
In seinem Beitrag zu den von Ernstpeter Maurer herausgegebenen „Grundlinien der Dogmatik“, einer Festgabe aus Anlass des 70. Geburtstags von Gerhard Sauter, schreibt Friedrich Mildenberger über „Gottes Heilsplan – Erwählung und Geschichte“. Es dürfte wohl einer seiner letzten theologischen Artikel gewesen sein. Wie schon in seiner Biblischen Dogmatik kontrastiert Mildenberger in subversiver Weise dogmatisches Denken mit seiner Lektüre biblischer Texte:
Gottes Heilsplan – Erwählung und Geschichte
Von Friedrich Mildenberger
Der traditionelle dogmatische Aufriß der lutherischen Orthodoxie bringt nach den Prolegomena zuerst die »Theologie« (Mildenberger 1, 230ff), also Gotteslehre, Schöpfung und Vorsehung. Das sind, sehen wir einmal von der Trinitätslehre ab, die zwar mit zur »Theologie« gehört, aber eine Sonderstellung einnimmt, articuli fidei mixti, Glaubenswahrheiten, die nicht nur aus der Offenbarung, also der Schrift, sondern auch aus der Vernunft bekannt sind. Dann folgt die »Ökonomie«, Gottes Heilsveranstaltung, in der er durch die Sendung des Sohnes ins Menschsein die gefallene Menschheit erlöst. Hier handelt es sich um articuli fidei puri, also offenbarte Glaubenswahrheiten. Einleitend ist hier von dem Heilsratschluß Gottes die Rede. Dabei wird wieder der allgemeine Heilswille Gottes, die benevolentia universalis erga hominem lapsum, von seinem besonderen Heilswillen, der benevolentia specialis, unterschieden. Der allgemeine Heilswille betrifft alle Menschen, die ins Elend der Sünde gefallen sind, und bietet ihnen die wirksamen Heilsmittel an. Der besondere Heilswille Gottes dagegen setzt fest, daß bestimmte Menschen, welche die ihnen angebotenen Heilsmittel im Glauben annehmen und bis zu ihrem Ende festhalten, mit dem ewigen Heil beschenkt werden (so Hollaz 2,2). Insoweit ist hier bei Hollaz, der die Spätform der lutherischen Orthodoxie repräsentiert, die Ökonomie deutlich gegen die Theologie abgesetzt.
Die reformierte Tradition ordnet hier anders ein, sofern sie die Gotteslehre mit der Lehre von den Dekreten Gottes abschließt und erst dann die Schöpfungslehre folgen läßt. Dabei ist das decretum Dei generale, der Ratschluß, der Schöpfung und Vorsehung betrifft, und das decretum praedestinationis zu unterscheiden, nach dem Gott beschlossen hat, von [182] den vernünftigen Kreaturen einige zu retten, andere zu verdammen (nach Heppe-Bizer, 108). In der Regel folgt man dabei der infralapsarischen Richtung, nach welcher das Prädestinationsdekret auf den allgemeinen Ratschluß der Schöpfung folgt. Allerdings ist auch die supralapsarische Variante möglich, die zuerst den Ratschluß Gottes denkt, zu seiner Verherrlichung bestimmte Menschen zum Heil zu führen und andere zu verdammen. Erst daraufhin folgt dann der Ratschluß der Schöpfung. Freilich ist man sich dabei klar darüber, daß eine derartige Ordnung eines Nacheinander der göttlichen Dekrete bedingt ist durch die Ordnung unseres diskursiven Denkens, das die Zeitlosigkeit bzw. Gleichzeitigkeit des göttlichen Wollens nur so fassen kann.
Die Diskussion zeigt einmal mehr das Problem eines metaphysischen Gottesdenkens, das sich Gott zum Gegenstand machen muß, zugleich aber die Unvergleichlichkeit dieses Gegenstandes festzuhalten sucht. Dabei ist das Miteinander Gottes und der vernünftigen und also frei gedachten Menschen zu einem unlösbaren Problem verknotet. Nur mit Inkonsequenzen kann sich das dogmatische Denken hier weiterhelfen. Gottes Ewigkeit, die jede Veränderung von Gott fernhalten muß, schließt die Zeitlosigkeit seines Wissens und Wollens mit ein. Da sich alles innerzeitliche Geschehen nach diesem göttlichen Wissen und Wollen richten muß, das sich ja nicht irren kann, ist ein strenger Determinismus, der alle Abläufe in der Zeit durch die göttliche Notwendigkeit festgelegt sieht, die logische Folge. Damit aber wäre die menschliche Freiheit bestritten. Das darf nicht sein. Denn jedenfalls der Sündenfall als freie Abkehr des Menschen von seinem Schöpfer, der die Sündhaftigkeit des ganzen Menschengeschlechts als seine Folge nach sich zieht, kann nicht auf eine göttliche Notwendigkeit zurückgeführt werden. Und das betrifft dann natürlich auch die ganze Heilsveranstaltung Gottes, die dem folgt. Darum muß schon in der Gotteslehre der göttliche Heilsplan vorgreifend berücksichtigt werden. Das geschieht so, daß im Wissen Gottes Distinktionen eingeführt werden: Da ist eine scientia naturalis, in der Gott alles weiß, was möglich ist; weiter [183] eine scientia libera, die alles weiß, was ist, war oder mit Notwendigkeit eintreten wird; schließlich ist da eine scientia media, die weiß, was beim Vorliegen einer bestimmten Bedingung eintreten wird, beim Fehlen dieser Bedingung dagegen nicht (Hollaz 1, 1, 364f.). Mit dieser Bedingung ist die freie Entscheidung der vernünftigen, also entscheidungsfähigen Geschöpfe gemeint, die das angebotene Heil im Glauben ergreifen und bis zu ihrem Ende festhalten, oder die es abweisen. Diese Lösung paßt natürlich nur für die lutherische Orthodoxie mit ihrem milden Synergismus. Die reformierte Lehrform dagegen verlegt die Entscheidung über das Heil oder die Verwerfung der Menschen ganz in den ewigen Willen Gottes, braucht also die Hilfskonstruktion einer solchen scientia media nicht; dafür muß sie aber die Entscheidungsfreiheit des Menschen grundsätzlich bestreiten und zugleich die Willkür Gottes rechtfertigen, der die einen Menschen in Ewigkeit erwählt und die anderen verworfen hat.
