„Unser Urteil ist nichts, wenn es mit dem göttlichen Urteil verglichen wird“ – Martin Luther über die unbegreifliche Gerechtigkeit Gottes (De servo arbitrio)

Prädestination

Das ist der Preis des Vertrauens in die göttliches Gerechtigkeit als Barmherzigkeit in Jesus Christus, dass dieser Glaube nicht „freiwillig“ rekonstuiert werden kann. Dazu schreibt Martin Luther am Ende der gegen Erasmus gerichteten großen Schrift »Daß der freie Wille nichts sei« (1525):

Über die unbegreifliche Gerechtigkeit Gottes

Ich bekenne freilich von mir: Wenn es irgend geschehen könnte, wollte ich nicht, daß mir der freie Wille gegeben wird, oder daß etwas in meiner Hand gelassen würde, wodurch ich mich um das Heil bemühen könnte, nicht allein deswegen, weil ich in soviel Anfechtungen und Gefahren, gegenüber so vielen anstürmenden Dämonen nicht zu bestehen und jenes nicht festzuhalten vermöchte, da ein Dämon mächtiger ist als alle Menschen und kein ein­ziger Mensch gerettet würde, sondern weil ich, auch wenn keine Gefahren, keine Anfechtungen, keine Dämonen da wären, dennoch gezwungen sein würde, beständig aufs Ungewisse hin mich abzumühen und Lufthiebe zu machen; denn mein Gewissen wird, wenn ich auch ewig leben und Werke tun würde, niemals gewiß und sicher sein, wieviel es tun müßte, um Gott genug zu tun.

Denn bei jedem vollbrachten Werk bliebe der ängstliche Zweifel zurück, ob es Gott gefalle oder ob er etwas darüber hinaus verlange, so wie es die Erfahrung aller Werkgerechten be­weist und ich zu meinem Unglück so viele Jahre hindurch genügend gelernt habe. Aber nun, da Gott mein Heil meinem Willen entzogen und in seinen Willen aufgenommen hat und nicht auf mein Werk oder Laufen hin, sondern aus seiner Gnade und Barmherzigkeit ver­heißen hat, mich zu erretten, bin ich sicher und gewiß, daß er treu ist und mir nicht lügen wird, außerdem mächtig und gewaltig ist, daß keine Dämonen und keine Widerwärtigkeiten imstande sein werden, ihn zu überwältigen oder mich ihm zu entreißen. »Niemand«, sagt er, »wird sie aus meiner Hand reißen, weil der Vater, der sie mir gegeben hat, größer ist als sie alle.« (Joh 10,28f) So ge­schieht es, daß, wenn nicht alle, so doch einige und viele gerettet werden, während durch die Kraft des freien Willens geradezu keiner errettet würde, sondern wir alle miteinander verloren gingen. Da sind wir auch gewiß und sicher, daß wir Gott gefallen, nicht durch das Verdienst unseres Werkes, sondern durch die Huld seiner Barmherzigkeit, die uns verheißen ist, und, wenn wir weniger tun oder böse handeln, daß er es uns nicht zurechnet, sondern väterlich ver­gibt und bessert. Das ist der Ruhm aller Heiligen in ihrem Gott.

Wenn dich aber das erschreckt, daß es schwierig ist, die Gnade und Gerech­tigkeit Gottes zu wahren, der doch die, die es nicht verdient haben, ver­dammt, d. h. solche Gottlose, die in Gottlosigkeit geboren auf keine Weise sich selbst helfen können, daß sie nicht gottlos sind, bleiben und verdammt werden und, da ihre Natur nicht anders kann, sündigen und verloren­gehen müssen, wie Paulus sagt: »Wir waren alle Kinder des Zorns wie die andern« (Eph 2,3), da sie von Gott selbst aus dem durch die Sünde des einen Adam verderbten Samen als solche geschaffen sind, so ist hier Gott zu ehren und zu fürchten als der, der größte Gnade an denen erweist, die er rechtfertigt und errettet, und zwar sind das solche, die es überhaupt nicht ver­dient haben, und man muß schließlich einiges seiner göttlichen Weisheit überlassen, auf daß ge­glaubt werde, es sei gerecht, wo er uns ungerecht zu sein scheint. Wenn nämlich seine Gerechtigkeit derartig wäre, daß der Mensch mit seiner Fas­sungskraft darüber befinden könnte, daß sie gerecht ist, so wäre sie durchaus nicht göttlich und in nichts von der mensch­lichen Gerechtig­keit unterschie­den. Aber da Gott ein einiger und wahrer Gott ist, ferner völlig unbegreiflich und der menschlichen Vernunft unzugänglich, so ist es angemessen, ja viel­mehr notwendig, daß auch seine Gerechtigkeit unbegreiflich ist. So wie auch Paulus es mit den Worten ausruft: »O welch eine Tiefe des Reichtums beider, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes, wie unbegreiflich sind seine Gerichte und wie unerforschlich seine Wege!« (Röm 11,33)

