„Es hätte keinen Sinn mehr, sondern es könnte die theologische und kirchliche Öffentlichkeit nur noch irrefüh­ren und verwirren, wenn wir fernerhin nach außen eine Gruppe und Front darstellen wollten“ – Karl Barths Abschied von „Zwischen den Zeiten“ (vollständiger Text)

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Abschied von „Zwischen den Zeiten“

Von Karl Barth

Als wir im Herbst 1922 „Zwischen den Zeiten“ begründeten: Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen und ich mit Georg Merz als Schriftleiter, da waren wir uns, wie wir meinten, leidlich einig in dem, was wir wollten: im Gegensatz zu der positiv-liberalen oder liberal-positiven Theologie des Neuprotestantismus des Jahrhundertanfangs mit dem Menschgott, den wir als deren Heiligtum erkannt zu haben meinten, eine Theologie des Wortes Gottes, wie sie sich uns als jungen Pfarrern von der Bibel her allmählich als geboten aufgedrängt hatte und wie wir sie bei den Reformatoren vorbildlich gepflegt fanden. (Der Name „dialektische Theologie“ ist uns noch im selben Jahr von irgend einem Zuschauer angehängt worden.) Es konnte nun schon nach der Vollendung weniger Jahrgänge unserer Zeitschrift keinem Kundi­gen verborgen bleiben, daß das Verständnis jenes stillschweigend vorausgesetzten Programms insbesondere bei Gogarten und mir ein nicht unerheblich verschiedenes war. Aber man konnte sich eine gute Weile dabei beruhigen und sogar daran erfreuen, daß es wohl ein Zeichen von Bewegung und Reichtum in unserem Kreise sein möchte, wenn man den Einen fast dauernd mit den philosophischen bzw. ethischen Grenzfragen der angeblich gemeinsamen Aufgabe, den Anderen fast ebenso dauernd mit Theologiegeschichte und Dogmatik beschäftigt sah. Schwebte nicht schon in der allerersten Zeit die Frage in der Luft: Warum versäumst du die notwendige Bereinigung der Voraussetzungen? Und die Gegenfrage: Wann wirst du endlich, endlich zur Sache kommen? Doch warum sollte es nicht ganz interessant und nützlich sein, sich gegenseitig so zu fragen und fragen zu lassen? Und wenn man mit den vorrückenden Jahren immer öfter so etwas wie gelegentliche implizite oder auch explizite Polemik herüber und hinüber wahrzunehmen bekam, wenn die anthropologische Richtung des Einen mit der Zeit so unverkennbar wurde wie die theologische des Andern wenn dann scheinbar oder wirk­lich unabhängig von diesem Gegensatz, oder auch in bewußter Anteilnahme an der einen oder anderen Seite, Dritte und Vierte und Fünfte hinzutraten und, vermeintlich immer auf dem gemeinsamen Grundton, ihr besonderes Lied mehr oder weniger vortrefflich, erbaulich und lehrreich [537] dazwischen sangen – nun, dann konnte und durfte das Alles in all diesen gei­stig bewegten aber nicht eben zu Entscheidungen herausfordernden Jahren wohl so sein. Die vor fünf Jahren einmal gefallene Behauptung eines jüngeren Frechlings: daß die Führer der dia­lektischen Theologie unter sich so uneins seien wie die chinesischen Revolutionsgenerale, konnte als nicht übler Witz belacht und beiseite gelegt werden. Die vorhandenen und uns nicht unbewußten Spannungen wurden ertragen, weil sie nicht unerträglich waren und sie wurden von manchen Lesern offenbar nicht nur ertragen, sondern wegen des mannigfaltigen und gerade so anregenden Inhalts, den die Zeitschrift von daher zu bekommen schien, hochge­schätzt. Georg Merz aber, durch Natur und Gnade in gleicher Weise gerade zu solchem Amt ausgerüstet, hat in oft mühsamer und immer entsagungsvoller Arbeit, ermunternd und ausglei­chend, wo es Not tat und auch aus seinem Eigenen aufs glücklichste ergänzend, die entstan­dende Gruppe in immer neuen Formationen aufgestellt und vorgeführt. Und auch unser Herr Verleger konnte von seinem besonderen Ort aus mit dem Gang der Ereignisse gewiß nur zu­frieden sein. Es hätte vielleicht noch lange so weitergehen können.