Beide Lösungsmöglichkeiten sind dann unangemessen, wenn Gottes Leben nicht in einer zeitenthobenen Ewigkeit stillgestellt werden soll. Man stelle sich einen solchen Gott vor, der von Menschen um Hilfe angerufen oder dankbar gepriesen wird. Muß er nicht gelangweilt abwinken: »Das weiß ich doch schon seit aller Ewigkeit«? Jedenfalls der lebendige Gott der Bibel wäre damit nicht gedacht.
Die grundlegende dogmatische Unterscheidung einer natürlichen und einer offenbarten Gotteserkenntnis und so auch der articuli fidei mixti und puri wird mit dem geistigen Umbruch der Aufklärung in Frage gestellt. Das hat wie für das ganze dogmatische Gefüge auch für die Erwählungslehre gewichtige Auswirkungen. Der Widerspruch zwischen dem universalen Anspruch des christlichen Glaubens und seiner partikularen Verwirklichung kann nicht mehr so einfach in den Ratschluß des extramundanen Gottes zurückverlegt werden. Vielmehr gewinnt nun einerseits die natürliche, also alle Menschen betreffende Gotteserkenntnis als die gemeinsame Wurzel aller Religionen ein verstärktes Gewicht, nicht nur nach außen als die Möglichkeit, andere Religionen [184] nicht nur negativ zu würdigen; sondern auch nach innen, sofern sie Kirchenkritik und eine sich von der Kirche absetzende private Religiosität begründen kann. Andererseits ist nun die Kontingenz des Christlichen in ganz anderer Weise zu thematisieren; und das nicht nur in dem Verweis auf das Nebeneinander der christlichen und anderer Religionen, sondern auch in der Würdigung Jesu Christi.
Hier erinnere ich daran, daß wenigstens bei weiterführenden theologischen Entwürfen Jesus Christus selbst sehr viel stärker in den Mittelpunkt rückt. Nicht so sehr die Erschaffung des Menschen wie seine Erwählung ist für die Relation von Gott und Mensch, die sich in Jesus Christus zusammenfaßt, das entscheidende Datum. Das gilt auch und gerade dann, wenn die ontologische Konstruktion der Person Jesu Christi – er ist wahrer Gott und wahrer Mensch in der Einheit der Person – nicht mehr das die Christologie beherrschende Moment ist.
Dazu verweise ich zunächst auf Kants Religionsschrift. Hier wird das Ziel des Reiches Gottes als einer ethischen Gemeinschaft nach den Bedingungen seiner Ermöglichung befragt. Diese kann nicht nur in der moralischen Gesinnung einzelner gefunden werden. Es braucht vielmehr eine Gemeinschaft, die sich in der Zielsetzung dieses Reiches Gottes verbunden weiß. Daß diese in der christlichen Kirche gegeben ist, steht für Kant außer Frage. Allerdings muß da dann zwischen dem Kirchenglauben und dem wahren Religionsglauben unterschieden werden, der sich in Kants Gegenwart immer deutlicher entwickle (B 197). Doch wird damit der Anfang dieser Entwicklung, die geschichtliche Erscheinung Jesu Christi – Kant redet vom »Lehrer des Evangeliums« (B 191 f.), um sich so von den schriftgelehrten Theologen abzusetzen – als Neuanfang im Gegensatz zum Judentum besonders gewichtet.
In diesem Zusammenhang der Entstehung der christlichen Kirche und der Entwicklung des Reiches Gottes muß von den Geheimnissen der Berufung, Genugtuung und Erwählung geredet werden. Diese Geheimnisse sind zwar moralisch ganz klar, ihre Möglichkeit aber läßt sich nicht spekulativ einsichtig machen: daß der Mensch als Geschöpf doch seinem Schöpfer so frei gegenüber steht, daß er dessen Berufung in die Gemeinschaft des Reiches Gottes annehmen oder ablehnen kann; daß der verderbte Mensch doch für die Gemeinschaft des Reiches Gottes tauglich gemacht werden kann; daß die Willensbestimmung zur Annahme der Berufung und damit zugleich der stellvertretenden Genugtuung zwar schon die gottgefällige Gesinnung des Menschen voraussetzt, die aber dadurch doch erst erreicht werden soll. Hier sei die Wirksamkeit einer himmlischen Gnade vorausgesetzt, deren Beistand ein unbedingter göttlicher Ratschluß dem einen Menschen bewillige, dem andern verweigere; das aber gebe wieder keinen Begriff von einer göttlichen Gerechtigkeit, »sondern müßte allenfalls auf eine Weisheit bezogen werden, deren Regel für uns schlechterdings ein Geheimnis ist« (B 217).
