Dietrich Bonhoeffers Konfirmationspredigt von 1932 über Jakobs Kampf am Jabbok (Genesis 32,25-32): „Ihr müßt wissen, wir alle müssen in unserem Leben immer wieder in die Nacht und durch die Nacht zum Tag.“

Dieter Groß - Der Jakobskampf
Dieter Groß – Der Jakobskampf

Jakobs Kampf am Jabbok ist kein klassischer Predigttext für einen Konfirmationsgottesdienst. Aber den 50 Konfirmanden der Zionskirche im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, die Bonhoeffer seit November 1931 unterrichtete, kam der Text nahe. Schließlich hatten sie ja von klein auf gelernt, sich im Leben durchzuschlagen.

Konfirmationspredigt zu Genesis 32,25-32; 33,10

Von Dietrich Bonhoeffer

Gen 32,25-32; 33,10: Und Jakob blieb allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgen­röte anbrach. Und da er sah, daß er ihn nicht übermochte, rührte er das Gelenk seiner Hüfte an; und das Gelenk der Hüfte Jakobs ward über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du seg­nest mich denn. Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft, und bist obgelegen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragest du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob hieß die Stätte Pniel; denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen. Und als er an Pniel vorüber kam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte. Jakob ant­wortete: Ach, nicht! Hab‘ ich Gnade gefunden vor dir, so nimm mein Geschenk von meiner Hand; denn ich sah dein Angesicht, als sähe ich Gottes Angesicht; und laß dir’s Wohlgefallen von mir. [409]

Liebe Konfirmanden!

Als ich in der letzten Zeit vor der Konfirmation euch immer wieder einmal fragte, was ich euch in der Ansprache bei der Konfirmation sagen solle, da kam mehrfach die Antwort: Wir wollen eine ernste Mahnung fürs Leben haben. Und ich kann euch versichern, wer heute gut zuhört, der bekommt manche sehr ernste Mahnung zu hören. Aber seht, ernste Mahnungen gibt uns das Leben heute selbst genug, übergenug. Und darum darf ich euch heute nicht den Blick in die Zukunft noch schwerer und dunkler machen, als er schon ist. Und ich weiß, man­che von euch sehen schon eine ganze Menge von den Wirklichkeiten des Lebens. Es soll euch heute nicht Angst gemacht werden vor dem Leben, sondern Mut. Darum werden wir heute in der Kirche mehr denn je von der Hoffnung reden müssen, die wir haben und die euch keiner rauben darf.

Wenn ich euch heute ansehe, so ist es mir, als sähe ich eine Schar von jungen Wanderern vor mir, die nach langer Wanderung vor einem großen verschlossenen Tor angekommen sind und nun anklopfen und Einlaß begehren. Sie kennen irgendwoher dies Tor und diese Mauer. Es kommt ihnen irgendwie heimatlich vor. Macht auf! Wir wollen sehen, wie es da drinnen aus­sieht. Wir wollen hinein! So rufen die Stimmen und klopfen an das Tor. Die einen etwas muti­ger, etwas beharrlicher, die anderen etwas schwächer; und darunter auch wohl einige, die [410] sich nur so haben mitschleppen lassen. Aber nun sind sie einmal da und hinein wollen sie alle.

Was ist das für ein sonderbares Tor? Und was ist das für ein sonderbares Land, das dahinter liegt? Es ist allerdings ein sonderbares Land, in das diese jungen Wanderer hinein wollen. Es ist das Land, von dem erzählt wird, daß es Frieden und Liebe und Gerechtigkeit darinnen gibt; das Land, in dem es keine Not und keine Tränen mehr gibt, weil da ein wunderbarer Herr re­giert. Es ist das Land der Verheißung, das gelobte Land, das Land, in dem Gott herrscht.

Ja wer hat euch denn – so möchten wir vielleicht fragen – auf diesen tollen Gedanken ge­bracht, daß es so etwas gäbe wie ein solches Land? Und ihr werdet antworten: Ihr selbst, ihr, die christliche Gemeinde und ihr Pfarrer, und zuletzt der, der uns alle besucht, Jesus Christus. Noch sind wir ratlos, was wir anfangen sollen. Noch wissen wir nicht, wie das ausgehen soll. Wie sollt ihr durch dies Tor hindurchkommen und wie werdet ihr das Land hinter dem Tor finden?

Und nun blicken wir auf die Geschichte, die ich euch vorgelesen habe. Seht, da geht es Jakob ganz genauso, wie es euch heute geht. Er war hier einst aus dem Land Kanaan, aus dem ge­lobten Land, dem Land, das Gott seinen Vätern und ihm gegeben hatte, geflohen vor dem Zorn seines Bruders. Dann hatte er Jahre seines Lebens in der Fremde zugebracht. Aber nun zieht es ihn zurück. Er will in die Heimat. Er will zurück ins gelobte Land der Verheißung. Er will ins Land, in dem Gott der Herr ist und kein anderer. Und er will zu seinem Bruder und Frieden mit ihm machen. Er will ins Land Gottes. Wollt ihr das nicht auch?