Die Frage, ob es in Ehren so weitergehen dürfe, hat mich in akuter Weise zum ersten Mal jetzt vor einem Jahr und dann den ganzen letzten Winter hindurch beschäftigt. Die Leser des ersten Halbbandes meiner Dogmatik wissen um die Frage, die ich dort an Gogarten richten zu müs­sen meinte – der Text S. 128 f. stammt schon aus dem Sommer 1931 und ist Gogarten damals sofort mitgeteilt worden – die Frage: inwiefern sich seine anthropologische Unterbauung der Theologie nun eigentlich von der natürlichen Theologie des Katholizismus und des Neuprote­stantismus noch unterscheiden möchte? Eine Antwort darauf habe ich nie erhalten. Es erschie­nen aber auf dem Hintergrund der inzwischen veröffentlichten „Politischen Ethik“ in ZZ 1932 die Aufsätze „Staat und Kirche“ und „Schöpfung und Volkstum“, die mich im Lichte jener unbeantworteten Frage mit einer nicht mehr zu unterdrückenden Bekümmerung erfüllten. Wohin, wohin ging die Entwicklung, die, mit den Untersuchungen über den echten Begriff der Geschichte begonnen, über die Lehre vom Du und Ich zu dem immer massiver werden­den Dogma von den Ordnungen geführt hatte? In welcher Meinung wohl, so fragte ich mich jetzt schon rückblickend, hatte Gogarten bereits seiner „Religiösen Entscheidung“ von 1921 das Thomaswort: Gratia non tollit naturam sed perficit vorangestellt? Es kam dazu, daß ich in und außerhalb unserer Zeitschrift den ebenfalls zu unserer Gruppe gerechneten Emil Brunner eine Theologie treiben sah, die ich immer mehr nur noch als eine unter neuen Fahnen vollzo­gene Rückkehr zu den – so wie ich unseren gemeinsamen Ausgang verstanden hatte – mit Ernst verlassenen Fleischtöpfen des Landes Ägypten, nämlich zu dem neuprotestantischen, bzw. katholischen Schema“ Vernunft und Offenbarung“, wie es im Protestantismus zum er­sten Mal von der sog. „vernünftigen Orthodoxie“ an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert offen proklamiert worden ist, beurteilen konnte. Ich sah aber auch mit Befremden, daß die Schar unseres engeren und weiteren Leserkreises und nicht zuletzt unser Schriftleiter sich durch den immer offenkundiger werdenden Zwiespalt durchaus nicht zu einer Entscheidung aufgerufen zu fühlen, ja, daß sie den Zwiespalt überhaupt nicht so sehr zu empfinden schie­nen, sondern daß sie sich immer wieder ebenso gern gefallen ließen, durch meine Manifeste so faßte man es ja wohl auf – im Sinn des zweiten und dritten Artikels aufgerufen zu werden, wie durch die von Gogarten im Sinn des ersten Artikels eine Art Rückversicherung zu erhal­ten. In der vor einigen Jahren in den Verlag Chr. Kaiser übernommenen mehr volkstümlichen Zeitschrift „Christentum und Wirklichkeit“ sah ich es erst recht anschaulich zum Vorschein kommen, in welcher Dosierung und Mixtur man in Franken und in anderen mittleren Gegen­den die vor 10 Jahren viel zu laut gepriesene Neuentdeckung „biblisch-reformatorischer Ein­sicht“ zu verste­hen und an den Mann zu bringen gedachte. Ich fragte mich in gewissen Stun­den des letzten Winters fast verzweifelt, ob denn die so entstehende Limonade nun wirk­lich der Arbeit und der Kämpfe wert sein möchte, die wir an die Aufgabe einer Erneuerung des theologischen Denkens und der kirchlichen Verkündigung seit nahezu 20 Jahren gewendet zu haben mein­ten. Es war mir ein Trost zugleich und eine Beunruhigung, von dem einen Eduard Thurneysen immer wieder bestätigt zu hören, daß er meine Sorge teile und daß jedenfalls wir zwei es ur­sprünglich anders gemeint hatten als so. Ich dachte aber noch immer, nach einer zu Beginn des laufenden Jahrgangs eingeführten leisen Veränderung in der äußeren Aufmachung der Zeitschrift könnte ich mit gutem Gewissen, nämlich in der immerhin nicht unmöglichen Hoff­nung auf neue Entwicklungen innerhalb des ganzen Kreises in diesem Kreis insofern mit drin­stehen, als ich meine Arbeiten nach wie vor, in der Erwartung, mindestens auch gehört zu werden, in diese nun einmal [539] aufmarschierte Reihe stellte. Es war eben doch noch immer Friedenszeit, in welcher es als erlaubt oder sogar geboten erscheinen konnte, in solchen Fra­gen der Taktik fünf gerade sein zu lassen. Aber die letzten Monate dieser Friedenszeit sind für mich wahrhaftig nicht mehr schön gewesen.

