Thomas Frings, Sind Volkskirchen wünschenswert?: „Wer immer noch eine Volkskirche wünscht, setzt sich dem Verdacht aus, dass er mehr Interesse hat an vergangener Größe, ehemaligem Einfluss denn an der Wirksamkeit des Evangeliums.“

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Image by A_Different_Perspective from Pixabay

In der heutigen Ausgabe von Publik Forum ist ein Text von Thomas Frings, Autor von »Aus. Amen. Ende. So kann ich nicht mehr Pfarrer sein« unter die Überschrift „Sind Volkskirchen wünschenswert“ gestellt. Darin schreibt Frings:

Sind Volkskirchen wünschenswert?

Die Kirchen versuchen, dieses Bild zu wahren. Das ist verständlich, widerspricht aber dem Evangelium

Von Thomas Frings

Eine Bemerkung vorab, um Missverständnisse auszuschließen: Natürlich sind Volkskirchen in dem Sinn wünschenswert, dass möglichst viele Menschen sich von der Botschaft Jesu Christi begeistern lassen und ihr Leben danach ausrichten! Alles andere würde heißen, dass Kirche und Menschen besser nebeneinander existieren sollten oder dass Kirche ein Geheimbund ist, der sich von der Welt abkapseln will. Das Selbstverständnis von Kirche resultiert aus dem Auftrag Jesu und der Überzeugung der Apostel, die sich gesandt wussten bis an die Grenzen der Erde. Das Ziel sind daher immer alle Menschen, nicht viele, nicht einige und auf keinen Fall nur wir selber. Doch wie groß muss eine Gemeinschaft sein, um sich die Bezeichnung »Volks…« zu verdienen?

Solange CDU/CSU und SPD bei den Wahlen um die vierzig Prozent der Stimmen bekamen, wurden sie als Volksparteien bezeichnet. Davon sind beide inzwischen weit entfernt. Dass sie sich dennoch so bezeichnen, liegt daran, dass die Wahlergebnisse der anderen noch schlechter sind. Aufgeben will man den Titel unter keinen Umständen, weil daran Bedeutung und Ak­zeptanz geknüpft sind. Und er wird auch nicht vorschnell denen verliehen, die inzwischen größer geworden sind, denn nicht allein die Zahl, sondern nur die Verbindung von Größe und Geschichte verleiht diesen »Ehrentitel«.

Bis zur Wiedervereinigung gehörten über achtzig Prozent der Deutschen der katholischen oder der evangelischen Kirche an, also einer der beiden Volkskirchen, die diese Bezeichnung eigentlich nur im Plural verdienen. Inzwischen nähern sich die Christen in Deutschland unauf­haltsam der Fünfzig-Prozent-Marke. Wie lange kann man beanspruchen, Volkskirche zu sein, wenn sich die Gruppe der Konfessionslosen der Vierzig-Prozent-Marke nähert? Sie werden bald die größte Gruppe im Staat sein, wenn auch unorganisiert und ohne religiös-weltanschau­liches Bekenntnis.

Ich bin noch in volkskirchlichen Strukturen aufgewachsen. 1987 wurde ich mit 16 Mitbrüdern zum Priester geweiht. Damals war dies eine beklagenswert geringe Zahl. Heute würde sie Be­geisterungsstürme hervorrufen. Wenn ich hier Priesterzahlen nenne, dann aus dem einzigen Grund, um darauf hinzuweisen, dass die (volks-)kirchlichen Strukturen unter anderem stark am Priesterberuf hängen. Schwindender Nachwuchs wurde zunächst kompensiert durch Pas­toralreferentinnen und Pastoralreferenten. Aus einer Priesterkirche wurde langsam eine Hauptamtlichenkirche. Wer das nicht glaubt, besuche eine Pfarrgemeinde, in der bekanntge­geben wurde, dass es zukünftig keine Hauptamtlichen mehr vor Ort geben wird. »Die Kirche zieht sich aus der Fläche zurück!«, lautet die Klage. Diese Redewendung verweist auf ein lan­ge gut funktionierendes Modell, aber auch auf ein problematisches Kirchenbild. Denn es wer­den bezahlte Kräfte und nicht die Getauften als »Kirche« bezeichnet. Doch der Verlust gesell­schaftlicher Relevanz von Kirche ging dem Schwund bei Priestern und Pastoralreferen­tinnen voraus! Wer also darauf hofft, dass mehr Personal die Lösung sei, ist getrieben von einer blin­den Angst vor Veränderung.

Was aber bedeutet es, wenn das Beleben kirchlicher Strukturen von immer weniger Getauften mitgetragen wird? Wie sehr dürfen die Hauptamtlichen nur »Hirten« der Getauften sein, wie sie es bei einer flächendeckenden Kirchlichkeit unhinterfragt sein konnten? Müssen nicht viel­mehr alle Getauften zu »Arbeitern im Weinberg« werden? Veränderung kann nicht nur hei­ßen, dass Getaufte ehrenamtlich Aufgaben übernehmen, für die es bisher bezahlte Kräfte gab, sondern dass sie auch entsprechend mehr Einfluss bekommen.