Wie angesichts dieser Geheimnisse die geschichtliche Erscheinung Jesu Christi, der an seiner Person ein dem Urbild der allein Gott wohlgefälligen Menschheit gemäßes Beispiel gegeben habe, verstanden werden kann, muß offen bleiben und bleibt bei Kant auch offen. Sie muß als Realisierung des vorab (vgl. Religion innerhalb II 1 a) entwickelten Ideals der Gott wohlgefälligen Menschheit in ihrer ganzen moralischen Vollkommenheit gedacht werden, die so den Anfang einer neuen Geschichte ermöglicht; diese wird schließlich über die Geschichte der Kirche zum Reich Gottes führen. Als diese Ermöglichung ist die Besonderheit Jesu Christi zu würdigen. Er ist zugleich die Verkörperung der Gott wohlgefälligen Menschheit und der Anstoß für die Durchsetzung des Reiches Gottes, wie sie sich in Kants Gegenwart immer klarer zeige.
Noch deutlicher zeigt sich die zentrale Rolle, die Jesus Christus nun in Gottes Heilsplan zugewiesen wird, bei Schleiermacher. Auch wenn die Glaubenslehre nicht dem in Schleiermachers Augen eigentlich angemessenen Aufbau folgt, also die Ökonomie – Christologie und Soteriologie – vor Gotteslehre, Schöpfung und Anthropologie darbietet, sondern sich hier der Tradition anbequemt (vgl. das zweite Sendschrei-[186]ben an Lücke über die Glaubenslehre), wird doch bei der Grundlegung der Ökonomie die Bedeutung Christi für das Ganze des göttlichen Weltplans herausgearbeitet. Die Kontingenz seiner geschichtlichen Erscheinung muß in seine Urbildlichkeit hinein aufgehoben werden. Nur so kann er als die Ermöglichung wahren, durch Gott bestimmten Menschseins beschrieben werden. Schleiermacher greift dabei die paulinische Bestimmung Christi als des »zweiten Adam« (vgl. Röm 5,12-19; 1 Kor 15,45) auf: »Wie nämlich alles in dem menschlichen Gebiet durch Christus gesetzte als die neue Schöpfung (2 Kor 5,17) dargestellt wird: so ist dann Christus selbst der zweite Adam, der Anfänger und Urheber dieses vollkommneren menschlichen Lebens, oder die Vollendung der Schöpfung des Menschen, womit zugleich am bestimmtesten ausgedrückt ist, daß durch den von Adam aus sich entwickelnden Naturzusammenhang zu diesem höheren Leben nicht zu kommen war« (Glaubenslehre 2. A. § 89,1).
Die mit Christus beginnende neue Menschheit ist dazu bestimmt, schließlich die ganze Welt zu umfassen. Dieser durch Gottes Weisheit bestimmte Gang der Entwicklung ist als Erwählung zu bezeichnen, die also die Reihenfolge bestimmt, in welcher einzelne und Gruppen der Menschheit in die von Christus her anhebende Erlösung einbezogen werden. Das schließt als logische Folge die endliche Allversöhnung ein, die als jenseitiges Ziel dieses Erlösungsgeschehens am Ende alle Menschen umfassen wird.
Im christozentrischen Ansatz der Dogmatik trifft sich Karl Barth mit Schleiermacher; das muß man betonen, gerade weil eher die Polemik der dialektischen Theologie gegen Schleiermacher als die sachliche Nähe geläufig ist. Im Aufbau der Kirchlichen Dogmatik folgt er der reformierten Tradition, bringt also die Prädestinationslehre als Abschluß und Höhepunkt der Gotteslehre. Andererseits aber ist gerade hier die Umformung der Tradition besonders deutlich zu erkennen. Nicht in einer durch das Gesetz bestimmten Normalität wird hier die Welt- und Menschenbeziehung Gottes vorausgedacht, die dann durch [187] den Sündenfall des Menschen gestört und in der Sendung Jesu Christi wiederhergestellt wird, sondern in dem Gottes- und Menschensohn Christus. Weil aber Barth als Bibeltheologe nicht auf den Gedanken des in seiner Gerechtigkeit den Sünder verdammenden Gottes verzichten kann und will, muß darum auch hier die christologische Bestimmung eintreten. Nicht nur ist Christus in Person der erwählende Gott und der erwählte Mensch; vielmehr ist er gerade so der, der die doppelte Beziehung Gottes auf den Sünder, Erwählung und Verwerfung, auf sich zieht: »Die Gnadenwahl ist der ewige Anfang aller Wege und Werke Gottes in Jesus Christus, in welcher Gott in freier Gnade sich selbst für den sündigen Menschen und den sündigen Menschen für sich bestimmt und also die Verwerfung mit all ihren Folgen auf sich selber nimmt und den Menschen erwählt zur Teilnahme an seiner eigenen Herrlichkeit.« So der Leitsatz zu § 33 der »Kirchlichen Dogmatik«: »Die Erwählung Jesu Christi« (II, 2, 101). Damit ist die Dialektik von Universalismus und Partikularismus — Universalität des Schöpfungswillens, Partikularität des Heilswillens Gottes — christologisch aufgehoben: gerade der Partikularismus der Erwählung Jesu Christi öffnet Gottes Heilswillen auf die ganze Schöpfung hin. Darum wird in der Schöpfungs- wie in der Versöhnungslehre Christus und das Evangelium von ihm als bestimmend herausgehoben.
