
Was ist der Mensch? Theologische Anthropologie im Anschluss an Psalm 8
Was ist der Mensch? heißt die Frage, die es in sich hat. Von der Definition des Menschseins hängen innerhalb der Gesellschaft die Zuerkennung einer Menschenwürde bzw. von Menschenrechten sowie das Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes ab: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Ist von einem „Jemand“ die Rede, wird damit mehr als nur das „Etwas“ eines prozesshaften menschliches Leben verstanden. Menschsein zielt auf Personsein mit einem Antlitz bzw. Ansehen (altgriechisch prosopon), dem eine eigene Identität mit je eigenen Rechten und Pflichten zukommt. So sieht dies beispielsweise § 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches vor: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt.“ Da ein „Etwas“ kein Recht über sich selbst hat, kann man mit einem neutrisch begriffenen Leben aus einer sachbezogenen Verfügungsgewalt (bzw. Sachkompetenz) heraus etwas machen. Bei einem namentlich ansprechbaren Menschen stellt sich hingegen die Frage, ob und was man ihm rechtmäßig antun kann oder darf. Insofern ist nicht menschliches Leben an sich, sondern der Status eines eigenen Menschseins für uns lebensentscheidend: Mensch-Sein oder Mensch-Nichtsein ist fürwahr die Frage.
Aber wer kann und darf nun dieses Menschsein definieren und damit dieses Sein von anderen „Seinen“, beispielsweise dem „Tiersein“, abgrenzen? Und nach welchen Kriterien kann dies geschehen?
Der vermeintlich einfachste Weg scheint die Feststellung eines unveränderlichen Wesens des Menschseins zu sein (Essentialismus). Das Menschsein machen unveränderlich-notwendige Eigenschaften aus, an denen sich alles andere akzidentiell festmachen lässt. In der philosophischen Tradition wird der Mensch als animal rationale (zoon logon echon), als vernunftbeseeltes Lebewesen bestimmt. Biologistisch ließe sich das Menschsein an einem bestimmten Genom festgemachen. Das Problem essentialistischer Definitionen ist jedoch, dass Menschsein im Hinblick auf ein Individuum sich zeitlich entwickelt wie auch vergeht. Ein überzeitlicher Wesenskern lässt sich menschlich nicht halten. „Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück“ heißt es dazu aus göttlichem Mund (Genesis 3,19).
Enzyklopädisch (wörtlich „kreisförmig gelehrt“) ließe sich das Menschsein als Bündel verschiedener Eigenschaften und Fähigkeiten umschreiben, die ein Mensch unter verschiedenen Bezügen aufweist, seien sie genetisch oder kulturell bedingt. Aber auch hier stellt sich die Frage, inwiefern eine Umschreibung des Menschseins mit zeit- oder entwicklungsbedingten Unvollständigkeiten bzw. sich ereignenden Minderungen umgeht. Gibt es etwa ein amputiertes Menschsein?
Eine vermeintlich einleuchtende Bestimmung des Menschseins ist die wechsel- bzw. gegenseitige Zuschreibung (Attribution). Als animal sociale (zoon politikon), als „Soziallebewesen“ befindet man sich in einem interaktiven Verhältnis zu anderen und vermag in dieser Kommunikation das Menschsein des anderen für sich selbst anzuerkennen, nach dem Motto „wie du mir, so ich dir“. Hierbei geht man von einer bürgerlichen Gesellschaft aus, wo die Zuschreibung gleichrangig bzw. symmetrisch vorgenommen wird. Aber genau diese Symmetrie ist gesellschaftlich nicht garantiert. In Gesellschaften, die durch diktatorische bzw. ideologische Staatsherrschaft (vom Despotismus bis hin zum Totalitarismus) bestimmt sind, geschieht die rechtsgarantierende Zuschreibung von Menschsein nicht auf Augenhöhe, sondern folgt deterministischen Motiven, beispielsweise einem identitären Rassismus (mit der Möglichkeit der eliminierenden Distanzierung) oder aber einem ideologischen Funktionalismus: Menschen sind diejenigen, die qua Abstammung oder qua Leistung der jeweiligen Herrschaft nützen bzw. der Gesellschaft dienen oder aber einem Despoten willfährig sind.
Entwicklungs- bzw. zustandsbedingt kommt es bei der bürgerlichen Zuschreibung des Menschseins zu Asymmetrien, beispielsweise bei der Frage, ob ein Embryo im Uterus ein Mensch ist oder ob ein Patient im Wachkoma als Mensch weiterzuleben hat oder weiterleben darf. Wo soziale Interaktionsmöglichkeiten noch nicht oder nicht mehr erkennbar vorhanden sind, wirkt sich dies auf die Zuschreibung von Menschsein in der Gesellschaft aus.
Menschliche Versuche, das Menschsein zu definieren, müssen mit dem Tot-sein-Können zurechtkommen. Da es für das Menschsein keine Unsterblichkeit gibt, steht jede Definition unter dem Vorbehalt des innewohnenden Sterbenmüssens, womit es im menschlichen Leben keinen unveränderlich notwendigen Zustand geben kann. Was an Menschenrechten und als Menschenwürde vorgesehen ist, bleibt der Vergänglichkeit unterworfen. Der Tod nimmt sich unsere Würde und relativiert unser Menschsein. Im Hinblick auf die Sterblichkeit sind Zuerkennungen von Menschsein immer relativ hinsichtlich des- oder derjenigen, die die Zuschreibung aus der je eigenen Sichtweise und dem je eigenen Interessen vornimmt. In jedem Falle beinhaltet die Menschsein-Definition eine Machtfrage, der Menschen in ihrer Selbstbezüglichkeit nicht auskommen können.
