
Drei Tage nach seiner Predigt über Johannes 10,11-13 in Paris legt Karl Barth am 18. April 1934 den zweiten Teil des Evangeliums zum Sonntag Misericordias Domini (Johannes 10,11-16) vor dem Reformierten Konvent in Osnabrück aus. Darin führt er unter anderem aus:
Wenn reformierte Älteste und Prediger, wie wir es heute tun, zusammentreten, um über den Weg der Kirche Christi auf Erden in schwerer Zeit Beratung zu halten und Beschluß zu fassen, dann darf ihnen das zum Trost, dann muß ihnen das aber auch zur Mahnung und Warnung dienen – dann sollen sie das wie einen Schild vor sich und ihre Schwachheit halten, aber auch aufgebaut sein lassen wie eine Mauer gegen ihren Übermut: Jesus Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Seht, wie steht dieses «Ich» da, für, aber auch gegen unser «Wir»! Wir Vertreter und Lehrer der bekennenden, der kämpfenden und leidenden, der nach Gottes Wort reformierten Gemeinden! Wohl und recht: Wir glauben zu dem, was wir hier tun, berufen und befohlen zu sein. Wir glauben an unseren Auftrag und damit an unsere Rechtfertigung und an Gottes Segen zu unserem Tun. Wir haben manche ermutigende und stärkende Erfahrung hinter uns. Wir haben für uns das Vertrauen und die Erwartung von Tausenden und Tausenden in Deutschland und in allen Ländern. Wir haben gewiß alle das Bewußtsein, in einer trotz allem großen und schönen Zeit der Kirche leben und mittun zu dürfen. Kurz: wir haben Anlaß, dankbar zu sein und entschlossen zu handeln. Aber wir kennen auch die ganze schreckliche Bedrohtheit unserer Lage: Was bedeutet es inmitten des heutigen deutschen Geschehens, daß es in Deutschland auch ein paar hundert reformierte Gemeinden gibt? Wieviele oder wie wenige von denen, die uns heute regieren, mögen sich auch nur fünf Minuten Zeit genommen haben, um sich über unser reformiertes Wesen und Wollen auch nur gewisse Kenntnisse zu verschaffen? Was können, was werden wir ausrichten in einem Bereich, in dem angeblich nur Eines gelten und herrschen soll, und dieses Eine ist, wie man sich auch dazu stelle, sicher nicht das, was uns am Herzen liegen muß? Was können wir, was wollen wir angesichts der Tatsache, daß wir selbst doch keineswegs die schlechterdings einige, mutige, glaubende Schar sind, die wir in dieser Zeit sein sollten, angesichts der tiefen Unsicherheit, die doch immer noch und immer wieder auch in unseren innersten Reihen sichtbar wird? «Wir Reformierten!» O wir haben allen Anlaß zu erschrecken, wenn wir deutschen Reformierten von 1934 uns hier in die Augen sehen. Aber eben diesem «Wir» gegenüber ist es nun – und das ist des Herrn Barmherzigkeit – aufgerichtet und soll es aufgerichtet bleiben: Ich bin der gute Hirte. Wir werden in dieser Zeit und wir werden auch in diesen zwei Tagen unseres Konventes genau so viel sein und vermögen, als wir dieses Ich! als wahr und gültig und verpflichtend in den Ohren haben. Gegen dieses Ich! wird kein äußerer Druck, unter dem wir stehen, ewas vermögen; keine Menschenmacht, keine Kirchenmacht und Staatsmacht wird dagegen aufkommen. Aber auch unsere innere und innerste Problematik, unsere ganze Zwiespältigkeit zwischen reformiertem Sein und reformiertem Schein wird dagegen nicht aufkommen. Ich bin der gute Hirte! – damit ist uns gesagt, daß unsere Sache nicht unsere Sache ist, daß sie gegen alle, die sie anfechten oder verachten mögen, aber vor allem auch gegen uns selbst – und damit dann wahrlich auch für uns – von einem ganz anderen Mann getragen, gelenkt und ausgefochten wird, dem wir bloß treulich auf die Hände zu schauen brauchen [vgl. Ps. 123,2], um unserer Sache, wende sie sich, wie sie wolle, ganz sicher zu sein. Aber wohlverstanden: gegen dieses Ich! kann und darf auch nicht aufkommen unsere Einsicht, unser guter Wille und unser reformiertes Selbstbewußtsein. Es kann an einem reformierten Konvent – wir müßten sonst sehr merkwürdige Schüler Calvins sein – gewiß nicht darum gehen, im Gedanken an unsere Ohnmacht die Augen zu schließen und die Hände sinken zu lassen. Es kann aber an einem reformierten Konvent noch weniger darum gehen, nach unserer politischen und kirchenpolitischen Weisheit das Mysterium des historischen Augenblicks entschleiern und ihm möglichst große Erfolge entreißen zu wollen. Es kann sich nicht darum handeln, daß wir unserer Sache, unserer reformierten Sache nach irgend einem vorgefaßten Bild, das wir uns von ihr gemacht haben, zu dem Glanz und zu dem Durchbruch oder auch nur zu der Rettung verhelfen, die wir ihr wünschen. Es kann sich überhaupt, trotz jenes trefflichen Wortes von Zwingli, nicht darum handeln, daß wir etwas Tapferes und womöglich Siegreiches tun. Ich bin der gute Hirte. Wer sich dessen trösten will – und das dürfen und sollen wir –, der muß sich dadurch auch warnen – und nicht nur warnen: er muß sich dadurch auch bis in den Grund seines christlichen Gewissens hinein richten lassen. Wir sind ganz zweifellos keine guten Hirten. Jesus Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Es gehört zu dem vielen Befremdlichen im römischen Katholizismus, daß er es wagt, ausgerechnet dieses Evangelium auf den heiligen Petrus, auf das Papsttum, auf die Kirche zu deuten. Als ob nicht gerade in diesem Evangelium der Kirche gesagt würde, daß sie einen Herrn – nicht aber selber Herrschaft auszuüben hat! Als ob der Mensch – und wäre er der kirchliche, ja der apostolische Mensch – als solcher nicht immer der Mietling wäre [vgl. Joh. 10,12], der im entscheidenden Augenblick gewiß versagt! Als ob der Mensch sich selber gehörte und also sich selber recht weiden könnte! Sind wir hier Kirche, dann können wir schlechterdings nur hören: Ich bin der gute Hirte. Alles Tun aber, aller Gehorsam, wenn er wirklich Gehorsam ist, kann nur aus diesem Hören kommen.