Auch über die Zeitlosigkeit des vorzeitigen göttlichen Erwählens sucht Barth hinauszukommen. Diese hat ja das göttliche Vorauswissen und -wollen von dem Objekt unterschieden, auf das sich solches Wissen und Wollen richtet. Nun ist aber der sich selbst zur Gemeinschaft mit dem Menschen Jesus bestimmende Gott doch nicht als ein solches Objekt des göttlichen Wollens zu denken, und so auch nicht der in der Gemeinschaft mit dem Sohn in Ewigkeit für Gott bestimmte Mensch. »Man kann sich ein decretum absolutum als leblose Regel des zeitlichen Lebens denken. Man kann sich aber Jesus Christus nur als den selbst lebendigen ewigen Herrn des zeitlichen Lebens denken. Daß der Vater den Sohn liebt und der Sohn dem Vater gehorsam wird, daß Gott sich [188] in dieser Liebe und in diesem Gehorsam an den Menschen dahingibt, des Menschen Niedrigkeit auf sich nimmt, um ihn auf seine Höhe zu erheben, daß der Mensch in diesem Geschehen frei wird, indem er seinerseits Gott wählt, der ihn erwählt hat, das ist eben schlechterdings eine Geschichte, die als solche nicht in eine ruhende Ursache irgendwelcher Folgen umgedeutet werden kann. Ist sie der Inhalt der Ewigkeit vor der Zeit, dann kann diese Zeit nicht vor der Ewigkeit zurückbleiben, dann ist sie per se in der Zeit wie vor der Zeit, dann kann sie auch in der Zeit nur Geschichte sein. Wer und was Jesus Christus ist, das kann eben nur erzählt, nicht aber als ein System angeschaut und beschrieben werden« (KD II, 2, 206). Hier ist also Jesus Christus nicht auf satisfactio und meritum reduziert, in welchen dem Gesetz, das Gottes Gerechtigkeit offenbart, Genüge geschieht.
An die Stelle des absoluten Dekrets Gottes tritt also das lebendige Geschehen der Beziehung Gottes und des Menschen, zuerst einmal Gottes und dieses Menschen Jesus. Barth legt diese Beziehung als Gebet aus. In diesem werde der Mensch zum Träger eines legitimen Anspruchs, in dem er herrschen dürfe, eben weil er dienen wolle. »Wenn Jesus dieser Mensch war und wenn eben Jesus der erwählte Mensch Gottes von Anbeginn ist, dann müssen wir jetzt sagen: Auf das Leben dieses betenden Menschen zielt Gottes ewiger Wille. Dies ist der Mensch, der bei Gott war im Anfang. Diesen Menschen meint und sucht Gottes Liebe. Diesem Menschen, seiner Existenz, gilt das ganze, von Ewigkeit her beschlossene Werk Gottes« (KD II, 2, 197). Mit diesem Verweis auf die ursprüngliche Erwählung dieses einen Menschen Jesus läßt sich der ins Extrem getriebene Partikularismus der Erwählung wieder öffnen, hier in der Erwählungslehre Barths auf die Erwählung der Gemeinde und die Erwählung des Einzelnen hin.
Hier muß ich allerdings einen Einwand vorbringen: Warum muß dieses Erwählungsgeschehen, das doch auf keinen Fall zeitlos gedacht werden kann und darf, dann doch wieder aller Zeit vorausgedacht werden? »Wir verstehen Prädestination mit der ganzen Überlieferung und [189] mit dem Zeugnis der Schrift selbst als ewige und also allen Zeiten vorangehende, als göttliche und also von Gottes Allmacht getragene und durch seine Beständigkeit (seine ›Unveränderlichkeit‹) charakterisierte Bestimmung über die Zeit und alle ihre Inhalte. Wir verstehen sie mit den strengen Vertretern der Überlieferung, insbesondere mit den Supralapsariern des 17. Jahrhunderts, als den Anfang aller Dinge« (KD II, 2, 168). Gerade wenn und weil dieser Anfang nicht ein decretum absolutum ist, sondern der zur Gottesgemeinschaft bestimmte Mensch Jesus, besteht dann doch die Gefahr, daß hier statt der geschichtlichen Kontingenz der Erscheinung Jesu Christi ein abstrakter vorzeitiger Heilsplan in den Vordergrund rückt. Das Denken läuft von der Theologie auf die Christologie zu, statt, wie das im Neuen Testament der Fall ist, von der Christologie ausgehend zu den Erwählungsaussagen zu kommen (vgl. Gerhard Gloege).
Wenn wir dem biblischen, in das Neue Testament mündenden Zeugnis folgen wollen, werden wir nicht umhin kommen, unsere Erwählung letztlich als Erwählung in Jesus Christus zu denken (Eph 1,4). Und diese Erwählung zielt auf eine eschatologische Vollendung. Darin ist sich die ganze dogmatische Tradition einig. Doch nötigt das auch dazu, von dieser Erwählung in Jesus Christus aus eine das Ganze umfassende Erwählungsgeschichte zu entwerfen, in die dann alle biblischen Erwählungsaussagen eingeordnet werden? Das ist nur dann der Fall, wenn ein dem universalen Anspruch des erhöhten Jesus Christus korrespondierender erwählender Gott vorausgedacht wird, wie das bei den eben genannten Entwürfen von Schleiermacher und erst recht von Karl Barth der Fall ist. So sehr das einerseits dogmatisch korrekt gedacht ist, so sehr muß es doch auch andererseits im biblischen Zeugnis vereinheitlichen, das Alte Testament entweder beiseite lassen oder es doch dem neutestamentlichen Zeugnis von Jesus Christus unterordnen. Damit aber wird dieses Alte Testament in der Mannigfaltigkeit seiner Erwählungsaussagen unangemessen vereinfacht. Es hat ja nicht nur eine einzige Erwählungsgeschichte zu erzählen. Sicher kann man [190] die Tendenz zur Vereinheitlichung schon in den »deuteronomistischen« Textzusammenhängen und Redaktionen finden. Aber eine sorgsame Betrachtung läßt doch deutlich unterschiedliche Geschichten wahrnehmen, auf die jeweils in ihrer Besonderheit zu hören sich lohnt.
