Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Max Horkheimer im Interview mit Helmut Gumnior (vollständiger Text): „Theologie bedeutet hier das Bewußtsein davon, daß die Welt Erscheinung ist, daß sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist. Theologie ist — ich drücke mich bewußt vorsichtig aus — die Hoffnung, daß es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, daß das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge.“

Helmut Gumnior hatte 1970 nicht nur für den SPIEGEL ein Interview mit Max Horkheimer geführt. Ein zweites Gespräch ist unter dem Titel „Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior“ als Buch im Furche-Verlag publiziert worden. Auch in diesem Gespräch geht es um die Gottesfrage:

H. G.: Was bedeutet hier aber Theologie?

MAX HORKHEIMER: »Ich will versuchen, das zu er­klären. Vom Standpunkt des Positivis­mus aus gesehen, läßt sich keine moralische Politik ablei­ten. Rein wissenschaftlich betrachtet, ist der Haß, bei aller sozial-funktionellen Differenz nicht schlechter als die Liebe. Es gibt kei­ne logisch zwingende Begründung dafür, warum ich nicht hassen soll, wenn ich mir dadurch im gesell­schaftlichen Leben keine Nachteile zuziehe.«

H. G.: Der Positivist kann also, wenn ich Sie recht verstanden habe, etwa im Sinne George Orwells sagen: Krieg ist so gut oder so schlecht wie Frie­den, Freiheit ist so gut oder so schlecht wie die Sklaverei, die Unterdrückung.

MAX HORKHEIMER: Das ist absolut richtig, denn wie läßt es sich exakt begründen, daß ich, wenn es mir Spaß macht, nicht hassen soll. Der Positivismus findet keine die Men­schen tran­szendierende Instanz, die zwischen Hilfsbereit­schaft und Profitgier, Güte und Grausamkeit, Habgier und Selbsthingabe unterschiede. Auch die Logik bleibt stumm, sie erkennt der morali­schen Gesinnung keinen Vorrang zu. Alle Ver­suche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen — selbst Kant hat dieser Neigung nicht immer widerstanden —, beruhen auf harmonistischen Illusionen. Alles, was mit Moral zusammen­hängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück, alle Moral, zumin­dest in den westlichen Län­dern, gründet in der Theologie — wie sehr man sich auch bemühen mag, die Theologie behutsam zu fassen.

H. G.: Nochmal meine Frage, Herr Horkheimer: Was bedeutet hier Theologie?

MAX HORKHEIMER: Auf keinen Fall steht Theolo­gie hier für die Wissenschaft vom Gött­lichen oder gar für die Wissenschaft von Gott. Theologie bedeutet hier das Bewußtsein davon, daß die Welt Erscheinung ist, daß sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist. Theologie ist — ich drücke mich bewußt vorsichtig aus — die Hoffnung, daß es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, daß das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge.

H. G.: Theologie als Ausdruck einer Hoffnung?

MAX HORKHEIMER: Ich möchte lieber sagen: Ausdruck einer Sehnsucht, einer Sehnsucht danach, daß der Mörder nicht über das unschuldige Op­fer triumphieren möge.

Hier das vollständige Interview:

Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Max Horkheimer im Interview mit Helmut Gumnior

»In einer wirklich freiheitlichen Gesinnung bleibt jener Begriff des Unendlichen als Bewußtsein der Endgültigkeit des irdischen Geschehens und der unabänderlichen Verlassenheit des Menschen erhalten und bewahrt die Gesellschaft vor einem blöden Optimismus, vor dem Aufspreizen ihres eigenen Wissens als einer neuen Religion.«

Diesen Satz schrieb Max Horkheimer vor 35 Jahren im amerikanischen Exil. Er war damals seit über einem Jahr in New York. Noch galt er zu der Zeit als Marxist, als Begründer einer Theorie, die gesellschaftliches Wirken als Produktionsprozeß zu begreifen versuchte, die Philosophie als Kampf und nicht als weltferne Spekulation verstand, die von einer Revolution eine heile Welt, den vernünftigen Zustand der Gesellschaft erwartete.

H. G.: Herr Horkheimer, wie kommt ein Marxist, ein Revolutionär dazu, einen solchen Satz zu schreiben?

MAX HORKHEIMER: Es stimmt, ich war Marxist, ich war Revolutionär. Ich habe nach dem Ersten Weltkrieg begonnen, mich mit Marx zu beschäf-[55]tigen, weil die Gefahr des Nationalismus offenkundig war. Ich glaubte, nur durch eine Revolution könnte der Nationalsozialismus beseitigt werden und zwar durch eine marxistische Revolution. Mein Marxismus, mein Revolutionärsein war eine Antwort auf die Herrschaft des Totalitären von rechts. Ich hatte aber schon damals Zweifel, ob die von Marx verlangte Solidarität des Proletariats schließlich zu einer richtigen Gesellschaft führen würde.

