
Paul Ricoeur und der Streit um das historische Gedächtnis in Wiblingen
Auf der französischen Originalausgabe seines Buches „La mémoire, l’histoire, l’oubli“ (dt. Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, Fink 2005) hat Paul Ricoeur mit Bedacht das Bild einer Skulptur von Dominikus Hermenegild Hegenauer (1744/45) im Bibliothekssaal des Klosters Wiblingen (bei Ulm) zum Abdruck gebracht und dieses Bild im Innenteil wie folgt erläutert:
„En un lieu choisi de la bibliothèque du monastère s’élance une superbe sculpture baroque. C’est la figure double de l’histoire. A l’avant, Chronos le dieu ailé. C’est un vieillard au front ceint; la main gauche agrippe un grand livre duquel la droite tente d’arracher un feuillet. À l’arrière et en surplomb, l’histoire même. Le regard est sérieux et scrutateur ; un pied renverse une corne d’abondance d’où s’échappe une pluie d’or et d’argent, signe d’instabilité ; la main gauche arrête le geste du dieu, tandis que la droite exhibe les instruments de l’histoire : le livre, l’encrier, le stylet.
Monastère Wiblingen, Ulm.“ („An einem ausgesuchten Ort der Klosterbibliothek erhebt sich eine prächtige barocke Skulptur. Es ist die Doppelfigur der Geschichte. Vorne der geflügelte Gott Chronos. Er ist ein alter Mann mit gegürteter Stirn; die linke Hand greift ein großes Buch, von dem die rechte versucht, ein Blatt abzureißen. Dahinter und darüber die Geschichte selbst. Der Blick ist ernst und prüfend; ein Fuß stößt ein Füllhorn um, aus dem ein Regen aus Gold und Silber strömt, ein Zeichen der Instabilität; Die linke Hand stoppt die Geste des Gottes, während die rechte die Instrumente der Geschichte zeigt: das Buch, das Tintenfass, den Griffel. Kloster Wiblingen, Ulm.“)
Ob Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, ausgestattet mit Tintenfass und Feder, den geflügelten Gott Chronos auf Dauer tatsächlich davon abhalten kann, die Aufzeichnungen der Vergangenheit aus dem Buch der Geschichte herauszureißen, steht auf einem anderen Blatt.