Irgendeinmal im Lauf dieses Sommers las man dann im „Deutschen Volkstum“ das Bekennt­nis Gogartens zu dem Stapelschen Theologumenon, daß das Gesetz Gottes für uns identisch sei mit dem Nomos des deutschen Volkes. Daß Gogarten sich wenig später mitsamt seiner Umgebung auch kirchenpolitisch an die Seite von Ludwig Müller und Joachim Hossenfelder stellte, war und ist mir verhältnismäßig nebensächlich neben der Tatsache jenes von ihm in der Schrift „Einheit von Evangelium und Volkstum?“ S. 18 und 23 in aller Form wiederholten Bekenntnisses. Gogarten hat sich mit diesem Satz die entscheidende These der Deutschen Christen zu eigen gemacht. Es ist hier nicht der Ort, diese These zu diskutieren. Ich anerkenne ohne weiteres, daß Gogartens ganzer Weg ihn in höchster Folgerichtigkeit dazu führen mußte, sie gutzuheißen. Sie und sein Beitritt zu der „Glaubensbewegung“ ist nur der unzweideutige Ausdruck dessen, was er immer gemeint und gewollt hat. Post eventum kann und muß man wirklich sagen: es ist nichts selbstverständlicher als dies, daß es mit ihm dahin kommen muß­te. Es ist nun „aus dem Faß“, wie Luther zu sagen pflegte. Ebenso folgerichtig ist aber auch von meiner Seite die glatte, zornige Ablehnung jener These. Ich habe bei dem, was wir da­mals am Anfang der zwanziger Jahre gemeinsam zu bekämpfen schienen, immer gerade auf das gezielt, was jetzt in der Lehre, in der Mentalität und Haltung der Deutschen Christen in geballter Form auf dem Plane steht. Ich kann in den Deutschen Christen nichts, aber auch gar nichts anderes sehen als die letzte, vollendetste und schlimmste Ausgeburt des neuprotestanti­schen Wesens, das die evangelische Kirche, wenn es nicht zu überwinden ist, romreif machen muß und wird. Ich halte den Stapelschen Satz über das Gesetz Gottes für den vollzogenen Verrat am Evangelium. Ich meine, daß dieser Satz nun doch wieder und viel schlimmer, weil viel grundsätzlicher und viel konkreter als in der Ära Harnack-Troeltsch, die Aufrichtung des Menschgottes des 18. und 19. Jahrhunderts bedeute. Gogarten wird sich über mich so wenig wundern wie ich mich über ihn wundere. Die Sonne hat es ja bei mir wie bei ihm nur an den Tag gebracht. Wir sind jetzt beide klüger als wir vor dreizehn [540] Jahren oder noch vor einem Jahr waren. Das muß aber heißen: wir sind nun geschiedene Leute. Es hätte keinen Sinn mehr, sondern es könnte die theologische und kirchliche Öffentlichkeit nur noch irrefüh­ren und verwirren, wenn wir fernerhin nach außen eine Gruppe und Front darstellen wollten. Gogarten steht dort, wo E. Hirsch, wo Wobbermin, wo H. M. Müller, wo Fezer und Schu­mann, wo sie alle, alle stehen. Wer aber dort steht, mit dem kann und will ich nicht einmal scheinbar in einer Gruppe zusammenstehen und zusammenarbeiten. So wenig wie der Apostel Johannes, wenn die Nachricht stimmt, mit Kerinth zusammen in einer Badeanstalt sein wollte. Trotz oder gerade wegen seines: „Kindlein, liebet euch untereinander!“

