
Adventspredigt über Lukas 1,53
„Hungrige hat er mit Gütern gefüllt und Reiche leer hinweggeschickt.“ (Lk 1,53)
Meine lieben Brüder!
Ich habe in der vergangenen Woche in der wohl Manchem von euch bekannten Migros-Zeitung «Wir Brückenbauer» in einer Reportage unter dem Titel «Weihnacht der Sträflinge» (übrigens unmittelbar hinter einem von mir selbst geschriebenen Weihnachtsartikel!) den Satz gelesen: «Das Fest der Liebe und des Friedens — es will nicht so recht ins Zuchthaus passen.» Was man dann weiter las, war zwar sehr rührend, aber ganz ohnmächtig, und ich bin froh, daß ihr mich hier nicht so kläglich anschaut wie die Gefangenen, die dort abgebildet sind. Gegen jenen Satz muß man protestieren. Ich bin nicht so ganz sicher, ob das Weihnachtsfest ins Münster oder in die Engelgaßkapelle paßt, wo es von den besseren Leuten gefeiert wird. Wohl aber bin ich ganz sicher, daß es hierher und also ins Zuchthaus paßt. So war es gut, daß ich meinen Text für diesen Sonntag schon vorher gewählt hatte. Hört ihn noch einmal: «Hungrige hat er mit Gütern erfüllt und Reiche leer hinweggeschickt.»
Er hat das getan: Er, der sich seines Volkes Israel und mit ihm der ganzen Erde angenommen hat — unverdientermaßen, aus lauter Güte! Er, der den Bund, den er mit dem Menschen geschlossen, treulich halten und erfüllen wollte! Er, der seine große Liebe zu der von ihm geschaffenen Welt nicht nur in Worten ausgesprochen, sondern kräftig ins Werk gesetzt hat! Er, der mitten in unserem Dunkel sein Licht aufgehen ließ! Er, der Allem, was lebt, eine ewige Hoffnung gegeben hat! Er hat das getan, indem er in der Stadt und im Stall von Bethlehem selber ein Menschensohn, ein Menschenkindlein, unsereiner wurde. Er hat das getan. Es heißt nicht, daß er das tun wolle und werde, sondern daß er das schon getan hat. Paß also gut auf: Bist du ein Hungriger, dann hat er dich schon mit Gütern erfüllt! Bist du ein Reicher, dann hat er dich schon leer hinweggeschickt. So ging es nämlich dort zu, so wurde, als das Kindlein Jesus geboren wurde, entschieden und geschieden. So wurde da erwählt und also Ja gesagt und Nein, geliebt und gehaßt, angenommen und verworfen. Hungrige wurden da mit Gütern erfüllt, und Reiche wurden da leer hinweggeschickt. Und das ist die doppelte Adventsbotschaft, die da laut wurde und bis heute laut ist, daß den Hungrigen und den Reichen von Gott eben das widerfahren ist.
Hungrige — was sind das für Leute? Ein Hungriger ist offenbar Einer, dem das Nötigste fehlt: nicht irgend etwas Nettes und Schönes, das er doch allenfalls auch entbehren könnte, sondern das Nötigste, das er nicht entbehren kann. Und nun hat er keine Mittel und Wege, um es sich zu verschaffen. Nun kann es mit ihm nur noch abwärts, nur dem Tod entgegengehen. Nun hungert er. Nun muß er befürchten, verhungern zu müssen.
