Gustav Heinemanns Wort an junge heimkehrende Soldaten vom Januar 1946: „Ist unsere heutige Situation des so sichtbaren Herausfallens aus aller gewähnten Größe und aus der Geborgen­heit einer alten stolzen Tradition nicht in Wahrheit Gottes Gnade inmitten des Gerichtes, das über uns gekommen ist, und damit die Brücke hin zu diesem Kind in der Krippe über alle größte und oft so unerträgliche Not hinweg? Denn hier begegnet uns die Gegenwart und Wirklichkeit des lebendigen und schen­kenden Gottes.“

Noch vor der Wahl zum Oberbürgermeister von Essen hatte Gustav Heinemann im Januar 1946 als erster Vorsitzender des CVJM Essen folgendes Grußwort an junge heimkehrende Soldaten geschrieben:

Grußwort an junge heimkehrende Soldaten

Euch jungen Männern, die Ihr den Krieg überstanden habt und nun zurückkehrt, um einen Weg in den Beruf zu finden, Euch gilt ein besonderer Gruß zum Jahreswechsel. Eure Lage ist schwer. Ihr denkt an die Erlebnisse der Schlachten zurück, an Eure gefallenen Kameraden. Ihr seht die Verwüstungen und die Heimatlosigkeit der Millionen, und es wäre unnatürlich, wenn Ihr nicht wie wir alle bis ins Tiefste erschüttert wäret. Aber für Euch hat dieser Zusammen­bruch noch eine besondere Tiefe, weil er zugleich Euer Innerstes erfaßt, Euren Glauben an Euch selbst, an das Deutschland, so wie man es Euch vorstellte, an Eure Ideale und Zukunfts­erwartungen. Sagte man Euch nicht, daß Ihr die besten Soldaten der Welt wäret, daß unser Führer von Gott gesandt sei, daß wir für eine Weltordnung des Rechtes und der Gerechtigkeit stritten, und nun sind wir nicht nur die Geschlagenen, sondern obendrein die Geächteten und von fremden Mächten im Namen des Rechtes unter Anklage gestellten Verbrecher. Fürwahr das deutsche Schicksal ist für Generationen entschieden worden. Aber diese Entscheidung fiel gegen uns aus.

Wie könnte es anders sein, als daß Ihr verwirrt, ja verbittert seid [26] und Euch nun ein Wi­derwille gegen alles erfüllt, was man an Euch herantragen will. Ihr fürchtet, daß Ihr aber­mals die Be­trogenen sein könntet. Diese Furcht ist gesund. Sie entspringt dem Bewußtsein, daß Ihr Euch nichts mehr aufdrängen lassen dürft, was nicht einer letzten Kritik standhält, die Ihr in der Vergangenheit weithin so wenig gekannt habt, und, Gott sei’s geklagt, auch an den älteren Generationen so sehr vermissen mußtet. Woher kann solche Kritik ihren Maßstab ge­winnen? Das vermag Euch niemand im menschlichen Sinne zu beweisen, sondern das kann Euch wie uns allen nur aus dem Evangelium verkündigt werden.

Wir kommen von Weihnachten her. Das Volk Gottes nimmt von hier aus seinen Aufbruch zu der Wanderschaft zwischen den Zeiten. Unser Herr Jesus Christus hat seinen Weg nach Got­tes Ratschluß in der Armseligkeit irdischen Gebundenseins begon­nen. Er ist in dem Stall von Bethlehem zu uns »Armen und Elen­den« in unsere Armut und Finsternis getreten. Wer Ohren hat zu hören, der höre! Ist unsere heutige Situation des so sichtbaren Herausfallens aus aller gewähnten Größe und aus der Geborgen­heit einer alten stolzen Tradition nicht in Wahrheit Gottes Gnade inmitten des Gerichtes, das über uns gekommen ist, und damit die Brücke hin zu diesem Kind in der Krippe über alle größte und oft so unerträgliche Not hinweg? Denn hier begegnet uns die Gegenwart und Wirklichkeit des lebendigen und schen­kenden Gottes. Ach, daß Ihr und wir alle es uns sagen lassen möchten, daß wir gerade in unserer Armut Beschenk­te werden sollen durch das Zerbrechen aller irdischen Werte. Gott lasse Euch und uns alle zu der Gewißheit kommen, daß er uns in Christus ganz nahe ist und unsere so leeren Hände fül­len will mit seiner Wahrheit!

Quelle: Gustav W. Heinemann, Es gibt schwierige Vaterländer … Aufsätze und Reden 1919-1969, hrsg. v. Helmut Lindemann, München: Chr. Kaiser 21988, S. 25f.

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