Von erwählten Richtern und Rettern weiß das Richterbuch zu berichten. Auch wenn wir von der schematischen Rahmung mit ihrem Nacheinander von Abfall, Gottes Strafe durch Israels Feinde, dem Schreien der gedemütigten Israeliten zu Gott und der darauf erfolgenden Erwählung eines Retters durch Gott einmal absehen: Es ist eben Gott selbst durch seinen Geist, der da in der Vermittlung durch diese Rettergestalten Hilfe bringt. Es sind ganz unterschiedliche Leute aus unterschiedlichen Stämmen Israels. Auch eine Frau, Debora, ist dabei (Ri 4.5) und der starke Simson (Mildenberger 3, 111-120). Auch die Geschichten, die von ihnen überliefert werden, sind recht unterschiedlich. Sie gehören allenfalls darin zusammen, daß Gott diese Richter erwählt hat, damit sie Israel helfen, das sonst seinen Feinden ausgeliefert wäre. Sie sind also deutlich israelzentriert. Und das geht so weiter, folgen wir den Hauptzügen der alttestamentlichen Erzählzusammenhänge.
Da ist die Erwählung Moses, die – will man gewichten – als die grundlegende Erwählungsgeschichte des Alten Testaments bezeichnet werden kann. Mose sieht den brennenden Dornbusch, der doch nicht von den Flammen verzehrt wird: Von dort her redet ihn Gott an (2 Mose 3,1-15). Der uns vorliegende Text zeigt, wie die Überlieferung an der Erzählung gearbeitet hat: Ist es in v. 2 der Engel des Herrn, der ihm erscheint, so in v. 4 der Herr selbst, der ihn anredet. Stellt sich dieser Mose anredende Gott in v. 6 vor als der Gott der Väter, Abrahams, Isaaks und Jakobs, so wird dann auf Moses Nachfrage hin in v. 14 der Gottesname paraphrasiert: »Ich werde sein, der ich sein werde«. Sicher hat auch diese, im AT singuläre Namensdeutung – allenfalls in Hos 1,9 könnte auf sie angespielt werden – ihre weitere Geschichte in der Bibel: Offb 1,4.8 nimmt sie in der sog. Unveränderlichkeitsformel auf. Aber zugleich zeigt der ganze Textzusammenhang nicht nur auf Mose, son-[191]dern auf die Erwählung des Gottesvolkes: Es ist »mein Volk«, dessen Elend Gott angeschaut hat und dem er nun helfen will. Und es ist zugleich der Gott der Väter (v. 6.15), der hier den Mose erwählt. Im Auftrag an diesen Mose kommt ein Grunddatum des Erwählungsglaubens Israels in den Blick: Gott hat sein Volk aus Ägypten herausgeführt. Das wieder begründet seinen exklusiven Anspruch auf dieses Volk, wie ihn das erste Gebot (2 Mose 20,2) paradigmatisch formuliert.
Es ist also schon eine ganze Erwählungsgeschichte, die sich in dieser Erwählung des Mose zusammenballt. Aber sie ist nicht nur nach vorne und nach hinten offen, sondern zeigt gerade in der anfänglichen Weigerung des Mose, die erst überwunden werden muß, daß solche Erwählung die Aussonderung zu einem besonderen Dienst ist. Das gilt nicht nur für den erwählten Befreier Mose. Es gilt auch für das Volk, das er aus der ägyptischen Knechtschaft führen soll. Sie werden Gott dienen auf diesem Berg: so wird es Mose als Zeichen verheißen, das ihm die Sendung durch diesen Gott bestätigt. Das zeigt also schon einen weitgespannten Erzählzusammenhang an, in den diese Erzählung von der Erwählung Moses hineingehört. Und sie hat eine breit ausgesponnene Vorgeschichte, die Moses Geburt und wunderbare Errettung erzählt und dann begründet, wie Mose als Hirte zum Gottesberg Horeb kommt: Er ist Schwiegersohn eines midianitischen Priesters, dessen Schafe er zu weiden hat.
Einzelne Geschichten bleiben also nicht allein. Gewiß lassen sich aus dem uns vorliegenden Erzählzusammenhang einzelne Episoden herausnehmen, und die kritische Exegese sieht hier älteres Erzählgut, das dann in größere Erzählzusammenhänge einbezogen wurde und so schließlich in den uns vorliegenden Text geriet; das auch dort, wo es sich in seinem unmittelbaren Kontext und erst recht im gesamtbiblischen Textzusammenhang fast wie ein Fremdkörper ausnimmt. Ich denke etwa an die Ätiologie der Beschneidung in 2 Mose 4,24-26. Sie gehört jetzt zum Weg des eben erwählten Mose nach Ägypten, wo er seinen Befreiungsauftrag ausführen soll. Da ist es der Herr selbst, der [192] den Mose in der Nacht überfällt und ihn töten will. Seine Frau Zippora schafft es, mit der Beschneidung ihres Sohnes den Zorn dieses Gottes oder bösen Dämons zu besänftigen, so daß er von seinem Vorhaben absteht. Das ist seltsam archaisch und paßt weder zu dem Gottesverständnis noch zu dem Erzählfluß, der doch davon redet, wie Mose seiner Beauftragung nachkommt. Aber es gehört anscheinend zur Eigentümlichkeit des biblischen Redens von Erwählung, daß da auch immer wieder von einer Bedrohung der Erwählten die Rede ist, die von dem erwählenden Gott ausgeht.
