Die maßvolle Unterscheidung (discretio): „Die monastische Tradition hat die discretio als Tugend hervorgehoben und versteht darunter vor allem das situative Unterscheidungsver­mögen beim Maß-geben und Maß-setzen, das den einzelnen Menschen mit seiner individuellen Bedürfnissen und Veranlagungen berücksichtigt.“

Die maßvolle Unterscheidung (discretio)

Unter dem Begriff „Diskretion“ wird im allgemeinen Zurückhaltung bzw. Verschwiegenheit bezüglich anvertrauten Informationen verstanden. Das lateinische discretio steht jedoch für Unterscheidung bzw. Urteilsvermögen. Die monastische Tradition hat die discretio als Tugend hervorgehoben und versteht darunter vor allem das situative Unterscheidungsver­mögen beim Maß-geben und Maß-setzen, das den einzelnen Menschen mit seiner individuellen Bedürfnissen und Veranlagungen berücksichtigt[1]. Benedikt von Nursia hat die discretio als „Mutter der Tugenden (mater virtutum)“ bezeichnet und sie besonders dem Abt eines Klosters anempfohlen[2]. Für die Leitung einer häuslichen Klostergemeinschaft, die auf der Grundlage einer schriftlichen Regel geschieht, ist in der Tat das situative Unterscheidungsvermögen wesentlich. Der Abt hat seinen einzelnen Klosterbrüdern mit deren je eigenen Physis und Psyche gerecht zu werden, ohne die Regelbindung preiszugeben. Wenn beispielsweise in der Benediktus-Regel 39 zwei gekochte Mahlzeiten am Tag als ausreichend angesehen werden, liegt es im Ermessen des Abtes, bei einer härteren Tagesarbeit einzelnen Mönchen „etwas mehr zu geben, wenn es guttut.“[3] Der Abt bedarf eines situativen Unterscheidungsvermögens, dem einem Mönch mit gutem Grund mehr zukommen zu lassen als den anderen. Kann er nämlich die Erhöhung der Tagesration nicht als Ausnahme rechtfertigen, wird er diese Lei­stung anderer Klosterbrüdern kaum verweigern können. Dadurch würde aber die Regel, der zufolge Übersättigung und Unmäßigkeit vermieden werden soll, aufgehoben.

Martin Luther hat aus seiner eigenen monastischen Erfahrung heraus in seiner Schrift Von der weltlichen Obrigkeit (1523) Fürsten angewiesen, gegenüber ihren Untertanen seine solche discretio zu wahren, wenn er schreibt:

„Es ist wie bei einem Hausvater: auch wenn er für sein Gesinde und seine Kinder genau Zeit und Maß für Arbeit und Kost festsetzt, so muss er diese Satzungen doch in seiner Macht behalten: er muss es also ändern oder nachlassen können, wenn der Fall einträte, dass sein Gesinde krank, gefangen, aufgehalten, betrogen oder sonst verhindert würde, und er darf bei Kranken nicht mit der gleichen Strenge verfahren wie bei Gesunden. Das sage ich deshalb, damit man nicht meine, es genüge und sei eine treffliche Sache, wenn man dem geschriebenen Recht oder den juristischen Ratgebern folgt. Es gehört mehr dazu.“[4]

Ähnlich schreibt Luther in seinem Traktat Von den guten Werken (1520):

„Es muss ein Herr auch klug genug sein, um sich’s nicht vorzunehmen, allezeit mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, auch wenn er kostbare, gute Rechte und die allerbeste Sache zu vertreten hätte. Denn vorausgesetzt, dass es den Untertanen nützlich ist, ist es eine viel edlere Tugend, am Rechte Schaden zu dulden, als am Gut oder Leib, da ja weltliche Rechte nur an zeitlichen Gütern hängen. Darum ist’s ganz närrisch, wenn einer sagt: ‚Ich habe ein Recht darauf; darum will ich’s im Sturm holen und festhalten, auch wenn alles Unglück für die andern daraus entspringen sollte.‘ […] Ebenso ist’s auch bei einem Herren, der einen Haufen von Leuten mit sich führt: er darf nicht wandeln und handeln, wie er selber will, sondern wie der Haufe es vermag; er muss mehr auf ihren Bedarf und Nutzen als auf seinen eigenen Willen und Gelüsten Rücksicht nehmen.“[5]

So rät Luther in Sachen Leitung zur Nachsicht: „Die Herren und Frauen sollen „nicht in herrischer Weise über ihre Knechte und Mägde und Arbeitsleute das Regiment führen. Sie sollen es nicht mit allen Dingen so sehr genau nehmen, zuweilen etwas hingehen lassen und um des Friedens willen durch die Finger sehen. Denn es können in keinem Stand alle Dinge allezeit nach der Schnur gehen, solang wir auf Erden in der Unvollkommenheit leben.“[6]

Das Beispiel aus der klösterlichen Hausgemeinschaft lässt sich durchaus auf ein Unternehmen übertragen. Ein Unternehmer wird des Öfteren mit Anfragen nach Ausnahmeregelungen seitens von Mitarbeitern konfrontiert. Es bedarf eines guten Urteilsvermögens, zu entschei­den, ob eine jeweilige Ausnahmeregelung für den einzelnen Mitarbeiter tatsächlich ange­bracht ist. Rigoros sich Ausnahmeregelungen zu verweigern oder pauschal allen Anfragen nach Ausnahmeregelungen stattzugeben sind beides keine angemessenen Lösungen. Das situative Urteilsvermögen ist jedoch nicht nur gegenüber den Ansprüchen von Seiten der Mitarbeiter erforderlich, sondern auch umgekehrt im Hinblick auf die angemessene Beauftra­gung der jeweiligen Mitarbeiter. Welcher Aufgabenumfang bzw. welche Stelle kann dem einzelnen Mitarbeiter im Hinblick auf dessen Fähigkeiten und Belastungs­grenzen übertragen werden, so dass er in seiner Tätigkeit gefordert, aber nicht überfordert ist? In der Manage­mentlehre wird hierbei von einem angemessenen job design gesprochen[7]. Die discretio eines Unternehmers steht also für das Urteilsvermögen hinsichtlich dessen, was seinen Mitarbeitenden innerhalb des Unternehmens zuzumuten ist.

[1] Vgl. Lambert, Art.: discretio, PLSp, Sp. 238f. Hinsichtlich einer philosophischen Ethik bzw. der Rechtslehre kann die discretio mit der Billigkeit (epieikeia/aequitas) verglichen werden. Vgl. Arist. EN V,14; Arist. Rhet. I,13,12-19; Thomas, STh II-II q 120; bzw. Hollerbach, Art.: Billigkeit, StL 1, 809-813.
[2] Regula Benedicti 64,19. Im Anschluß an Johannes Cassian, Collationes patrum, 2,4,4. Vgl. Einleitung zur Regula Benedicti, S. 37f.
[3] Regula Benedicti 39,6.
[4] Calwer Luther-Ausgabe 4, 49f.
[5] Calwer Luther-Ausgabe 3, 195f.
[6] Calwer Luther-Ausgabe 3, 200.
[7] Vgl. Malik, Führen Leisten Leben, 306-324.

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