Das ihm Nötigste mag ein Stück Brot sein und ein Teller Suppe, oder, wie für so Viele in Asien, ein paar Hände voll Reis. Bilder von hungernden Frauen und Kindern in Indien, Algerien oder Sizilien habt ihr wohl alle schon gesehen. Vielleicht hat der Eine oder Andere von euch auch schon einmal so gehungert? Ich denke aber: im Augenblick, solange ihr in diesem Hause seid, ist das nicht euer Problem. — Das Nötigste, das einem Menschen fehlen kann, mag aber auch einfach ein Leben sein, das er des Lebens wert findet. Was er aber sieht, das ist ein verpfuschtes, ein verlorenes und verdorbenes Leben. Nun hungert er. — Das Nötigste, was ihm fehlt, könnte auch einfach ein bißchen Freude sein. Er sieht sich um und findet nichts, gar nichts, was ihm wirklich Freude machen könnnte. So hungert er. — Das Nötigste könnte schlicht darin bestehen, daß ihn Jemand so richtig lieb hätte. Aber da ist Niemand, der ihn lieb haben mag. So hungert er. — Wie, wenn das Nötigste, das ihm fehlt, ein gutes Gewissen wäre? Wer möchte und müßte nicht ein gutes Gewissen haben? Wie aber, wenn Einer nur eben ein schlechtes Gewissen haben kann? Dann kann er nur hungern. — Das ihm Nötigste könnte dies sein, daß er irgend einer Sache ganz sicher sein dürfte. Aber da sind lauter Zweifel in ihm, und irgendwo droht ihm Verzweiflung. So hungert er. — Und es dürfte doch das ihm Allernötigste dies sein, mit Gott in Ordnung zu kommen. Aber was er von Gott bisher gehört hat, das hat ihm nichts gesagt, damit konnte er nichts anfangen, davon wollte er wohl auch nichts wissen. Und jetzt hungert er gerade in dieser wichtigsten Sache.
Von solchen Hungrigen hören wir jetzt: Er hat sie mit Gütern gefüllt. Er hat ihnen also nicht nur so ein «Trösterli» gegeben, nicht nur so ein «Mümpfeli», nicht nur so ein billiges oder auch teures Weihnachtsgeschenk, nicht nur so etwas wie die Brosamen, die von des Herrn Tische fielen [vgl. Mt. 15, 27], wie der arme Lazarus sie bekam [Lk. 16, 21]. Nein, er hat sie gespeist und getränkt und erfreut bis genug. Er hat, wie es in einem unserer Lieder heißt, «vom Himmel mit Strömen der Liebe geregnet». Er hat aus ihnen, den Allerärmsten, Allerreichste gemacht. Er hat das damit getan, daß er ihr Bruder wurde und also selber ein Hungernder, der mit ihnen und für sie geschrieen hat: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» [Mk. 15, 34]. Er stellte sich nämlich an ihre Seite und stellte sie an die seinige, um ihre Schwachheit, ihre ganze Verkehrtheit, ihre ganze Sünde und ihr ganzes Elend von ihnen weg und auf sich zu nehmen. Er ist auf seine eigenen Kosten für sie eingetreten gegen den Teufel, gegen den Tod, gegen Alles, was ihr Leben traurig, böse und finster macht. Er hat das alles von ihnen weg und auf sich genommen, um ihnen dafür das Seinige zu geben: die Herrlichkeit, die Ehre, die Freude der Kinder Gottes. Er ließ den Hungrigen wie jenen sündigen Zöllner aus dem Tempel herab in sein Haus gehen als einen ganz und gar Gerechten [vgl. Lk. 18, 14]. Er erhob ihn wie jenen armen Lazarus als einen wahren Heiligen in den Schoß des heiligen Vaters Abraham [vgl. Lk. 16, 22]. Er berief ihn in seinen Dienst wie damals den Petrus, nachdem er eine ganze Nacht vergeblich auf Fischfang ausgezogen war [vgl. Lk. 5, 5.11]. Er hieß ihn als verlorenen Sohn im Vaterhaus willkommen: nicht mit dem vernichtenden Blick eines strengen Schulmeisters, sondern, wie es in der Geschichte jenes Sohnes ausdrücklich erwähnt wird: mit schallender Musik und indem er das gemästete Kalb für ihn schlachten ließ [vgl. Lk. 15, 22f.]. Das hat er alles uns getan, sein groß‘ Lieb zu zeigen an. Des freu‘ sich alle Christenheit und dank ihm des in Ewigkeit!
Was ist das für eine Gesellschaft: die «Christenheit»? Nichts Anderes als die Gemeinde der Hungrigen, die sich darüber freuen und dafür danken dürfen, daß Gott sie mit Gütern erfüllt hat. Warum gerade sie? Nur eben darum, weil sie Hungrige und Verlorene sind und weil er gekommen ist, zu suchen und zu retten, was verloren ist [vgl. Lk. 19, 10]!