa den einen Sonntag über einen Text aus Jesaja, den nächsten Sonntag über einen Paulustext, dann vielleicht über ein Stück aus dem Jakobusbrief. Das muß zusammengehen – auf Biegen oder Brechen. Die Anwendung dieser verschiedenen Perikopen muß sich zu einem einheitlichen Glaubenssinn zusammenfügen. Sonst könnten wir diese Texte nicht miteinander und nebeneinander gebrauchen. Da wir das tun, nehmen wir offensichtlich an, daß sie sich in einem einheitlichen Sinn anwenden lassen. Indem wir die Schrift in der Kirche so gebrauchen, wie das von Anfang an geschehen ist, setzen wir also die Einheit der Schrift voraus.
B. Der Grundsatz eines buchstäblichen Verstehens als Schutz für die Eigenmacht der Schrift.
4. Soll die Schrift in der Kirche als oberste Autorität gelten, darf sie nicht durch eine auf Anwendbarkeit bedachte kirchliche Auslegung manipuliert werden.
Wir haben unsere Einwände gegen eine allein auf Anwendung bedachte Auslegung der Bibel rasch bei der Hand. Da wird ja gar nicht ausgelegt – da wird ein fremder Sinn an die Texte herangetragen, mit allerlei Künstelei in ihnen wiedergefunden. Doch nicht die Schrift kommt dann zu Wort, sondern allein der Ausleger – sagen wir gleich: die Kirche, in der und für die die Schrift gebraucht wird. Bei einer solchen Behandlung der Bibel ist es kein Wunder, wenn sie als eine Einheit erscheint. Aber der einheitliche Glaubenssinn, den man findet, weil man ihn voraussetzt, ist nicht die Stimme der Bibel, sondern die Stimme der Kirche und ihrer Tradition.
Wir haben bei solchen Einwänden in der Regel den Schriftgebrauch der katholischen Kirche im Auge, die ja die authentische Auslegung der Schrift ausdrücklich der Kirche und ihrem Lehramt vorbehält – und in der Tat liegt hier eine durch die Reformation aufgekommene Kontroverse vor. Doch fällt es nicht schwer, solche kirchliche Manipulierung der Bibel auch anderswo nachzuweisen. Bei aller verbalen Hochachtung vor der Bibel nimmt man ihr damit ihre Autorität, meistert sie, statt daß man sie selbst Meisterin sein ließe. Nur dann hat ein Streit um die Bibel überhaupt Sinn, wenn da um die Geltung der Bibel gestritten wird und nicht um bestimmte Auslegungstraditionen! Wie kann es aber dazu kommen, daß nun auch wirklich die Bibel ihr Recht behält? Dazu die nächste These:
5. Darum muß die Auslegung an ein buchstäbliches Verstehen der Schrift gebunden sein. [60]
Das ist ein Grundsatz, der heute fast allgemein anerkannt ist. Die Theorie eines geistlichen, eines Voll- oder Tiefensinnes der Bibel, wird heute kaum mehr vertreten. Die Bibel, jedes Schriftwort, hat einen einzigen Sinn. Und das ist der, den der Autor dieses Wortes im Sinn hatte, als er es sagte oder niederschrieb. In diesen so einfach klingenden Worten stecken mehr als genug Probleme. Doch die wollen wir jetzt nicht erörtern. Wir begnügen uns zunächst einmal mit dieser Feststellung: Die Auslegung der Bibel ist an den einen, buchstäblichen Sinn gebunden. Damit ist ein Schutz vor willkürlicher Auslegung gegeben – zugleich eine Berufungsinstanz gegenüber kirchlichen Ansprüchen, die ihre Wahrheit an der Schrift vorbei durchsetzen wollen.
Dabei fragt sich nun allerdings, wie es bei einer so verstandenen Geltung der Bibel mit der Anwendung steht. Gerade daß bestimmte Worte, bestimmte Teile der Schrift bei einem nur buchstäblichen Verständnis der Bibel nicht anwendbar schienen, das hatte doch zu der Theorie von einem mehrfachen Schriftsinn geführt. Und diese Theorie konnte sich zudem auf die Verwendung der Bibel in der Bibel selbst, vor allem auf die Verwendung des Alten Testaments im Neuen berufen. Festlegung auf den buchstäblichen Sinn verlangte darum in der Reformation nach einer hermeneutischen Anweisung, die zugleich mit dem buchstäblichen Verständnis auch die Anwendbarkeit der Bibel begründete. Dazu nun die nächste These:
6. Diesem buchstäblichen Verstehen erschließt sich die Schrift in ihrer einheitlichen Anwendbarkeit auf die Predigt von der Rechtfertigung des Gottlosen.