Das ist meine Entscheidung hinsichtlich Gogartens und der Deutschen Christen. Ich nehme an, daß Gogarten selbst sie wenigstens formal verstehen und billigen wird. Sie ist aber nicht die Entscheidung des Schriftleiters und des Verlegers und sie ist, wenn nicht alles täuscht, auch nicht die Entscheidung des größeren Teiles der Leserschaft von ZZ. Ihre Entscheidung geht dahin, daß die kirchliche Krise dieses Jahres für ZZ keine Entscheidung notwendig ma­che, daß die Sonne in unserem Kreise nichts an den Tag gebracht habe, daß theologische Auf­sätze auf der Basis jenes Stapelschen Satzes fernerhin ruhig neben einem Aufsatz wie etwa dem von mir über das erste Gebot in ZZ stehen und gelesen werden könnten, kurz, daß, als wäre nichts geschehen, in ZZ alles so weitergehen könne wie bisher. Das klassische Doku­ment dieser Entscheidung für die Nicht-Entscheidung war das Heft 4 dieses Jahrgangs. Auf Grund dieser Entscheidung muß ich meine Mitarbeiterschaft an ZZ als abgeschlossen anse­hen. In einer Zeit wie der jetzigen, wo das Feld der Theologie und Kirche aus einem bloßen Manöverfeld zum Kriegsschauplatz geworden ist wie in den Zeiten, um die wir bis jetzt vor­wiegend aus den Büchern wußten – in einer solchen Zeit müßte ich für den theologisch-kirchlichen Inhalt einer Zeitschrift, für die ich mich als Mitbegründer dem Inland und Ausland gegenüber haftbar fühle, die Verantwortung voll mitübernehmen können. Das kann ich aber nicht, wenn auch nur ein einziger von den Deutschen Christen oder den ihnen Nahestehenden fernerhin ebenfalls an dieser Zeitschrift mitarbeitet, wenn die Schriftleitung keinen Sinn dafür hat, daß es mit der Gemütlichkeit und Duldsamkeit nun für einmal vorbei sein muß, wenn ich also befürchten muß, im nächsten Heft z. B. irgend eine sanft-kluge Verteidigung des [541] Arierparagraphen auf Grund der Schöpfungsordnungen als einen immerhin auch möglichen Beitrag zur „biblisch reformatorischen Einsicht“ zu lesen zu bekommen. Weil ich das nicht kann und weil Schriftleitung und Verlag ihrerseits auch nicht anders können, darum muß ich von ZZ Abschied nehmen. Georg Merz will, wenn ich ihn recht verstehe, in der Gestaltung von ZZ im Kleinen die Situation wiederholen, die wir nun in der deutschen evangelischen Kirche im Großen vor uns haben: das interessante Nebeneinander von Ja und Nein. Ich meine, daß ZZ dies der „Christlichen Welt“, der „Zeitwende“ oder ähnlichen Organen hätte überlas­sen dürfen. Ich meine, daß der Ort, von dem aus man solche Synthese für möglich hält, ein geschichtsphilosophischer und kein theologischer ist. Ich meine, wahrhaft kirchlich hätte unsere Zeitschrift in der heutigen Zeit nur dann sein können, wenn sie sich als ein bescheide­ner aber nicht zu durchbrechender Damm gegen die deutsch-christliche Überschwemmung bewährt hätte. Da das nicht möglich ist, kann ich, so leid es mir tut, nichts mehr mit ZZ zu tun haben. Ich will lieber gar nicht mehr gehört werden, als der Meinung Vorschub leisten, daß man fernerhin gemächlich mit dem einen Ohr mich und mit dem anderen Gogarten hören könne. Wer das will, der soll heute lieber gleich ganz und gar nur Gogarten hören. – Die Gründung und der Bestand von ZZ war ein Mißverständnis. Ein produktives Mißverständnis, so viel kann und darf man trotz allem schon heute sagen. Könnte man die Wege der Vorse­hung einsehen, so dürften wir vielleicht sogar sagen: ein notwendiges Mißverständnis. Aber auf alle Fälle – der unversöhnliche Gegensatz zwischen Gogartens und meiner Arbeit, wie er nun am Tage ist, und noch mehr das Nichtverstehen zwischen Georg Merz und mir hinsicht­lich des Ernstes jenes Gegensatzes beweist es –  ein Mißverständnis. Mißverständnisse sind dazu da, um beseitigt zu werden. ZZ wird kein Mißverständnis mehr sein, nachdem ich mich davon zurückgezogen habe.