Marx ging von der Unterdrückung des Proletariats aus und verlangte, daß sich die Proletarier dieser Situation bewußt werden müssen. Dann würden sie entdecken, daß sie ein gemeinsames Interesse haben: die radikale Beseitigung der Unterdrückung.

In diesem Punkt hat sich Marx aber getäuscht. Die soziale Lage des Proletariats hat sich ohne Revolution verbessert, und das gemeinsame Interesse ist nicht mehr die radikale Veränderung der Gesellschaft, sondern nur noch eine bessere materielle Gestaltung des Lebens.

Es gibt aber eine Solidarität, und das versuchte ich in dem Satz, den Sie zitiert haben, anzudeuten, die nicht bloß die Solidarität einer bestimmten Klasse ist, sondern die alle Menschen verbindet. Ich meine die Solidarität, die sich daraus ergibt, daß die Menschen leiden müssen, daß sie sterben, daß sie endliche Wesen sind.

Insofern sind wir alle eins, haben wir alle ein [56] originär menschliches Interesse daran, eine Welt zu schaffen, in der das Leben aller Menschen schöner, länger, besser, leidensfreier und, wie ich noch hinzufügen würde — woran ich aber nicht wirklich glauben kann —, wir sollten das Interesse haben, eine Welt zu schaffen, die für die Entfaltung des Geistes günstiger ist.

H. G.: Sie sprechen von der Endlichkeit des Menschen. Damals sprachen Sie vom Begriff des Unendlichen, der sich als Bewußtsein der Endgültigkeit erhalte. Vor einigen Jahren haben Sie in einem Aufsatz über Schopenhauer geschrieben: »Ohne Gedanken an die Wahrheit und damit an das, was sie verbürgt, ist kein Wissen um ihr Gegenteil, die Verlassenheit der Menschen, um deretwillen die wahre Philosophie kritisch und pessimistisch ist, ja nicht einmal die Trauer, ohne die es kein Glück gibt«.

Bedeutet das, weil wir wissen, daß wir endliche Wesen sind, daß wir sterben müssen, wissen wir auch, daß es das Unendliche gibt, daß Gott existiert?

MAX HORKHEIMER: Nein, so kann man es nicht sagen. Wir können die Existenz Gottes nicht beweisen. Das Bewußtsein unserer Verlassenheit, unserer Endlichkeit ist kein Beweis für die Existenz Gottes, sondern es kann nur die Hoffnung hervorbringen, daß es ein positives Absolutes gibt. Angesichts des Leidens auf dieser Welt, an-[57]gesichts des Unrechts ist es doch unmöglich, an das Dogma von der Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes zu glauben.

Ausdrücklich gesagt: Das Wissen um die Verlassenheit des Menschen ist nur möglich durch den Gedanken an Gott, aber nicht durch die absolute Gewißheit Gottes.

H. G.: Was ist das für ein Gott, an den zu denken im Menschen das Bewußtsein der Verlassenheit hervorruft?

MAX HORKHEIMER: Dazu möchte ich sagen, daß wir über Gott eben nichts aussagen können. Das ist nicht nur, wie Sie vielleicht vermuten werden, eine Behauptung, die auf mein Judentum zurückgeht, sondern ein entscheidender Grundsatz der Kritischen Theorie. Wir können das Absolute nicht darstellen, wir können, wenn wir vom Absoluten reden, eigentlich nicht viel mehr sagen als dies: Die Welt, in der wir leben, ist eine relative. Aber lassen Sie mich noch etwas anderes sagen. Hätten wir die absolute Gewißheit, daß es einen Gott gibt, dann wäre unser Wissen von der Verlassenheit des Menschen ein Trug, dann könnten wir dieses Wissen eigentlich nicht haben.

H. G.: Sie sprachen vom Judentum. Worin besteht der Zusammenhang mit der Kritischen Theorie? [58]

MAX HORKHEIMER: Der fromme Jude zögert zum Beispiel, wenn er das Wort »Gott« schreiben soll. Er macht dafür einen Apostroph, weil für ihn Gott das »Unnennbare« ist, weil sich »Gott« nicht einmal in einem Wort darstellen läßt.

H. G.: Aber diese Scheu, Gott darzustellen, geht doch zurück auf das göttliche Gebot, das nach der Bibel dem Moses auf dem Berge Sinai verkündet worden ist: Du sollst dir kein Bild von Gott machen.

MAX HORKHEIMER: Natürlich ist es das. Aber sollten wir uns nicht fragen, warum es dieses Gebot gibt? Keine andere Religion außer dem Judentum kennt diese Vorschrift.

Ich glaube dieses Gebot gibt es deshalb, weil es in der jüdischen Religion nicht so sehr darauf ankommt, wie Gott ist, sondern wie der Mensch ist.