Dies bringt uns zur Geschichte vom sogenannten Sündenfall in Genesis 3, wo die Versuchung zur Frucht vom Baum der Erkenntnis in der Zusage besteht: „Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ (VV 4-5) Gottgleiche Erkenntnis in eigener Unsterblichkeit ist die ethische Definitionsmacht über Gut und Böse, die sich Menschen anzueignen suchen, um selbst die Entscheidungen über Leben und Tod bei anderen treffen zu können. Indem die Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sind sie ihrem Schöpfer und dessen Fürsorge entfremdet. Sie werden von ihm zur Rede gestellt und verlieren ihre Unschuld ihm gegenüber, so dass die menschliche Erkenntnis von Gut und Böse dem Gott bleibend geschuldet ist.
Was die christliche Lehre über das Menschsein besagt, folgt einer Geschichte, nämlich der lebensbestimmenden Geschichte des einen Gottes mit den Menschen, die als Geschichte eines Volks, nämlich Israel, und im Besonderen als Geschichte eines Menschen aus diesem Volk, nämlich Jesus Christus erzählt wird. Diese Geschichte beginnt aus Menschensicht mit der Schöpfung von Himmel und Erde. Menschen sind diejenigen, die in der monogenetischen Nachkommenschaft Adams und Evas von dem Gott nach seinem Ebenbild geschaffen sind: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ (Genesis 1,27) Ihr eigenes, irdisches Menschsein haben sie in einem unverfügbaren Geburtsgeschehen empfangen, womit sie es für sich selbst eben nicht definieren können. Stattdessen haben sie sich in der biblisch bezeugten Gottesgeschichte wiederzufinden, wo sie mit den Worten aus Psalm 8 nicht über das Gottesgedächtnis hinwegkommen:
Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,
den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:
was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst,
und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott,
mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.
(Psalm 8,4-6)
Psalm 8 ist für die Rede vom Menschen in der christlichen Lehre wie auch im christlichen Leben maßgeblich, wird doch explizit darin die Frage nach dem Menschsein gestellt. Allerdings liefert der Psalm selbst keine Definition des Zustandes „Menschsein“, sondern findet den Menschen im staunenden Gotteslob. Gerahmt ist der Psalm vom göttlichen NAMENslob: „HERR, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!“
Was göttlich mit uns geschehen ist zeichnet das eigene Menschsein aus – als Gedächtnis, als Annahme und als Ermächtigung: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst. Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ (VV 5-6) So verdankt sich Menschsein weder eigener Definition noch eigener Vernunftfähigkeit aus, sondern ist göttlich zugesprochen. So ist in Psalm 8 von einem Gotteslob von Kindern und Säuglingen als „Bollwerk“ gegen Gottesfeinde die Rede (V 3). Nicht die eigene Vernunftfähigkeit macht vor dem Gott das Menschsein aus, sondern die göttliche Wahrnehmung seiner Geschöpfe.
Menschsein ist kein Zustand, sondern ein gottbestimmtes Geschehen, das im Sündenfall (Genesis 3) unter dem Gesetz seiner Gottentfremdung überführt und im Paschamysterium Christi auf die ewige Gottesgemeinschaft ausgerichtet worden ist. Entsprechend beschreibt Martin Luther in seiner Disputatio de homine von 1536, was den Menschen in der Gottesperspektive wirklich ausmacht:
Die Theologie hingegen definiert aus der Fülle ihrer Weisheit den ganzen und vollkommenen Menschen. Nämlich: Der Mensch ist Gottes Geschöpf, aus Fleisch und lebendiger Seele bestehend, von Anbeginn zum Bilde Gottes gemacht ohne Sünde, mit der Bestimmung, Nachkommenschaft zu zeugen und über die Dinge zu herrschen und niemals zu sterben; das aber nach Adams Fall der Macht des Teufels unterworfen ist, nämlich der Sünde und dem Tode – beides Übel, die durch seine Kräfte nicht zu überwinden und ewig sind; und das nur durch den Sohn Gottes Christus Jesus zu befreien ist (sofern es an ihn glaubt) und mit der Ewigkeit des Lebens zu beschenken. (Thesen 20-23)
Im Christusgeschehen kommt der Mensch zur eigenen Besinnung. Bezogen auf sich selbst ist man als Mensch ein gottverlorener Sünder, der sich nicht über andere erheben kann. Mit dem eigenen Leben unter dem Gesetz bleibt man dem gerichtlichen Handeln Gottes ausgesetzt und empfängt zugleich im Glauben an Jesus Christus eine Verheißung, die über das Zeitlich-Vergängliche hinaus in die bleibende Gottesgemeinschaft führt.
Wenn Christen vom Menschen reden wollen, haben sie die göttliche Bestimmung des Menschseins wie auch das eigene Sündersein anzuerkennen. Im eigenen Urteilen und Beurteilen können sie sich nicht über den anderen erheben, sondern setzen sich selbst dem göttlichen Urteil aus, so wie der Apostel Paulus an die Römer schreibt: „Worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst.“ (Römer 2,1) Was man beim anderen nicht anzuerkennen vermag, geht einem selbst ab. So bedingt die göttliche, gnädige Anerkennung unserer selbst die eigenen Anerkennung des anderen.