Als 1971 Teile des sogenannten Pentagon-Papiere, ein Geheimdokument des US-Verteidigungsministeriums durch die New York Times veröffentlich wurden, zeigte sich, dass von Regierungsseite die US-amerikanischen Öffentlichkeit über die eigene Kriegspolitik in Vietnam über Jahre hinweg gezielt desinformiert worden war. Hannah Arendt schrieb daraufhin den Aufsatz Die Lüge in der Politik (Lying in Politics), der im November 1971 in The New York Review of Books erschien. Eingangs finden sich grundsätzliche Ausführungen:
Geheimhaltung nämlich und Täuschung – was die Diplomaten Diskretion oder auch die arcana imperii, die Staatsgeheimnisse, nennen –, gezielte Irreführungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen wir seit den Anfängen der überlieferten Geschichte. Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik. Wer über diesen Sachverhalt nachdenkt, kann sich nur wundern, wie wenig Aufmerksamkeit man ihm im Laufe unseres philosophischen und politischen Denkens gewidmet hat: einerseits im Hinblick auf das Wesen des Handelns und andererseits im Hinblick auf unsere Fähigkeit, in Gedanken und Worten Tatsachen abzuleugnen. Diese unsere aktive, aggressive Fähigkeit zu lügen unterscheidet sich auffallend von unserer passiven Anfälligkeit für Irrtümer, Illusionen, Gedächtnisfehler und all dem, was man dem Versagen unserer Sinnes- und Denkorgane anlasten kann.
Ein Wesenszug menschlichen Handelns ist, dass es immer etwas Neues anfängt; das bedeutet jedoch nicht, dass es ihm jemals möglich ist, ab ovo anzufangen oder ex nihilo etwas zu erschaffen. Um Raum für neues Handeln zu gewinnen, muss etwas, das vorher da war, beseitigt oder zerstört werden; der vorherige Zustand der Dinge wird verändert. Diese Veränderung wäre unmöglich, wenn wir nicht imstande wären, uns geistig von unserem physischen Standort zu entfernen und uns vorzustellen, dass die Dinge auch anders sein könnten, als sie tatsächlich sind. Anders ausgedrückt: die bewusste Leugnung der Tatsachen – die Fähigkeit zu lügen – und das Vermögen, die Wirklichkeit zu verändern – die Fähigkeit zu handeln – hängen zusammen; sie verdanken ihr Dasein derselben Quelle: der Einbildungskraft. Es ist nämlich keineswegs selbstverständlich, dass wir sagen können „Die Sonne scheint”, wenn es tatsächlich regnet (gewisse Hirnverletzungen haben den Verlust dieser Fähigkeit zur Folge). Es beweist vielmehr, dass wir mit unseren Sinnen und unserm Verstand zwar für die Welt gut ausgerüstet, dass wir ihr aber nicht als unveräußerlicher Teil eingefügt sind. Es steht uns frei, die Welt zu verändern und in ihr etwas Neues anzufangen. Ohne die geistige Freiheit, das Wirkliche zu akzeptieren oder zu verwerfen, ja oder nein zu sagen – nicht nur zu Aussagen oder Vorschlägen, um unsere Zustimmung oder Ablehnung zu bekunden, sondern zu Dingen, wie sie sich jenseits von Zustimmung oder Ablehnung unseren Sinnes- und Erkenntnisorganen darbieten –, ohne diese geistige Freiheit wäre Handeln unmöglich. Handeln aber ist das eigentliche Werk der Politik.
Wenn wir also vom Lügen und zumal vom Lügen der Handelnden sprechen, so sollten wir nicht vergessen, dass die Lüge sich nicht von ungefähr durch menschliche Sündhaftigkeit in die Politik eingeschlichen hat; schon allein aus diesem Grund wird moralische Entrüstung sie nicht zum Verschwinden bringen. Bewusste Unaufrichtigkeit hat es mit kontingenten Tatbeständen zu tun, also mit Dingen, denen an sich Wahrheit nicht inhärent ist, die nicht notwendigerweise so sind, wie sie sind. Tatsachenwahrheiten sind niemals notwendigerweise wahr. Der Historiker weiß, wie verletzlich das ganze Gewebe faktischer Realitäten ist, darin wir unser tägliches Leben verbringen. Es ist immer in Gefahr, von einzelnen Lügen durchlöchert oder durch das organisierte Lügen von Gruppen, Nationen oder Klassen in Fetzen gerissen oder verzerrt zu werden, oftmals sorgfältig verdeckt durch Berge von Unwahrheiten, dann wieder einfach der Vergessenheit anheimgegeben. Tatsachen bedürfen glaubwürdiger Zeugen, um festgestellt und festgehalten zu werden, um einen sicheren Wohnort im Bereich der menschlichen Angelegenheiten zu finden. Weshalb keine Tatsachen-Aussage jemals über jeden Zweifel erhaben sein kann – so sicher und unangreifbar wie beispielsweise die Aussage, dass zwei und zwei vier ist.
Diese Gerechtigkeit eben ist es, die die Täuschung bis zu einem gewissen Grade so leicht und so verlockend macht. Mit der Vernunft kommt sie nie in Konflikt, weil die Dinge ja tatsächlich so sein könnten, wie der Lügner behauptet. Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wirklichkeit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht. Er hat seine Schilderung für die Aufnahme durch die Öffentlichkeit präpariert und sorgfältig darauf geachtet, sie glaubwürdig zu machen, während die Wirklichkeit die unangenehme Angewohnheit hat, uns mit dem Unerwarteten zu konfrontieren, auf das wir nicht vorbereitet waren.
Quelle: Hannah Arendt, In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken, hrsg. v. Ursula Ludz, München: Piper 2000, S. 322-353.
Die vollständige englischsprachige Originalfassung findet sich hier.