Sie wären aber nicht unbegreiflich, wenn wir in jeder Hinsicht es fassen könnten, weshalb sie gerecht sind. Was ist der Mensch im Vergleich zu Gott? Wie viel ist es, was unsere Macht vermag im Vergleich zu seiner Macht? Was ist unsere Stärke im Vergleich zu seinen Kräften? Was ist unser Wissen, verglichen mit seiner Weisheit? Was ist unser Wesen im Vergleich zu seinem Wesen? Kurzum, was ist alles Unsrige im Vergleich zu dem Seinigen? Wenn wir also bekennen, auch aufgrund dessen, was die Natur lehrt, daß mensch­liche Macht, Stärke, Weis­heit, Wesen und alles, was zu uns gehört, ganz und gar nichts ist, wenn es mit der göttlichen Macht, Stärke, Weisheit, Wissen und Wesen verglichen wird, wie verkehrt ist es da von uns, daß wir allein Gottes Gerechtigkeit und Gericht anfechten und nur für unser Urteil es in An­spruch nehmen, das göttliche Urteil begreifen, beurteilen und würdigen zu wollen? Weshalb sagen wir nicht auch hier einfach: Unser Urteil ist nichts, wenn es mit dem göttlichen Urteil verglichen wird? Frage die Vernunft selbst um Rat, ob sie nicht überführt dasteht und beken­nen muß, daß sie töricht und verwegen ist, wenn sie nicht Gottes Urteil unbegreiflich sein läßt, da sie zugibt, daß alles andere Göttliche unbegreiflich ist. Freilich, in allem andern ge­stehen wir Gott die göttliche Majestät zu, allein bei seinem Gericht sind wir bereit, sie zu verneinen, und können inzwischen nicht glauben, daß er gerecht sei, obwohl er es uns ver­heißen hat, daß er es sein werde, wenn er seine Herrlichkeit offenbart hat, so daß wir alle es dann sehen und greifen sollen, daß er gerecht gewesen ist und es noch ist.

Ich will ein Beispiel zur Befestigung des Glaubens geben und um jenes nichtswürdige Auge zu ermutigen, das Gott der Ungerechtigkeit für verdäch­tig hält. Siehe, so leitet Gott diese körperliche Welt in äußerlichen Dingen, daß, wenn man das Urteil der menschlichen Vernunft ansieht und ihm folgt, man gezwungen ist zu sagen, entweder daß kein Gott ist, oder daß er unge­recht ist, wie jener sagt: »Ich werde oft von dem Gedanken beunruhigt, daß nach keine Götter gibt.« Denn siehe, wie es den Bösen ganz nach Wunsch, hingegen den Guten sehr elend ergeht; was die Sprichwörter und die Erfahrung, die Mutter der Sprichwörter, bezeugen: »Je größer der Schalk, desto besser das Glück.« »In den Hütten der Gottlosen«, sagt Hiob, »herrscht Überfluß« (Hi 12,6). Und Ps. 73,12 klagt, daß die Sünder in der Welt Überfluß an Reichtum haben. Hör einmal, ob es nicht nach dem Urteil aller sehr unge­recht ist, daß die Bösen mit Glücksgütern gesegnet und die Guten schwer heimgesucht werden? Aber so läßt es der Lauf der Welt offen erkennen. Hier sind auch die höchsten Geister darauf verfallen zu verneinen, daß Gott sei, und zu ersinnen, daß das Glück alles blindlings treibe, wie z. B. die Epikuräer und Plinius. Ferner meint Aristoteles, daß jenes sein erstes Sein, damit es vom Elend befreie, nichts von den Dingen sehe als sich allein, weil er glaubt, es sei ihm sehr beschwerlich, soviele Leiden und soviele Ungerechtigkeiten zu sehen.