Ich denke an den Briefwechsel zwischen Paul Claudel und Andre Gide, in dem Claudel versucht, Gide zum Christentum zu führen. Gide schreibt darin an Claudel, daß es ihm unmöglich sei, an die Dogmen des Christentums zu glauben, und Claudel antwortet ihm etwa in dem Sinne:

Dann glaub es eben nicht, aber gehe in die Kirche und tue alles, was vorgeschrieben ist, dann wird es schon recht werden.

Ähnlich denken die Juden, die jahrtausende-[59]lang all die Vorschriften gehalten haben. Ein Rabbi mag vielleicht sagen: Lasse mich mit dem Glauben in Ruhe, aber tue, was vorgeschrieben ist.

Das Judentum steht deswegen auch dem Katholizismus viel näher als dem Protestantismus, weil im Katholizismus das Tun eine viel entscheidendere Rolle spielt als der Glaube. Der Begriff des Glaubens ist eigentlich eine Erfindung des Protestantismus, um einerseits die Wissenschaft, andererseits den Aberglauben nicht als die einzige Alternative gelten zu lassen. Um die Religion zu retten, hat man ein Drittes gefunden, den Glauben.

Für das Judentum hat es dieses Problem nie gegeben. Die Vorschriften bestimmen das gesamte Leben des frommen Juden. Das hat das Judentum zusammengehalten, denn ganz gleich, wohin ein Jude kam, seine Glaubensbrüder lebten nach denselben Geboten.

H. G.: Entscheidend ist also, wenn ich es zuspitzen darf, die eigene Haltung, das Tun; unwichtig ist, ob es einen Gott gibt, ob ich an ihn glaube oder nicht glaube.

MAX HORKHEIMER: Dialektisch gesehen ist es wichtig und unwichtig zugleich. Unwichtig deshalb, weil, wie ich schon gesagt habe, wir über Gott nichts sagen können, und die Lehre der christlichen Religion, daß es einen allmächtigen und [60] allgütigen Gott gibt angesichts des Leidens, das seit Jahrtausenden auf dieser Erde herrscht, kaum glaubhaft ist.

Wichtig ist es deshalb, weil hinter allem echten menschlichen Tun die Theologie steht. Denken Sie daran, was wir, Adorno und ich, in der »Dialektik der Aufklärung« geschrieben haben. Es heißt dort: Politik, die, sei es höchst unreflektiert, Theologie nicht in sich bewahrt, bleibt, wie geschickt sie sein mag, letzten Endes Geschäft.

H. G.: Was bedeutet hier aber Theologie?

MAX HORKHEIMER: »Ich will versuchen, das zu erklären. Vom Standpunkt des Positivismus aus gesehen, läßt sich keine moralische Politik ableiten. Rein wissenschaftlich betrachtet, ist der Haß, bei aller sozial-funktionellen Differenz nicht schlechter als die Liebe. Es gibt keine logisch zwingende Begründung dafür, warum ich nicht hassen soll, wenn ich mir dadurch im gesellschaftlichen Leben keine Nachteile zuziehe.«

H. G.: Der Positivist kann also, wenn ich Sie recht verstanden habe, etwa im Sinne George Orwells sagen: Krieg ist so gut oder so schlecht wie Frieden, Freiheit ist so gut oder so schlecht wie die Sklaverei, die Unterdrückung.

MAX HORKHEIMER: Das ist absolut richtig, denn wie läßt es sich exakt begründen, daß ich, wenn [61] es mir Spaß macht, nicht hassen soll. Der Positivismus findet keine die Menschen transzendierende Instanz, die zwischen Hilfsbereitschaft und Profitgier, Güte und Grausamkeit, Habgier und Selbsthingabe unterschiede. Auch die Logik bleibt stumm, sie erkennt der moralischen Gesinnung keinen Vorrang zu. Alle Versuche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen — selbst Kant hat dieser Neigung nicht immer widerstanden —, beruhen auf harmonistischen Illusionen. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück, alle Moral, zumindest in den westlichen Ländern, gründet in der Theologie — wie sehr man sich auch bemühen mag, die Theologie behutsam zu fassen.

H. G.: Nochmal meine Frage, Herr Horkheimer: Was bedeutet hier Theologie?

MAX HORKHEIMER: Auf keinen Fall steht Theologie hier für die Wissenschaft vom Göttlichen oder gar für die Wissenschaft von Gott. Theologie bedeutet hier das Bewußtsein davon, daß die Welt Erscheinung ist, daß sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist. Theologie ist — ich drücke mich bewußt vorsichtig aus — die Hoffnung, daß es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, daß das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge. [62]

H. G.: Theologie als Ausdruck einer Hoffnung?

MAX HORKHEIMER: Ich möchte lieber sagen: Ausdruck einer Sehnsucht, einer Sehnsucht danach, daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge.