Erklärungen wie die hier abgegebenen pflegen nachher allerlei Deutungen ausgesetzt zu sein, mit denen man sich die Stellungnahme dazu vereinfachen zu können meint. Und wer kann sich wehren gegen Deutungen? Ich darf aber den Deutern – es ist selbstverständlich, daß ich hier weder an Gogarten noch an Georg Merz denke – einige Warnungen mit auf den Weg geben.

Es werden etliche Lust haben, meinen Rücktritt von ZZ wie meine ganze Stellung zu der gegenwärtigen kirchlichen Krise auf [542] den Gegensatz meines reformierten zum lutheri­schen Bekenntnis zurückzuführen. Ich warne. Selbstverständlich bin ich reformiert. Aber der in der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ kulminierende Neuprotestantismus zerstört das lutherische ebensowohl wie das reformierte Bekenntnis. Ein in seiner Weise so guter Lutheraner wie A. F. C. Vilmar hat einst in nicht ganz unähnlicher Lage ebensowenig mit sich markten lassen, wie dies mir jetzt möglich ist. Gute Lutheraner stehen heute nicht bei den Deutschen Christen, nicht bei den Vermittlern zwischen diesen und uns Anderen, sondern entschlossen bei uns Anderen! Und schlechte Reformierte genug stehen ganz oder halb bei den Deutschen Christen. Wenn irgend einmal der Augenblick zur Union zwischen den guten Lutheranern und den guten Reformierten (ich weiß, wie spärlich beide heute gesät sind) näm­lich zur Union in einem neuen Kampfbekenntnis gegen die neueste Gestalt des altbösen Fein­des, gekommen sein sollte, dann heute. Die ernsthaften Fronten laufen heute wirklich durch die Grenzen der beiden überkommenen Bekenntnisse quer hindurch.

Es werden etliche Lust haben, bei diesem Anlaß wieder und wieder Betrachtungen des Inhalts anzustellen, daß hinter meinem theologisch-kirchlichen Urteil entscheidend doch nur mein politisches Denken über die Vorgänge dieses Jahres stehe. Ich warne. Selbstverständlich habe ich darüber meine eigenen Gedanken. Aber wenn ich wirklich von daher zu interpretieren wäre, dann hätte ich wohl schwerlich den deutschen Religiös-Sozialen so gründlich das Kon­zept verdorben, wie dies schon 1919 nach dem unverdächtigen Zeugnis von Leonhard Ragaz geschehen ist, dann hätte meine theologisch-kirchliche Affinität zum Marxismus, Liberalis­mus etc. doch auch in den berüchtigten 14 Jahren irgendwie sichtbar werden müssen, dann müßten in dieser Zeit, und ich füge hinzu: auch in diesem Jahr 1933 meine politisch überwie­gend ganz anders als ich eingestellten Zuhörer irgendetwas von diesem bösen kausalen Zu­sammenhang meiner Theologie gemerkt und sich entsprechend verhalten haben. Man beweise mir diesen Zusammenhang aus meinen Büchern, Aufsätzen und Predigten oder man frage, wenn man will, in Göttingen, Münster und Bonn nach, was ich in all den Jahren getan und nicht getan habe und dann – aber erst dann, setze man, wenn man kann und mag, das Reden über meine politischen Hintergründe fort. Bis dahin werde ich es für ein unter Männern un­würdiges Gerede halten. [543]