Die Propheten aber, welche geglaubt haben, daß Gott sei, sind vielmehr hinsichtlich der Un­gerechtigkeit Gottes versucht worden, wie Jeremia, Hiob, David, Asaph und andere. Was, meinst du, haben Demosthenes und Cicero gedacht, wenn sie alles, was sie vermochten, ausgeführt hatten, und ihnen das so schlecht gelohnt wurde, daß sie elend untergingen? Und dennoch wird diese Ungerechtigkeit Gottes, die höchst wahrscheinlich ist und mit solchen Argumenten vorgetragen wird, denen keine Vernunft oder Licht der Natur widerstehen kann, sehr leicht durch das Licht des Evangeliums und die Kenntnis der Gnade aufgehoben, durch welche wir gelehrt werden, daß die Gottlosen wohl leiblich in Blüte stehen, an der Seele aber zugrunde gerichtet werden. Und es gibt für diese ganze unlösbare Frage diese kurze Lösung in einem Wörtlein, nämlich: Es ist ein Leben nach diesem Leben, in welchem alles, was hier nicht bestraft und belohnt wird, dort bestraft und belohnt wird, da dieses Leben nichts als der Vorläufer oder vielmehr der Anfang des zukünftigen Lebens ist.

Wenn also das Licht des Evangeliums, das allein im Wort und im Glauben kräftig ist, so Großes zuwege bringt, daß diese in allen Jahrhunderten behan­delte und niemals gelöste Frage so leicht beigelegt und geschlichtet wird, was, meinst du, wird wohl dann sein, wenn das Licht des Wortes und des Glau­bens zurücktritt und die Sache selbst und die göttliche Majestät durch sich selbst wird offenbar? Oder glaubst du nicht, daß dann das Licht der Herr­lichkeit die Frage, welche im Licht des Wortes oder der Gnade unlösbar ist, gar sehr leicht lösen kann, da das Licht der Gnade die im Licht der Natur unlösbare Frage so leicht gelöst hat?

Setze mir dreierlei Licht, das Licht der Natur, das Licht der Gnade, das Licht der Herrlichkeit, wie es eine allgemein bekannte und gute Unterscheidung hält. Im Licht der Natur ist es unlös­bar, daß das gerecht ist, wenn der Gute heimgesucht wird und es dem Bösen gutgeht. Aber das löst das Licht der Gnade. Im Lichte der Gnade ist es unlösbar, wie Gott den verdammen mag, der aus irgendwelchen eignen Kräften nicht anders tun kann als sündigen und schuldig werden. Hier sagt das Licht der Natur wie das Licht der Gnade, es sei Schuld nicht des elen­den Menschen, sondern des ungerechten Gottes, denn sie können nicht anders über Gott urtei­len, der den gottlosen Men­schen umsonst ohne Verdienst krönt und einen andern, der viel­leicht weniger oder wenigstens nicht mehr gottlos ist, nicht krönt, sondern verdammt. Aber das Licht der Herrlichkeit sagt etwas anderes und wird zeigen, daß Gott, dessen Gericht eben noch eine unbegreifliche Gerechtigkeit in sich birgt, von höchst gerechter und höchst offen­sichtlicher Gerechtigkeit ist, nur, daß wir inzwischen das glauben sollen, gemahnt und gefes­tigt durch das Beispiel des Lichtes der Gnade, welches ein ähnliches Wunder beim natürlichen Licht vollbringt.

Quelle: Martin Luther, De servo arbitrio (WA 18, 783,17-785,38) in der Übersetzung von Bruno Jordahn, in: Martin Luther, Ausgewählte Werke, hg. v. H.H. Borcherdt und G. Merz, 1. Bd. der Ergänzungsreihe: Daß der freie Wille nichts sei, 3. Aufl. 1954, 243-246.

Hier der Text als pdf.

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