H. G.: Das ist urchristlich. Auch der Christ hofft auf Gerechtigkeit, auf Bestrafung der Bösen und die Glückseligkeit für die Guten.

MAX HORKHEIMER: »Urchristlich« und urjüdisch, doch mit einem entscheidenden Unterschied.

Die Märtyrer des Christentums haben alle furchtbaren Qualen leichter erduldet, weil sie geglaubt haben, ihr irdisches Dasein sei nur ein kurzer Durchgang in die ewige Seligkeit, der sie persönlich teilhaftig werden — das ist besonders wichtig.

Ganz anders der jüdische Märtyrer. Er hat zumindest nicht notwendig daran geglaubt, etwas für sich persönlich zu erreichen, sondern er war der Überzeugung, in seinem Volk weiterzuleben. Die jüdischen Märtyrer opferten ihr Leben nicht für ihr eigenes Heil, sondern für das Heil des Volkes.

Im Judentum spielt der Einzelne nicht die große Rolle wie im Christentum. Wenn Sie das Alte Testament lesen — ich denke vor allem an die ersten fünf Bücher Mose — dann finden Sie dort, daß das Wort »Du« sowohl auf den Einzelnen [63] wie auf das ganze Volk zutrifft, ohne daß man es eindeutig trennen könnte.

Es ist doch auch durchaus möglich, daß die Übersetzung »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« nicht ganz die richtige ist, sondern daß es eigentlich heißen müßte, und eine meiner Schülerinnen hat darüber ihre Doktorarbeit geschrieben: »Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.«

H. G.: Mit der religiösen Bindung an das Volk, an ein bestimmtes Volk, mußte das Christentum doch aber brechen, um seinen Anspruch zu wahren, die Religion zu sein, durch die alle Menschen das Heil erreichen. Es gab ja im Urchristentum Auseinandersetzungen darüber, ob die anderen Völker missioniert werden sollten.

MAX HORKHEIMER: Das ist richtig. Das Christentum hat deshalb auch eine Reihe von Konzessionen machen müssen.

Die Griechen und Römer waren — um ein Beispiel zu nennen — Polytheisten, sie glaubten an viele Götter. Das Christentum behauptete demgegenüber, es gibt nur einen Gott, aber, und das war ungeheuer wichtig, in drei Personen.

Ich glaube, daß das Christentum, zumindest in den Anfängen, der Versuch war, das Judentum zu verbreiten. Es war deshalb besonders wichtig, Kompromisse zu schließen mit den religiösen Vorstellungen der anderen Völker, und einer [64] davon war eben der Versuch, den Monotheismus mit dem Polytheismus zu verbinden.

H. G.: Glauben Sie nicht, daß die Lehre von der Trinität, von den drei Personen und einem Gott, eher der Versuch war, den jüdischen Monotheismus mit der Vorstellung zu verbinden, daß Christus Gottes Sohn war? Das war für das Christentum sehr wichtig, denn Christus als Sohn Gottes lieferte den Beweis, daß das Gute in diese Welt von Gott kommen muß.

MAX HORKHEIMER: Ich würde sagen, die Trinitätslehre war auch der Versuch, Christus als Sohn Gottes in den strengen jüdischen Monotheismus einzubeziehen. Doch ich möchte auf ihre zweite Bemerkung näher eingehen.

Sie sagten, das Gute muß von Gott kommen. Dem kann ich — und zwar orthodox-christlich wie orthodox-jüdisch — entgegenhalten, daß das Gute nicht bloß von Gott kommt. Denn Christen wie Juden glauben daran, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen und der Mensch deshalb einen freien Willen hat. Wenn der Mensch das Gute tut, tut er es aus freiem Willen, genauso wie er aus freiem Willen das Schlechte tut, das ja auch nicht von Gott kommt.

Die großartigste Lehre in beiden Religionen, der jüdischen wie der christlichen, ist — ich berufe mich hier auf ein Wort Schopenhauers — die [65] Lehre von der Erbsünde. Sie hat die bisherige Geschichte bestimmt und bestimmt heute für den Denkenden die Welt. Möglich ist sie nur unter der Voraussetzung, daß Gott den Menschen mit einem freien Willen geschaffen hat.

Das Erste, was der Mensch tat, war, im Paradies diese große Sünde zu begehen, aufgrund deren die ganze Geschichte der Menschheit eigentlich theologisch zu erklären ist.

H. G.: Teilen Sie diese Ansicht Schopenhauers?

MAX HORKHEIMER: Ich bin auch in diesem Punkt ein Anhänger Schopenhauers. Auch ich glaube, daß die Lehre von der Erbsünde eine der bedeutendsten Theorien in der Religion ist.