Sollen wir hier dann doch, im Duktus der strengen Calvinschen Fassung der Prädestinationslehre, von der Verwerfung reden, die nun einmal der Erwählung korrespondiere: »Die Praedestination nennen wir das ewige Dekret Gottes, in dem er bei sich beschlossen hatte, was mit jedem Menschen geschehen sollte. Denn nicht alle werden unter der gleichen Bestimmung geschaffen: sondern den Einen wird das ewige Leben, den Anderen die ewige Verdammnis vorherbestimmt Je nach dem Ziel, zu dem jeder bestimmt ist, sagen wir darum, daß er zum Leben oder zum Tod prädestiniert ist« (J. Calvin, Institutio III, c. XXI,5). Dem biblischen Reden, das wir hier im Blick haben, ist das kaum angemessen. Es sind ja gerade die Erwählten, die so auch der Bedrohung durch Gott ausgesetzt sind.
Diese dunkle Seite der Erwählung verkörpert in einer eindringlichen Weise die Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok. Da bleibt ja zu¬nächst offen, wer das ist, der mit Jakob ringt. »Ein Mann«, »jemand«: so heißt es zunächst. Und erst am Schluß der Erzählung in der Anrede des Unbekannten erfahren wir mehr: »… du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen« (1 Mose 32,29). So wird der Name »Israel« gedeutet. Und solche Deutung strahlt vom Stammvater auch auf das Volk aus. Die Nähe des erwählenden Gottes ist nicht nur ein Vorzug. Sie ist im Anspruch des erwählenden Gottes an die Erwählten auch Bedrohung. Am Gottesberg angekommen, setzen sie sich zwar zuerst dem Gott aus, der den Dekalog bekannt macht. Aber das [193] halten sie nicht durch; darum fordern sie dann Mose auf, zu vermitteln zwischen dem erwählenden Gott und den erwählten Menschen.
Gerade hier am Sinai (oder Horeb) ist nicht nur der Ort, wo die Erwählung im Bund, den Gott setzt, feierlich besiegelt wird (vgl. 2 Mo-se 24), sondern da ist auch der Ort des Bundesbruches durch das Volk (2 Mose 32): Als Mose auf den Berg gestiegen ist, wo Gott mit ihm redet, gerät dieses Volk unter Druck. Was ist, wenn er nicht zurückkommt, der gottgesandte Mittler? Sie suchen nach einem handfesten Ersatz für das durch Mose vermittelte Gotteswort. Aaron, der profes¬sionelle Religionsdiener, weiß, was zu machen ist, was die Leute brauchen und wie sie dazu kommen können. Die Geschichte vom goldenen Kalb reflektiert in einer unnachahmlichen Weise das Dilemma dieser Erwählung Israels und der Erwählten. Sie können nicht zugleich die Erwählung und mit ihr die Verheißungen des erwählenden Gottes haben und doch auch sein, wie Menschen nun einmal sind, gerade auch in ihren religiösen Bedürfnissen. Das würde ihr Ende als erwähltes Volk bedeuten.
Moses Fürbitte, die dieses Ende noch einmal abwendet, ist einer der theologisch dichtesten Texte der ganzen Bibel (vgl. auch die Parallelüberlieferung in 5 Mose 9,7-21 und Mildenberger 2, 127ff.). Das zeigt sich gerade an der Weise, wie hier mit dem Grundbekenntnis Israels gearbeitet wird. Zuerst ist da in der Gottesrede Mose der, der »sein« Volk aus Ägyptenland geführt hat. Dann wird dieses Bekenntnis dem Volk zugedacht, das in seiner Anbetung des goldenen Kalbes dieses Bekenntnis ausspricht. »Sie haben … gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat« (v. 8). Danach nimmt Mose in seiner Anrede Gottes dieses Bekenntnis noch einmal auf und gibt es an den richtigen Adressaten: »Ach Herr, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft aus Ägyptenland geführt hast. Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück heraus¬geführt, daß er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden?« (v. 11 f.) Und endlich erinnert er Gott daran, wie sich dieser in [194] seiner Verheißung an die Väter, Abraham, Isaak und Jakob doch schon längst selbst festgelegt habe. »Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte« (v. 14).
Auch der erwählende Gott, nicht nur der erwählte Mensch ist durch diese Erwählung gebunden! Das schließt hier ein, daß gerade von Gott her die Dauer dieser Erwählung ermöglicht wird. Sicher wird das auch wieder in Frage gestellt. Das kann sogar so geschehen, daß das besondere Verhältnis Gottes zum (sündigen) Israel in Frage gestellt wird: »Seid ihr Israeliten mir nicht wie die Mohren?, spricht der Herr. Habe ich nicht Israel aus Ägyptenland geführt und die Philister aus Kaftor und die Aramäer aus Kir?« So der Prophet Amos (9,7). Oder ich erinnere an das Gerichtswort des Propheten Hosea: »Ich fand Israel wie Trauben in der Wüste und sah eure Väter wie die ersten Feigen am Feigenbaum; aber hernach gingen sie zum Baal-Peor und gelobten sich dem schändlichen Abgott und wurden so zum Greuel wie ihre Liebhaber. Darum muß die Herrlichkeit Ephraims wie ein Vogel wegfliegen, daß sie weder gebären noch tragen noch schwanger werden sollen. Und wenn sie ihre Kinder auch großzögen, will ich sie doch kinderlos machen, so daß kein Mensch mehr da ist. Ja, weh ihnen, wenn ich von ihnen gewichen bin!« (Hos 9,10-12).