Festlegung auf den buchstäblichen Schriftsinn ist in der Reformation verbunden mit einem einheitlichen Verständnis der ganzen Schrift als Predigt der Rechtfertigung des Gottlosen. Dabei gilt, daß die Schrift sich selber auslegt. Das bedeutet, daß die dunklen Stellen – das sind die, die dieses Verständnis nicht unmittelbar hergeben – nach den hellen Stellen zu verstehen sind. Die ganze Schrift „treibt Christum“ – die Rechtfertigung sola fide propter Christum. Das wird deutlich, wenn Gesetz und Evangelium richtig unterschieden und aufeinander bezogen werden.
Selbstverständlich können wir auch da gleich wieder mit unseren Einwänden kommen, hier dieselbe Manipulierung der Schrift durch einen vorausgesetzten kirchlichen Glaubenssinn finden, gegen die man sich doch mit solcher Hermeneutik abzugrenzen suchte. Wir können diese Einwände nicht vorlaufend widerlegen, wollten es aber gerade hier doch auf die Probe ankommen lassen. Eine solche Hermeneutik ist ja nicht abstrakt zu diskutieren, sondern in der Anwendung der Schrift durchzuführen. Und hier hat sich diese Hermeneutik bis heute nicht schlecht bewährt – dort, wo man sich die Mühe machte, ihrer Anweisung zu folgen. [61]
C. Das buchstäbliche Verstehen in der Regie der historischen Methode.
7. Indem die historische Methode das buchstäbliche Verstehen der Schrift für sich beansprucht, wird die Frage der Anwendung aus dem Auslegungsprozeß ausgeklammert.
Wir können hier nicht die ganze Problematik des historischen Verstehens der Bibel aufrollen. Es geht allein um den Hinweis auf den für unsere Fragestellung entscheidenden Sachverhalt. Historisches Verstehen setzt die Frage nach Anwendbarkeit und Anwendung der biblischen Texte aus. Sie kann noch zusätzlich gestellt werden, wenn der Text erst einmal in seiner historischen Eigenart wahrgenommen worden ist. Aber das muß nicht sein. Damit ist ein Bruch mit der ganzen bisherigen Auslegungstradition markiert. Die war von der Voraussetzung ausgegangen, daß das Bibelwort unmittelbar in ihre Gegenwart hineinspreche, und hatte darum dieses Bibelwort selbstverständlich im Kontext dieser Gegenwart zu verstehen und das hieß dann sofort auch anzuwenden versucht. Das wird nun grundsätzlich aufgegeben. Jesaja redet zu den Jerusalemern des achten Jahrhunderts vor Christus, und Paulus zu der römischen Christengemeinde des sechsten Jahrzehnts unserer Zeitrechnung. Sie reden also auf keinen Fall unmittelbar zu uns.
Will der kirchliche Schriftgebrauch Anwendung des Bibelwortes, je unmittelbarer, desto besser – so die historische Methode Distanz, die das Bibelwort mit seiner Aussage in den Kontext seiner Zeit versetzt. Damit wird die Unmittelbarkeit, wie sie kirchliche Anwendung der Bibel fordert, bestritten. Die biblischen Aussagen werden in die Vergangenheit zurückgeschoben, denn nur dort, in ihrem historischen Kontext, können sie – das der Anspruch der historischen Methode – richtig, in ihrem buchstäblichen Sinn, verstanden werden. Das ist der Sachverhalt, den ich als die Gegenläufigkeit von historischer Methode und kirchlicher Anwendung bezeichne. Nun zu den Folgerungen, die sich daraus ergeben.