Und nun freilich widerfährt ihm etwas Merkwürdiges. Es ist Abend geworden, der letzte Abend in der Fremde. Er, Jakob, weiß, der Bruder und das gelobte Land ist nah, morgen wird er in der Heimat sein. Nun ist es Nacht. Und er bleibt allein am Fluß. Noch wenige Stunden, dann wird es Morgen, dann wird [411] er hineinziehen in die Heimat. Aber da spürt er, daß er plötzlich überfallen wird. Es tritt ihm einer in den Weg. Ja, er umfaßt ihn, er ringt mit ihm, er will ihn nicht loslassen, er will ihn niederzwingen. Jakob soll nicht ins verheißene Land zu­rückkehren. Er soll nicht den Frieden mit dem Bruder finden. Eine furchtbare, gewaltige Macht tritt dazwischen und verwehrt Jakob den Zutritt, will ihn zurückstoßen in die Nacht, in die Fremde. Bleib dort, wo du herkommst. Du darfst nicht hinein ins Land der Verheißung, du bist ein Fremder, ein Untreuer. Bleib ferne von hier. Und mit Gewalt will der große Unbe­kannte Jakob von sich stoßen in die Nacht hinein. Aber Jakobs Sehnsucht nach dem gelobten Land gibt ihm unerhörte Kräfte und er läßt sich nicht fortstoßen. Er weicht nicht. Er hält den anderen fest umschlungen und nun im Kampfe muß er erkennen, wer sein Gegner ist. Es ist Gott selbst, der sein Land bewacht, der keinen Eindringling hineinläßt; der sein Land heilig hält, der dem Menschen zeigen will, daß man da nicht so einfach und fröhlich und vergnügt hineinziehen kann, sondern daß nur der Heilige und Gerechte die Grenzen dieses Landes überschreitet. Jeder andere, jeder Fremde, jeder Untreue muß fern bleiben, in der Nacht der Einsamkeit und des Bösen. Hört ihr’s und versteht ihr es auch? Man kann nicht so mir nichts, dir nichts ins gelobte Land einziehen. Man kann auch nicht so mir nichts, dir nichts Glied der christlichen Gemeinde werden, das heißt aber zur Konfirmation gehen. Warum denn nicht? Weil da Gott dazwischen tritt und sein Land bewacht und heilig hält und nicht will, daß wir unheilig da hineingehen. Auch euer Weg hier an den Altar heute und übermorgen abend, wenn ihr zum Heiligen Abendmahl gehen werdet, soll ein Weg ins heilige Land sein. Habt acht, daß ihr nicht unheilig euch auf den Weg macht.

Aber wie sollen wir denn heilig werden, daß wir ins Land Gottes einziehen können? Laßt uns auf Jakob sehen. Die Nacht geht dem Morgen zu und noch hält Jakob seinem Gegner stand. Noch läßt er sich nicht abweisen. Noch umfaßt er ihn. Da kommt ein letzter furchtbarer Schlag des Gegners: Laß mich [412] gehen, es wird Tag und ich muß davon. Bleib du in der Nacht! Und nun wächst Jakobs Leidenschaft ins Unermeßliche. Er wagt, Gott zu widerspre­chen, zu trotzen: Nein, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Was heißt das anderes, als daß Jakob es wagt, in Gottes Herz selbst hineinzugreifen: du darfst nicht von mir gehen. Du darfst mich nicht in der Nacht allein lassen, ich kann nicht ohne dich sein. Ich kann nicht. Ich will dein Land sehen und in deinem Land leben. Gott, du läßt mich nicht in der Nacht, in der Sünde, in der Not. Du kannst mich ja nicht allein lassen. Es geht gegen dein Herz. Nein, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Nur eines will ich: Wissen, daß du nicht mein Feind bist, daß du mir nicht mehr zürnst um all des Bösen willen, das ich getan habe in der Fremde; wissen, daß du bei mir bist, daß du mir gnädig bist. Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Und nun weiß er nicht, wie er Gott halten soll, daß er ihn nicht verläßt. Und so fragt er ihn: Sage mir deinen Namen, damit ich [dich] immer anrufen kann, damit ich weiß, wer du bist. Aber Gott antwortet: Warum fragst du nach meinem Namen? Der ist zu wunderbar, als daß du ihn verstehst. „Und er segnete ihn daselbst.“ Das also war die Antwort Gottes, in der er seinen Namen verriet, der kein zorniger, sondern ein gnädiger Name ist – er segnete ihn daselbst. Das heißt, er ließ ihn nicht allein in der Nacht. Er stieß ihn nicht zurück. Er wies ihn nicht ab, sondern er war ihm gnädig. Er ließ sich finden. Er verhieß seine Treue. Er segnete ihn. Das heißt, er ließ ihn hinein ins gelobte Land Gottes. Und Jakob nannte die Stätte Pniel, das heißt: Ich habe Gott von Angesicht gesehen und meine Seele ist genesen. Und in dem Augenblick, da Gott ihn segnete, versank die Nacht, stieg die Morgenröte empor und es ging ihm die Son­ne auf. Er hatte gesiegt über die Nacht. Und Gott hatte es Tag werden lassen über ihm. Es ging ihm die Sonne auf, keine andere Sonne als an jedem Tag und sie schien über ein Land, das nicht anders war als anderes Land. Aber es ging ihm die Sonne auf. Gott war nun da, der machte es hell um ihn und in ihm. Der Tag der Gnade Gottes war angebrochen und die Nacht war [413] vorüber. Jakob stand im gelobten Land; denn er hatte Gott gefunden und seine See­le war genesen.