Aber zur prophetischen Gerichtsverkündigung gehört doch auch die Ansage kommenden Heils. Wir sollten uns freilich hüten, da dann das Gericht einseitig Israel zuzudenken und das Heil den Christen. Im Blick darauf, daß das endgültige Heil von Gott her aussteht, lassen sich die eschatologischen Verheißungen nicht einfach exklusiv in die eine oder andere Erwählungsgeschichte einbringen. Vielmehr kann ich hier nur darauf hinweisen, daß diese alttestamentlichen Erwählungsgeschichten zwar zusammenlaufen und im alttestamentlichen Kanon verbunden sind. Aber daß diese Erwählungsgeschichten nun einzig in die christliche Gemeinde übergehen, die sich damit auch allein legitim auf das »erste Testament« beziehen könnte, das ist uns heute längst nicht mehr so selbstverständlich, wie es lange Zeit in der christlichen [195] Kirche der Fall gewesen ist.
Doch die dogmatische Erörterung kann hier anstehen. Die bisher genannten Erwählungsgeschichten sind durch Kontext und Interpretation auf die Erwählung Israels festgelegt. Wenn wir aber auf die Vätergeschichten sehen, dann zeigen sich hier noch einmal Unstimmigkeiten, die wir nicht einfach beiseite schieben können. Da ist die grundlegende Erwählung Abrahams. Er soll zum großen Volk werden, und er soll ein Segen sein. Alle Geschlechter des Erdbodens sollen in ihm gesegnet werden. Wie aber kann sich das verwirklichen, wenn Sara, seine Frau, unfruchtbar ist? Hier kommt eine eigentümliche Erwählungsgeschichte zum Zug: Sie betrifft Hagar, die Magd der Sara, die sie Abraham gibt, damit er durch diese Frau Nachkommenschaft erhalte, und sie betrifft den von ihr geborenen Sohn Abrahams. Einerseits ist dieser Ismael Verkörperung wo nicht der Verwerfung, so doch derer, die übergangen sind von Gottes erwählendem Handeln. Bis zu Gal 4,21-31 geht diese Interpretation Ismaels. Hier bei Paulus ist er freilich dann Vorbildung eines Israel, das sich nicht dem Christus Gottes und der mit ihm gewährten Freiheit zuwendet, sondern in der Knechtschaft des Gesetzes verharrt. Da zeigt sich der Streit darüber, wie die Erwählung Abrahams weiter geht, noch im Neuen Testament. Dieser Streit wird in den Abrahamsgeschichten eben an Hagar und Ismael ausgetragen. Sara ist eifersüchtig auf die fruchtbare Hagar. Einmal wird diese von ihr selbst während ihrer Schwangerschaft vertrieben (1 Mose 16,4-14). Dann, als auch Isaak geboren ist, fürchtet Sara die Konkurrenz des früher geborenen Sohnes Abrahams und betreibt wieder dessen Ausstoßung mitsamt seiner Mutter. Aber er bleibt nicht ohne den Segen und die Erwählung Gottes. Im Erzählzusammenhang der verheißenen Geburt des Isaak, auf den die Abrahamsverheißung übergehen soll, wird auch Ismael mit Gottes Segen bedacht. In der Gottesrede findet sich der Passus: »Und für Ismael habe ich dich auch erhört. Siehe, ich habe ihn gesegnet und will ihn fruchtbar machen und über alle Maßen mehren. Zwölf Fürsten – an die zwölf Söhne Jakobs und so an Israel als [196] das Zwölfstämmevolk erinnert das – wird er zeugen und ich will ihn zum großen Volk machen« (1 Mose 17,20). Bei der folgenden Beschneidung wird nächst Abraham zuerst Ismael beschnitten, im Alter von 13 Jahren, wie bis heute die Muslime, die sich auf Ismael zurückführen. Er zuerst, und erst dann der hier noch gar nicht geborene Isaak wäre so der, der Abrahams Erwählung weiterführt.
Sicher wird diese Erwählung und die mit ihr verbundene Verheißung ausdrücklich an Isaak weitergegeben. Aber dort, wo dann von der endgültigen Austreibung der Hagar mit ihrem Sohn erzählt wird, zeigt sich doch wieder die besondere Fürsorge Gottes, die Ismael weiterleben läßt und verheißt, auch ihn zum großen Volk zu machen, wie Abraham das von Gott erbeten hatte (1 Mose 21,8-21).
Die hier zwischen Ismael und Isaak bestehende Konkurrenz darüber, wer der legitime Erbe der Abrahamsverheißung sei, wiederholt sich dann im Streit zwischen den Söhnen Isaaks, Jakob und Esau. Auch hier wird der jüngere Sohn als der legitime Erbe den Streit gewinnen. Aber zugleich bleibt Esau wenigstens ein Stück der Verheißung. Die Vätererzählungen können und wollen offenkundig nicht unterdrücken, daß die Abkunft von Abraham und das damit verbundene Gottesverhältnis nicht exklusiv Israel gehört.
Neben die Erwählung Abrahams und seiner Nachkommenschaft tritt dann die Erwählung Davids und seiner Nachkommen, die dauern soll. Da anders als beim erwählten Volk Israel die Kontinuität des Jerusalemer Königtums mit dem Exil abbricht, gewinnt hier die Erwählung ihre eschatologische Dimension. Der Davidsohn als der verheißene Messias wird in einer neuen Gestalt die Erwählung Davids weiterführen.