Und es werden etliche Lust haben, bei diesem Anlaß nochmals und nochmals darauf hinzu­weisen, daß ich eben ein Schweizer und nicht, wie Hirsch so schön schrieb, „von der Wurzel bis zum Wipfel“ ein Deutscher sei. Ich warne. Selbstverständlich bin ich ein Schweizer, nicht nur halb, sondern ganz, genau so wie ich nun ebenfalls nicht halb, sondern ganz zwölf Jahre lang mein Leben in Deutschland gelebt, meine Arbeit in Deutschland getan habe. Aber es gibt doch auch Schweizer, und zwar in der Schweiz lebende Schweizer, die nicht höher als auf Go­garten schwören und andererseits gute Deutsche, und zwar in Deutschland lebende Deut­sche, die gar nicht daran denken, dies zu tun. Seit wann ist es üblich, den Heimatschein eines Men­schen zum Argument in einer sachlichen Auseinandersetzung zu machen? Was gedenkt man eigentlich in der Sache, um die es heute in Theologie und Kirche geht, mit diesem Argu­ment zu beweisen? Will man etwa mir und so und so viel geborenen Deutschen mit mir ein­reden, das echte Deutschtum fange erst mit dem Arianismus und mit dem Bekenntnis zur natürlichen Theologie an? Ein ernstes verantwortliches Mittragen des deutschen Schicksals müsse sich ausgerechnet in der Kniebeugung vor den Mysterien der Deutschen Christen oder doch in der Respektierung ihres angeblich berechtigten „Anliegens“ erweisen? Ich weiß wohl, in welchem Stück ich ein Schweizer bin und mitten in der deutschen Theologie und Kirche auch total und unentwegt bleiben will – in dem nämlich, was bei dem sehr profanen Gottfried Keller zu lesen steht:

Heil uns, noch ist bei Freien üblich
Ein leidenschaftlich freies Wort!

Und ich meine allerdings, daß ich – wenn denn von meinem Heimatschein durchaus die Rede sein soll – meine Liebe zu Deutschland,meine Zugehörigkeit zu ihm nicht wohl besser bewei­sen kann als indem ich in diesem Sinn mitten in Deutschland aber im Unterschied zu vielen Deutschen ein – Schweizer bin. Man zeige mir, mit welchem Recht man mich deshalb erledi­gen will!

Dies an die Adresse der Leichtfertigen! – Ich weiß, daß auch Ernsthafte, auch Menschen, die sich der erwähnten, törichten Argumentationen enthalten werden, Menschen, die sich auch sachlich, auch gegenüber den Deutschen Christen, auch gegenüber den Vermittlern weithin mit mir eins wissen, über meine schroffe Haltung in der gegenwärtigen kirchlichen Lage und nun auch über diese meine besondere Absage den Kopf schütteln werden. Ich gebe zu, [544] daß es auch im gegenwärtigen Augenblick angesichts der Verschiedenheit der Temperamente und Lebensführungen nicht ohne weiteres Jedermanns Sache sein kann, so scharf zu sein, wie ich es offenbar bin. Wenn man mir nur umgekehrt zeigen könnte, mit welchem inneren Recht man heute weniger scharf sein darf! Bis dahin möge man mir glauben, daß ich nicht nur der Sache, um die es uns allen gehen muß, sondern auch und gerade allen denen, denen es mit dieser Sache Ernst ist, ob sie mich in diesem Augenblick verstehen oder nicht, gerade damit Treue zu halten meine, daß ich jetzt scharf bin und also z. B., da ich ZZ nicht scharf machen kann, von ZZ Abschied nehme. Ich bin der Meinung, daß ich mit dieser Tat manchem deutli­cher sagen kann, was ich sagen möchte, als wenn ich in ZZ im bisherigen Rahmen weitere Worte machen würde. Und ich bin der Hoffnung, daß dieser Schritt einmal auch denen als sinnvoll einleuchten wird, deren letzter Eindruck jetzt doch bloß der sein sollte, daß ich reich­lich – eigensinnig sei.

Meine künftigen Veröffentlichungen werden bis auf weiteres in einer zwanglos erscheinenden Schriftenreihe unter dem Titel „Theologische Existenz heute“ im Verlag Chr. Kaiser Mün­chen erscheinen, die Eduard Thurneysen und ich herauszugeben schon begonnen haben.

Bonn, 18. Oktober 1933

Quelle: Zwischen den Zeiten 11 (1933), Heft 6, S. 536-544.

Hier der vollständige Text als pdf.

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