Die Religion hatte doch eine gesellschaftliche Funktion, die sie heute verloren hat. Sie sagte nämlich: Wenn du das Gute tust im Sinne der Religion, dann wirst du belohnt werden, deine Seele wird in die Seligkeit eingehen; wenn du das Schlechte tust, wenn du sündigst, wirst du bestraft werden, dann wartet die Hölle auf dich. Das hat Schopenhauer natürlich geleugnet, aber er hat etwas Ähnliches gesagt. Für ihn wird derjenige, der das Schlechte tut, der mit seinem Willen zum Leben den Willen der anderen Individuen negiert, der sein Glück auf Kosten des Glücks der anderen sucht, wiedergeboren in irgendeiner Weise, ohne daß er um sein vorheriges Leben weiß. Er muß all die Leiden selber [66] durchmachen, bis ihm wie einem wahren und echten Märtyrer, das Leid der anderen so nahe ist wie sein eigenes Leid, bis er Mitleid und Mitfreude empfinden kann.

Jetzt können Sie auch verstehen, warum Schopenhauer die Erbsünde eine so großartige Lehre nannte. Die Bejahung des eigenen Selbst, die Negation der anderen Individuen ist für Schopenhauer eigentlich die Erbsünde.

H. G.: Ich möchte auf eine Bemerkung von Ihnen zurückkommen, die mich erstaunt hat. Sie sagten, die Religion sei im Begriff ihre gesellschaftliche Funktion zu verlieren. Mir scheint, daß gerade heute die Religion versucht, eine gesellschaftliche Funktion im technischen Zeitalter zu finden. Ich denke an die neue Theologie, sowohl auf protestantischer wie auf katholischer Seite, die eine Liberalisierung der Religion zum Ziel hat.

MAX HORKHEIMER: Die moderne Liberalisierung der Religion führt, wie mir scheint, zum Ende der Religion. Es muß doch jeder, bewußt oder nur halbbewußt, die Überzeugung gewinnen, daß die Liberalisierung der Theologie der gängigen Politik entgegenkommt. Man macht Konzessionen, schließt Kompromisse, paktiert mit der Wissenschaft. Dabei kann uns doch die Wissenschaft nicht mehr sagen, als daß die Erde ein Mikro-Atom ist, ein Kügelchen schwebend im [67] unendlichen Universum, ein Kügelchen mit einem Schimmelüberzug.

H. G.: Soll ihrer Meinung nach die Religion wieder zurückkehren zu Geboten und Verboten? Soll sie den Guten die Seligkeit im Paradies und den Bösen die Hölle verheißen?

MAX HORKHEIMER: Nein, das kann sie nicht. Sie kann aber dem Menschen bewußt machen, daß er ein endliches Wesen ist, daß er leiden und sterben muß; daß aber über dem Leid und dem Tod die Sehnsucht steht, dieses irdische Dasein möge nicht absolut, nicht das Letzte sein.

Vielleicht wird aber das, was ich unter der gesellschaftlichen Funktion der Religion verstehe, von der ich meine, daß sie verlorengegangen ist, durch das deutlich, was ich vor vielen Jahren geschrieben habe.

Im Gottesbegriff war lange Zeit die Vorstellung aufbewahrt, daß es noch andere Maßstäbe gebe als diejenigen, welche Natur und Gesellschaft in ihrer Wirksamkeit zum Ausdruck bringen. Aus der Unzufriedenheit mit dem irdischen Schicksal schöpft die Anerkennung eines transzendenten Wesens ihre stärkste Kraft. In der Religion sind die Wünsche, Sehnsüchte und Anklagen zahlloser Generationen niedergelegt. Je mehr aber im Christentum das Walten Gottes mit dem diesseitigen Geschehen in Einklang gebracht wurde, hat sich dieser Sinn der Religion [68] verkehrt. Schon dem Katholizismus galt .Gott in bestimmter Hinsicht als Schöpfer der irdischen Ordnung, der Protestantismus führte den Weltlauf geradewegs auf den allmächtigen Willen zurück. Dadurch wird nicht nur das jeweilige irdische Regiment mit dem Scheine göttlicher Gerechtigkeit verklärt, sondern diese selbst auf die faulen Verhältnisse der Wirklichkeit heruntergebracht. Das Christentum hat in gleichem Maße die kulturelle Funktion, Idealen Ausdruck zu verleihen, eingebüßt, wie es zum Bundesgenossen des Staates geworden ist.

H. G.: Gerade das lehnen moderne Theologen heute ab. Die Kirchen wollen die Rolle einer kritischen Instanz in der Gesellschaft übernehmen, zumindest wünschen einige Theologen, daß sie es tun sollen. Über die schlechten irdischen Verhältnisse sollen die Gläubigen nicht mehr mit einem transzendenten Paradies hinweggetröstet werden, die Kirchen sollen zum Träger der Revolution werden.