8. In der Folge zerfällt die Einheit der Schrift in einem Prozeß immer weiterführender historischer Differenzierung.
Wir sahen, wie die Intention auf Anwendung dazu nötigt, die Bibel als Einheit zu verstehen. Fällt diese Intention weg, dann kann von einer solchen Einheit nicht mehr die Rede sein. Dann zeigt sich die Bibel als ein Schriftenkorpus, das in einer langen Geschichte aus sehr verschiedenartigen Bestandteilen zusammengewachsen ist. Historisches Verstehen nimmt diesen Prozeß wahr – das ist eine sehr spannende Sache. Es stellt die einzelnen Bestandteile dieses Schriftenkorpus je an den Ort ihrer geschichtlichen Entstehung, zeigt damit die Vielfalt der Stimmen, die in der Bibel zusammengebunden sind. Aber hier sind verschiedene Stimmen, die auch Verschiedenes sagen. Das Neue Testament sagt Anderes als das Alte, Jesus Anderes als [62] Paulus, das Markusevangelium Anderes als das Johannesevangelium und so fort. Eine Einheit der Schrift aber findet sich hier auf keinen Fall, mindestens nicht für ein buchstäbliches Verstehen, das mit dem historischen Verstehen identifiziert wird. Das ist nicht böser Wille, der die Schrift nur deshalb kritisch analysieren möchte, um sie der Kirche aus der Hand zu nehmen. Eine solche Aufsplitterung der Schrift ist mit der Methode unabweislich gegeben.
Also weg mit der historischen Methode? Das wäre ein fataler Kurzschluß. Wir können an dieser Weise des Verstehens nicht mehr vorbei. Eine Unbefangenheit in der Anwendung der Bibel wird es nicht mehr geben, auch wenn man sich gegen historisches Verstehen abschirmt. Nur durch dieses Verstehen hindurch kann es in unserer Situation weitergehen. Das als Andeutung einer Apologie, wie sie die historische Methode an dieser Stelle unserer Überlegung nötig hätte. Doch wir bleiben jetzt bei den Folgen dieser Methode der Bibelauslegung.
9. Die Nötigung zur Anwendung führt dann einerseits zu willkürlicher Auswahl der anwendbaren Texte, andererseits zu willkürlicher Deutung um der Anwendung willen.
Die Schrift kann dem historischen Verstehen nicht mehr sagen, wie sie angewandt werden will. Denn von Anwendung darf dieses Verstehen ja nichts wissen wollen. Das gehört zu seinen methodischen Grundsätzen. Damit ist freilich die Frage nach der Anwendung noch nicht erledigt. Die bleibt, solange die Bibelauslegung nicht allein als wissenschaftliche Auslegung betrieben wird, sondern immer zugleich und zuerst als kirchliche Schriftauslegung, die nach wie vor nach der Anwendung der Schrift fragt.
Hier hat die außerordentlich komplizierte hermeneutische Debatte ihren Grund, die von Anfang an die historische Methode der Bibelauslegung begleitet. Ich formuliere bewußt schroff die Folgen dessen, daß hier nicht mehr die Schrift selbst ihre Anwendung vorschreiben darf. Darum müssen nun andere Kriterien der Anwendung gefunden werden – die Fülle der Vorschläge läßt sich natürlich hier nicht nennen, geschweige denn würdigen. Ich verweise nur auf zwei Tendenzen.
Einmal kommt es nun zur Auswahl anwendbarer Texte. Eine solche Auswahl hat es immer gegeben – das muß dazu gleich bemerkt werden. Aber nun urteilt man prinzipiell, übergeht nicht schweigend dieses oder jenes biblische Buch, um andere Texte und Textgruppen zu bevorzugen. Beispielsweise wird jetzt die Anwendbarkeit des Alten Testaments grundsätzlich problematisiert, da es einer überwundenen religiösen Stufe angehöre.
Zum anderen werden nun Texte bewußt auf ihre Anwendung hin zurechtgebogen – von der moralischen Anwendung, die Kant im Zweifelsfall auch gegen den buchstäblichen Sinn forderte, bis hin zu einer politischen Hermeneutik der Bibel, die gegenwärtig in Mode ist. Die Forderung eines buchstäblichen Verstehens ist gegen solche mißbräuchliche Anwen-[63]dung solange machtlos, wie hier die Frage der Anwendbarkeit ausgeklammert bleibt. Dabei aber darf es nicht bleiben.
D. Anwendbarkeit im buchstäblichen Verstehen.
10. Buchstäbliches Verstehen der Schrift darf die Frage der Anwendbarkeit nicht ausklammern, wenn es sich nicht selbst überflüssig machen will.