Aber freilich, die Zeichen der Nacht, die an immer neue Nächte erinnern, waren noch da. Er hinkte an seiner Hüfte, sagt die Bibel. Das heißt, seine Vergangenheit konnte er nicht verges­sen. Es hatte ihn viel gekostet, ins gelobte Land einzugehen, Gottes Segen zu empfangen. Man geht nicht ohne Narben in Gottes Land ein. Habt ihr’s verstanden? In der Nacht, dort wo wir wissen, daß wir vor Gott Sünder sind, wo unsere Not groß wird und Gott sich von uns wenden will, da muß man Gottes Segen erkämpfen. Da sollen wir schreien: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Und dann ist der Morgen nah, dann bricht der Tag an. Dann kommt Gott selbst und macht es hell und still in uns und wir ziehen ein ins gelobte Land. Es sieht nicht anders aus als am vergangenen Tag, aber Gott war da und hat seine Gnade und [seinen] Segen bei uns gelassen und darum sind wir im gelobten Land.

Nun dauert es nicht lange, daß Jakob den Bruder kommen sieht. Und nun, wo Gottes Tag angebrochen ist, sieht er das Angesicht des Bruders nicht als Feind, sondern als „sähe er Got­tes Angesicht“. Er sieht in dem Bruder Gott selbst und seine Liebe. Und der Bruder nimmt ihn auf und er ist in der Heimat, denn er hat Gott und den Bruder gefunden. Versteht Ihr’s recht? Wer Gott gefunden hat, der findet auch den Bruder. Der sieht des Bruders Angesicht, als sähe er Gottes Angesicht. Und wer den Bruder nicht findet, der findet auch Gott nicht. Dazu ist Gott selbst unser Bruder geworden in Christus, daß wir hinter jedem Bruder ihn wiedersehen.

Und nun soll es auch über euch Tag werden. Nicht so, daß nun von morgen an auf einmal al­les glatt und einfach ginge. Sondern so, daß ihr wißt, daß Gott, der euch segnen will, euch nie verläßt. Das ist die Sonne, die Jakob aufgegangen ist, die auch euch aufgeht. Gottes Liebe und Gnade, wie ihr sie in Christus, unserem Bruder und Herrn, seht am Kreuz und in [414] seiner Auferstehung. In der christlichen Gemeinde sollt ihr Gott und den Bruder finden, sollt ihr die Heimat finden, sollt ihr das gelobte Land haben. Hier soll einer der Herr sein und einer dem andern ein Christus werden.

Also ihr müßt wissen, wir alle müssen in unserem Leben immer wieder in die Nacht und durch die Nacht zum Tag. Bei keinem Sterblichen ist’s ewig Tag – ja, wir sehen wohl alle mehr Nacht als Tag, auch darüber dürft ihr euch nicht täuschen. Aber keiner soll euch je den Glauben nehmen, daß Gott auch für euch einen Tag und eine Sonne und eine Morgenröte bereitet hat und daß er uns dieser Sonne zuführt, die Christus heißt: daß er uns das gelobte Land sehen lassen will, in dem Gerechtigkeit und Friede und Liebe herrscht, weil Christus herrscht, hier nur von fern, einst aber in Ewigkeit. Warum sollen wir uns fürchten? Nur hinein, hindurch! Gott, Christus ist der Herr, die Gemeinde unsere Heimat.

Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Ist Gott für uns, wer will wider uns sein?

Gehalten am Sonntag Lätare, 13. März 1932 in der Zionskirche im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg.

Quelle: Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 11: Ökumene, Universität, Pfarramt: 1931-1932, hrsg. v. Eberhard Amelung u. Christoph Strohm, München: Chr. Kaiser Verlag 1994, S. 408-414.

Hier der Text als pdf.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s