MAX HORKHEIMER: Ich möchte das in keiner Weise diskreditieren. Aber Sie sprechen jetzt von den Kirchen, ich sprach von der Religion. Religion kann man nicht säkularisieren, wenn man sie nicht aufgeben will. Es ist eine vergebliche Hoffnung, daß die aktuellen Diskussionen in der Kirche Religion erhalten werden, wie sie in ihrem Anfang lebendig war; denn der gute Wille, [69] die Solidarität mit dem Elend und das Streben nach einer besseren Welt haben ihr religiöses Gewand abgeworfen.

H. G.: Bleibt also für die Religion nur die Sehnsucht nach dem Unendlichen?

MAX HORKHEIMER: Die Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit. Diese kann in der säkularen Geschichte niemals verwirklicht werden; denn selbst wenn eine bessere Gesellschaft die gegenwärtige soziale Unordnung ablösen würde, wird das vergangene Elend nicht gutgemacht und die Not in der umgebenden Natur nicht aufgehoben.

H. G.: Wir sprachen vorhin davon, daß hinter allem echten menschlichen Tun Theologie steht, daß alle Moral in der Hoffnung auf Gott gründet. Kann diese Sehnsucht aber ausreichen, um moralisches Handeln zu ermöglichen? Wir müssen, meine ich, nochmal zurück auf unser zentrales Thema. In einem Aufsatz zum 60. Geburtstag Adornos haben Sie geschrieben:

»Einen unbedingten Sinn ohne Gott zu retten, ist eitel«. Heißt das nicht, moralisches Handeln muß sich auf Gott berufen können?

MAX HORKHEIMER: Nein, denn wir können uns nicht auf Gott berufen. Wir können nicht behaupten, es gebe einen allmächtigen Gott, der uns ständig vorhält, was gut und böse ist. [70]

Doch ich möchte zunächst nochmal auf die Sehnsucht zu sprechen kommen. Vielleicht verstehen Sie, warum ich sie so betone, wenn ich Sie auf einen Aufsatz von mir aus dem Jahre 1933 hinweise. Damals habe ich versucht, ein Bild der Welt zu zeichnen, an dem ich bis heute kaum etwas ändern muß.

Der im Weltmaßstab sich austragende Kampf der großen ökonomischen Machtgruppen wird unter Verkümmerung guter menschlicher Anlagen, unter Aufbietung von Lüge im Inneren und Äußeren und unter Entwicklung eines unermeßlichen Hasses geführt. Die Menschheit ist in der bürgerlichen Periode so reich geworden, gebietet über so große natürliche und menschliche Hilfskräfte, daß sie geeinigt unter würdigen Zielsetzungen existieren könnte. Die Notwendigkeit, diesen allenthalben durchscheinenden Tatbestand zu verhüllen, bedingt eine Sphäre der Heuchelei, die sich nicht nur auf die internationalen Beziehungen erstreckt, sondern auch in die privatesten eindringt, eine Minderung kultureller Bestrebungen einschließlich der Wissenschaft, eine Verrohung des persönlichen und öffentlichen Lebens, so daß sich zum materiellen noch das geistige Elend gesellt. Nie stand die Armut der Menschen so in schreiendem Gegensatz zu ihrem möglichen Reichtum als gegenwärtig, nie waren alle Kräfte grausamer gefesselt als in diesen Generationen, wo die Kinder hungern [71] und die Hände der Väter Bomben drehen. Die Welt scheint einem Unheil zuzutreiben oder sich vielmehr schon in ihm zu befinden, das innerhalb der uns vertrauten Geschichte nur mit dem Untergang der Antike verglichen werden kann. Die Sinnlosigkeit des Einzelschicksals, die durch den Mangel an Vernunft, durch die bloße Natürlichkeit des Produktionsprozesses schon früher bedingt war, hat sich in der gegenwärtigen Phase zum eindringlichsten Kennmal des Daseins gesteigert. Jeder ist dem blinden Zufall preisgegeben.

Deshalb diese Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit.

H. G.: Sie sagten, wir können uns nicht auf Gott berufen, wir können nur sagen, daß wir endliche Wesen sind. Aber ist Endlichkeit zu begreifen ohne Wissen über das Unendliche?

MAX HORKHEIMER: Ohne etwas vorn Unendlichen zu wissen, können wir sehr wohl unsere eigene Endlichkeit erkennen. Erfahren wir nicht Leid und Tod als Markierungen einer Grenze, als Zeichen unserer Beschränktheit, erleben wir nicht tagtäglich, daß wir so geworden sind, wie wir sind, geworden sind durch Vorgänge, für die wir gar nichts können?

Ich will Ihnen dafür ein Beispiel geben:

Wenn ein kleines Kind seine Arme nach der Mutter ausstreckt und die Mutter beantwortet die-[72]ses Verlangen nach ihr mit einer falschen Bewegung, gleichgültig und kalt, dann kann das den Charakter des Kindes, sein späteres Verhalten zur Welt entscheidend prägen; denn es wird verschreckt und zieht sich in sich zurück.