Die Gegenläufigkeit von historischem Verstehen und kirchlicher Anwendung in der Auslegung der Bibel nimmt der Schrift ihre Vollmacht, statt dem zu dienen, daß die Schrift auch heute vollmächtig zu Wort kommen kann. Die Folgerung ist klar. Entweder wir verzichten auf eine vollmächtige Schrift und suchen uns als Kirche nun eben ohne die Schrift irgendwie weiter zu behelfen. Solche Vorschläge kann man heute ja hören. Oder wir geben zu, daß historisches Verstehen und buchstäbliches Verstehen der Schrift nicht identisch sind. Verstanden ist die Schrift erst, wenn sie in ihrer Anwendbarkeit verstanden ist! Man kann gegen die Hermeneutik Rudolf Bultmanns eine ganze Menge Einwendungen machen – aber hier wurde eingeschärft, daß Verstehen bis zur Anwendbarkeit vorstoßen muß.
Wir nennen das also zunächst als Forderung: Buchstäbliches Verstehen der Schrift darf die Frage nach der Anwendung nicht ausklammern, hat sich ihr zu stellen. Nur dann ist dieses Verstehen seinem Gegenüber gerecht geworden. Wie soll das aber geschehen? Ich kann da nun nicht eine biblische Hermeneutik entwickeln, will nur auf einen Sachverhalt aufmerksam machen, der in dieser Frage meist nicht genügend beachtet wird.
11. Dabei ist der Auslegung die angewandte Schrift schon immer vorgegeben in kirchlichen Glaubenszeugnissen, die vorsprechen, was als Einheit und Mitte der Schrift erfaßt worden ist.
Zunächst nenne ich meine Voraussetzung. Die Schrift hat Macht, Glauben zu wirken. Das hat sich durch die Geschichte hindurch erwiesen. Darum erwarten wir mit Grund, daß sich diese Macht auch weiter erweisen wird. Von dieser Erwartung wird eine rechtschaffene Auslegung der Bibel nicht absehen können. Nur mit dem, der diese Erwartung teilt, werden wir auch in dieser Frage diskutieren können.
Schrift wirkt Glauben – das unsere Voraussetzung, unter der allein wir sinnvoll nach Anwendung der Bibel fragen können. Dieser Glaube aber ist immer zugleich verstehender Glaube, und er wird aussprechen, was er verstanden hat. Wenn wir die Vollmacht der Bibel voraussetzen bei unserem Bemühen um eine rechte Auslegung, d. h. um ein Verstehen, das bis zur Anwendung vorstößt, dann werden wir an den Zeugnissen dieses Glaubens nicht vorbeigehen können. Wir fragen also nach der rechten Anwendung immer so, daß wir zugleich wissen, wie Schrift von denen angewandt [64] wurde, die vor uns ausgelegt und geglaubt haben. Das folgt aus unserer Grundvoraussetzung.
Dabei geht es nun nicht um die Auslegung einzelner Stellen und Texte, um eine detaillierte Auslegungsgeschichte – so wichtig die auch für ein richtiges Verstehen einzelner Texte oft sein mag. Es geht uns hier um Anwendung. Und solche Anwendung kann immer nur eine klare und einheitliche Anwendung sein. Darum sehen wir im Zeugnis derer, die vor uns glaubten, den Hinweis auf das, was sie als Einheit und Mitte der Schrift verstanden haben.
12. Diese angewandte Schrift leitet dazu an, die anzuwendende Schrift in ihrer Einheit zu verstehen.
Wir dürfen in unserem Bemühen um ein Verstehen der Bibel nicht zu bald aufhören. Daß dieses Verstehen buchstäbliches Verstehen sein muß, wenn die Bibel Meisterin bleiben und nicht durch die Auslegung gemeistert werden soll, das setzen wir voraus. Aber dieses buchstäbliche Verstehen ist nicht zu Ende mit dem, was historisches Verstehen leisten kann. Es muß bis zur Anwendung vorgetrieben werden, in welcher sich die Sache der Bibel mächtig erweist. Dazu soll und kann uns das Zeugnis derer dienen, die vor uns auf die Schrift gehört und die Macht dieser Schrift erfahren haben. Solches Glaubenszeugnis kann unseren eigenen Glauben nicht ersetzen.
Es kann auch unser eigenes glaubendes Verstehen nicht ersetzen. Darum können wir uns nicht damit begnügen, zu tradieren, wie Schrift einmal verstanden und angewandt wurde. Wir haben selbst zu verstehen – bis hin zur Anwendung hier und heute. Aber wir können uns hier anleiten lassen. Das macht die Aufgabe der Auslegung vielleicht nicht einfacher. Aber es zwingt dazu, bei der Sache zu bleiben.
Theologische Beiträge 3 (1972), S. 57-64.