Hier tritt ja das Neue Testament ein, das im Matthäusevangelium mit dem Stammbaum des Davidssohnes Jesus einsetzt und so die an David ergangene Verheißung für Christus beansprucht. Und deren offenkundige Verwirklichung beschreibt dann die Johannesoffenbarung. Hier wird übrigens die Natanverheißung (vgl. 2 Sam 7,14) nicht nur als [197] in Christus erfüllt beschrieben. In Offb 21,7 wird sie auch ausgeweitet: »Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.«
Es bleibt hier zunächst als Frage stehen: Gibt es nur die eine durchgehende Erwählungsgeschichte und von daher dann auch nur die eine legitime Berufung auf Gottes Erwählung? Und auf wen läuft diese Erwählung hinaus? Da wäre es dann nur natürlich, daß jede der Gemeinschaften, die sich auf die Erwählung Abrahams berufen, sich selbst als diese einzig legitime Gemeinschaft bezeichnete, auf die sich Gottes Erwählungswille richte. Und wer am Ende die Legitimität des eigenen Erwähltseins behauptet, der wird ja dann auch den Anfang dieser Erwählungsgeschichte für sich beanspruchen und also das Recht anderer Gemeinschaften bestreiten, sich auf diese Erwählung zu berufen. Dann ist die eigene Gemeinschaft das Ziel des göttlichen Heilsratschlusses. Für das christliche Reden von Prädestination, vor allem im Umkreis und in der Folge der Reformation, ist dabei nicht nur die christologische Vermittlung der Erwählung charakteristisch. Charakteristisch ist auch, daß sich Gottes Heilsratschluß auf die in Sünde gefallenen Menschen richtet. Das betont einerseits einen auch für andere Erwählungsaussagen kennzeichnenden Zug: Der Grund der Erwählung ist nicht eine vorgegebene Qualität der Erwählten; allenfalls ließe sich sagen, daß die Erwählung dann den Erwählten eine besondere Qualität verleiht. Ausgenommen ist hier freilich Christus selbst, insbesondere in den modernen christlichen Fassungen der Prädestinationslehre, also etwa bei Kant, bei Schleiermacher und erst recht bei Karl Barth. Andererseits wird aber so die Universalität und damit letztlich auch die Einzigkeit der christlichen Erwählung begründet. Da nur hier in Christus Gott mit den Sündern Gemeinschaft stiftet, kann es angesichts der allgemeinen menschlichen Sündhaftigkeit auch nur hier wirkliche Gottesnähe von Menschen geben. Darum muß gerade im Blick auf die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen die Legitimität des Gottesverhältnisses in anderen Religionen, angefangen vom Judentum, bestritten werden. [198]
Wir geraten hier mit unseren dogmatischen Überlegungen in ein Dilemma. Das gilt gerade dann, wenn wir die Erwählung in Jesus Christus als grundlegende biblische Aussage festhalten wollen. Muß dann nicht die Erwählung exklusiv verstanden werden und also allen, deren Gottesverhältnis nicht wenigstens implizit christologisch begründet oder vermittelt ist, die Legitimität ihres religiösen Lebens bestreiten? Oder aber wir nehmen dann doch den universalen Anspruch Christi zurück und lassen neben diesem einzigen Weg (vgl. Joh 14,6) auch andere Wege zu Gott gelten.
Dann brauchte es freilich andere Kriterien als die Erwählung in Jesus Christus, wollen wir nicht in einen Relativismus abgleiten, der nur noch auf eine subjektive Gläubigkeit abhebt. Das ist ja, mindestens im Blick auf das Nebeneinander der christlichen Konfessionen, schon lange die volkstümliche Auskunft: Welchen »Glauben« – im Sinne der gemeinsam ausgeübten Religion – einer hat, das ist doch nicht so wichtig. Hauptsache, er glaubt richtig – im Sinne einer subjektiven Überzeugtheit.
Läßt sich ein solcher Subjektivismus überhaupt vermeiden? Die Frage läßt sich natürlich auch umkehren: Warum sollte ein solcher Subjektivismus vermieden werden? Ist er nicht in der Situation des auch religiösen Pluralismus in der gegenwärtigen Gesellschaft wenigstens für ein persönliches Glaubensverständnis die angemessene Lösung? Dann würde die Dogmatik gut daran tun, dem zu folgen.
Eine begründete Entscheidung ist hier kaum zu geben, wenn diese Begründung nach allgemein anerkannten Kriterien erfolgen soll. Auch ethische Kriterien werden hier nicht weiterhelfen, die danach fragen, welche Folgen religiöse Bindungen für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen haben. Wir könnten daher allenfalls auf die je eigene persönliche Geschichte verweisen, die wieder in die Geschichte der eigenen religiösen Gemeinschaft mit hineingehört. So bleibt gerade im Blick auf die heilsame Erwählung durch Gott in Jesus Christus nur der Verweis auf die eschatologische Bewahrheitung: [199] Es wird sich herausstellen, was der Wille des erwählenden Gottes mit uns gewesen ist.
In den Lobpreis dieses erwählenden Gottes und seines Christus werden wir die Gewißheit einbringen, daß er uns nicht übergangen hat, sondern uns zu den Seinen zählen will. Das schließt dann ein, daß wir anderen Menschen ihre Erwählung samt deren Geschichte nicht bestreiten.
Lit.: Gerhard Gloege, Zur Prädestinationslehre Karl Barths, in: Heilsgeschehen und Welt. Theologische Traktate 1. Bd, Göttingen 1965, 77-132; Friedrich Mildenberger, Biblische Dogmatik 1-3, Stuttgart 1991-1993.
Quelle: Ernstpeter Maurer (Hrsg.), Grundlinien der Dogmatik. Gerhard Sauter zum 70. Geburtstag, Rheinbach: CMZ, 181-199.