H. G.: Nochmal auf meine Frage zurück. Wie ist moralisches Handeln möglich?

MAX HORKHEIMER: Auf Gott können wir uns nicht berufen. Wir können nur handeln mit dem inneren Gefühl, daß es einen Gott gibt.

Aber das ist nicht die einzige Quelle der Moral. Ich kann auch für einen Menschen etwas Gutes tun, in der bewußten oder unbewußten Erwartung, daß mein positives Handeln ihm gegenüber mein eigenes Leben schöner macht.

H. G.: Heißt das: Ich erwarte, eine höhere Instanz belohnt mein positives Handeln?

MAX HORKHEIMER: Nein. Daß aus diesem Tun für den Anderen, daß aus dieser Hingabe an den Anderen für mich etwas Positives entsteht, hängt doch davon ab, ob der andere Mensch Freude an diesem Tun hat. Seine positiven Reaktionen, seine Freude über mein Tun machen erst mein eigenes Leben schöner. Denken Sie an Liebe und Freundschaft. Wenn der andere glücklich ist, bin auch ich glücklich.

Es muß also nicht notwendig der Gedanke an Gott sein, der mein Handeln gegenüber dem [73] anderen Menschen bestimmt, der meinem Handeln die Qualität verleiht, die wir Moral nennen. Es kann einfach die Tatsache sein, daß mein Leben, selbst wenn ich es für den anderen Menschen opfern muß durch die Reaktionen des Anderen verschönt wird.

Wenn ich heute an meine eigene Ehe zurückdenke, so muß ich sagen, daß viele schöne Züge dieser Ehe auf der soeben besprochenen Tatsache beruhten. Ja meine Ehe hat sich dann so gestaltet, daß nicht nur meine Frau ihr Leben für mich geopfert hätte, sondern daß sie für mich selbst zum Höchsten geworden ist. Diese Erfahrung ist auch der Grund, warum ich so kritisch über die an sich notwendige Auflösung der erotischen Liebe in der Gegenwart denke.

H. G.: Herr Horkheimer, Sie haben zum nicht geringen Erstaunen vieler ihrer Schüler und Freunde versucht, die Enzyklika des Papstes zu rechtfertigen, in der er den Katholiken den Gebrauch künstlicher geburtenregelnder Mittel untersagte. Der Papst berief sich dabei auf ein göttliches Gebot. Worauf haben Sie sich bei Ihrer Verteidigung des Verbotes berufen?

MAX HORKHEIMER: Die Kritische Theorie, und ich habe als kritischer Theoretiker gesprochen, hat eine doppelte Aufgabe. Sie will das, was verändert werden soll, bezeichnen, sie will aber auch das, was zu erhalten ist, nennen. Sie hat deshalb [73] auch die Aufgabe, zu zeigen, welchen Preis wir für diese oder jene Maßnahme, für diesen oder jenen Fortschritt bezahlen müssen. Die Pille müssen wir mit dem Tod der erotischen Liebe bezahlen.

H. G.: Warum?

MAX HORKHEIMER: Liebe gründet in der Sehnsucht, in der Sehnsucht nach der geliebten Person. Sie ist nicht frei vom Geschlechtlichen. Je größer die Sehnsucht nach Vereinigung mit dem geliebten Menschen ist, um so größer ist die Liebe. Hebt man nun dieses Tabu des Geschlechtlichen auf, fällt die Schranke, die Sehnsucht weitgehend erzeugt, dann verliert die Liebe ihre Basis.

H. G.: Und dies meinen Sie, geschehe etwa durch die Pille?

MAX HORKHEIMER: Ja. Die Pille macht Romeo und Julia zu einem Museumsstück. Lassen Sie es mich drastisch sagen: Heute würde Julia ihrem Romeo erklären, daß sie nur noch schnell die Pille nehmen wolle und dann zu ihm komme.

H. G.: Aber ist die Pille, etwa im Hinblick auf die Dritte Welt, auf die unterentwickelten Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika, im Hinblick auf das Damoklesschwert einer Überbevölkerung nicht ein Fortschritt? [75]

MAX HORKHEIMER: Das leugne ich nicht. Ich halte es jedoch für meine Pflicht, den Menschen klarzumachen, daß wir für diesen Fortschritt einen Preis bezahlen müssen und dieser Preis ist die Beschleunigung des Verlustes der Sehnsucht, letztlich der Tod der Liebe.