Doch wie viel Mühe steckt man immer noch in das Aufrechterhalten von Strukturen? Wie viel investiert man in traditionelle Seelsorge, die oft mehr zu einer Sorge um die Tradition gewor­den ist? Ein Beispiel: Nahezu alle katholischen Drittklässler werden bei der Erstkommunion­vorbereitung zur Beichte geführt. Aber zwischen fünfzig und achtzig Prozent der hauptamt­lichen Seelsorgerinnen und Seelsorger beichten selber nicht. Das belegt eine Studie. Bei den Eltern der Erstkommunionkinder dürfte die Zahl noch weit darüber liegen. Man kann also im übertragenen Sinne sagen, dass Menschen, die wenig bis gar nicht lesen, versuchen, Kindern das Lesen beizubringen. Und obwohl die Quote der religiösen Analphabeten seit Jahrzehnten steigt, wird an dem Programm bestenfalls der Schrifttyp geändert. Der Grund ist die volks­kirchliche Sehnsucht. Nach dem Motto: »Dann waren alle wenigstens einmal da!«, hofft man, [31] dass die »Saat« später aufgehen werde, obwohl sich dies seit Jahrzehnten nicht erfüllt hat. Trotzdem hält man lieber daran fest, statt etwas Neues zu wagen, von dem man natürlich vorher nicht weiß, ob es gelingt. Wenn Wunsch und Wirklichkeit im kirchlichen Milieu nicht übereinstimmen, dann muss das an der Wirklichkeit liegen, denn der Wunsch ist ja richtig. Niemand verstehe dies als Aufruf, Sakramente aufzugeben. Wenn diese aber fast nur noch traditionellen Wert besitzen und nicht dem Leben dienen, muss man fragen, ob das Modell Volkskirche mehr gespielt als gelebt wird.

Wenn auch niemand sich ernsthaft eine Staatsreligion oder einen Gottesstaat wünscht, so klingt bei dem Wunsch nach Volkskirche doch die Hoffnung an, man könnte aus eigener Kraft etwas Ähnliches sein. Doch wenn nur noch der Staat den Schutz der christlichen Feier­tage garantiert, weil diese aus eigener Kraft nicht mehr gelebt und belebt werden, dann kommt irgendwann der Hinweis der religionsfremden Mehrheit: Wollt ihr als bedrohte Spezies nicht lieber in ein Reservat umziehen?

Ein anderes Beispiel ist das Arbeitsrecht: Selbst wenn die Kirche als Arbeitgeber vor welt­lichen Gerichten den Prozess im Streit gegen ihre eigenen Mitglieder oft gewinnt – in den Augen vieler verliert sie gerade dadurch an Überzeugungskraft.

Der Wunsch, alles solle wieder so werden, wie es war, verklärt mir die Vergangenheit zu sehr. Er betont zu stark die Sorge um die Zukunft. Niemand, der groß war, gesteht sich gerne per­manentes Schrumpfen ein. Wer einst stark und einflussreich war, versucht dieses Bild mög­lichst lange aufrechtzuerhalten. Als Napoleon der Kirche ihre weltliche Macht nahm, brach für diese eine Welt zusammen, nicht jedoch sie selber. Vielmehr entstand eine neue Form von Kirche, wohin diese sich aus eigener Kraft nie hätte entwickeln können. Als siebzig Jahre spä­ter der Papst den Kirchenstaat verlor, erschien dies als ein Desaster. Aus heutiger Sicht stellen sich beide vermeintlichen Katastrophen als Segen heraus.

Kirche ist keine Gemeinschaft, die um ihrer selbst willen existiert. Sie hat eine Botschaft für die ganze Welt. Ihr Ziel sind alle Menschen! Aber woran misst sie ihre Wirksamkeit? Laut der Statistik gab es in Deutschland den höchsten Gottesdienstbesuch und die meisten Seminaris­ten 1938. Wer wollte behaupten, dass die Volkskirchen dem drohenden Unheil Einhalt gebo­ten hätten? Hätten alle Christen so konsequent gehandelt wie die verschwindend kleine Zahl der Zeugen Jehovas, die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Wer in unseren Breiten nach den Veränderungen der vergangenen siebzig Jahre immer noch eine Volkskirche wünscht, setzt sich dem Verdacht aus, dass er mehr Interesse hat an vergangener Größe, ehe­maligem Einfluss und Aufrechterhaltung einer vertrauten Struktur denn an der Wirksam­keit des Evangeliums.

Ja, auch mir fehlt manches aus volkskirchlichen Tagen, denn ich liebe Traditionen. Auch wenn ich Kunstgeschichtler bin, mein Herz hängt doch ein Quäntchen mehr am Evangelium als an den Steinen. Und ich glaube, dass die oft so vage Botschaft des Evangeliums tragfä­higer ist als die gebaute(n) Kirche(n). Der Optimist hat zu wenig Informationen, der Pessi­mist zu wenig Gottvertrauen (und Humor). Der Realist aber ist ein Freund der Gegenwart und traut seiner Zeit zu, diese gut zu gestalten. Wer mit dem Blick zurück in die Zukunft geht, stolpert leicht. Im Wissen um eine wechselhafte Geschichte vertraue ich auf die Kraft des Evange­liums für eine sich stets verändernde Zukunft. Ich glaube an Auferstehung, nicht an Wieder­belebung!

Thomas Frings, geboren 1960, war Pfarrer in Münster. Autor der Bücher »Aus. Amen. Ende. So kann ich nicht mehr Pfarrer sein« und »Gott funktioniert nicht«.

Publik-Forum, Nr. 7, 5. April 2019, S. 30f.

Hier der Text als pdf.

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