H. G.: Unser Dialog kreist wieder um die Sehnsucht. Sie und Adorno haben auch von der Sehnsucht nach dem Anderen gesprochen…

MAX HORKHEIMER: Ich habe gerade in den letzten Tagen versucht, das zu erläutern: Für die Metaphysik gilt die von Kant am klarsten formulierte Kritik an allen Vorstellungen, die ein Anderes, der Erscheinung zugrunde liegendes, sie überschreitendes Absolutes, meinten bezeichnen zu können. Das positive solcher Ideen, vor allem die Existenz eines allmächtigen, allgütigen Gottes, zu der sowohl die Theologie als manche der großen Aufklärer sich bekannten, ist logisch nicht exakter zu begründen als der absolute Geist, der allgemeine Wille oder das Nichts. Wie auch immer ein die Welt der Erscheinung Transzendierendes, positiv oder negativ Unbedingtes, sich darstellt, es widerspricht der Einsicht, daß alle vom Verstand anerkannte Realität den intellektuellen Funktionen des Subjekts sich verdankt und somit selbst als fragwürdiges Moment der Erscheinung zu begreifen ist. Je weiter der Fortschritt, desto gefährdeter nicht [76] nur der Glaube, sondern die wahre Sehnsucht nach einem Besseren. Ebendaher wird alles nicht rein positivistische Denken und Fühlen mehr und mehr zu einem Phänomen der Kindheitsperiode der Menschheit, die zu einem entscheidenden Faktor des bewußten und unbewußten Pessimismus der Gegenwart gehört.

H. G.: Das bedeutet, der Fortschritt gefährdet auch die Sehnsucht.

MAX HORKHEIMER: Ich bin mehr und mehr der Meinung, man sollte nicht von der Sehnsucht sprechen, sondern von der Furcht, daß es diesen Gott nicht gebe.

H. G.: Herr Horkheimer, man diskutiert heute sehr heftig darüber, ob in der kritischen Theorie eine Theologie verborgen ist. Kann man diese Frage mit ja beantworten?

MAX HORKHEIMER: Die kritische Theorie enthält zumindest einen Gedanken ans Theologische, ans Andere. Das bedeutet nicht, daß der Versuch, eine vernünftigere, das heißt gerechtere Gesellschaft zu schaffen negiert wird. Nur eben daß auch eine verhältnismäßig gerechte Ordnung, die ja, wie ich schon oft gesagt habe, mit der Einschränkung der Freiheit bezahlt wird, nicht das Letzte sei, sondern nur die plausible Ordnung des Bestehenden, unter anderem die Abschaffung sinnloser Grausamkeit. [77]

Es ist doch bemerkenswert, daß der Niedergang der Religion fast synchron verläuft mit dem Beginn sozialer Revolutionen, mit dem Wunsch nach einer besseren Gestaltung des Lebens. Ich glaube, indem die Ideen der Auferstehung von den Toten, des Jüngsten Gerichts, des ewigen Lebens als dogmatische Setzungen negiert werden, wird das Bedürfnis des Menschen nach unendlicher Seligkeit ganz offenbar und tritt zu den schlechten irdischen Verhältnissen in Gegensatz.

H. G.: Karl Marx hat daraus seine Theorie vom Klassenkampf, von der Diktatur des Proletariats entwickelt.

MAX HORKHEIMER: Marx ist meinem Gefühl nach vom Messianismus des Judentums bestimmt worden, während für mich die Hauptsache blieb, daß Gott nicht darstellbar ist, daß aber dieses Nicht-Darstellbare der Gegenstand unserer Sehnsucht ist.

Ich habe deshalb auch gewisse Schwierigkeiten gehabt, wie ich die Gründung des jüdischen Staates in Israel anstatt in einer anderen Region beurteilen soll. In der Bibel heißt es doch, der Messias werde die Gerechten aller Völker nach Zion führen. Ich denke noch immer darüber nach, wie der Staat Israel, den ich bejahe, diese Prophezeiung heute exakt zu deuten hat. Ist Israel das biblische Zion?

So wie die Dinge sind, scheint mir die Lösung [78] darin zu liegen, daß die Verfolgung der Juden — und die gehört zu der Prophezeiung — trotz des Staates Israel weitergeht. Israel ist heute ein bedrängtes Land, wie die Juden immer bedrängt waren. Man hat daher Israel zu bejahen. Für mich ist entscheidend: Israel ist das Asyl für viele Menschen. Aber es scheint mir trotzdem nicht leicht, es heute mit den Voraussagen des Alten Testaments schlicht in Einklang zu bringen.

H. G.: Herr Horkheimer, wir haben vorher versucht, der verborgenen Theologie in ihrer kritischen Theorie auf die Spur zu kommen, wir haben versucht, die Instanz für moralisches Handeln zu finden. Könnte nicht diese Instanz das Gewissen sein?

MAX HORKHEIMER: Ganz bestimmt war das Gewissen eine solche Instanz. Ich sage bewußt: war, denn ich fürchte, daß es heute schon in Frage gestellt ist.

Freud lehrt, daß das Gewissen im Menschen entsteht durch die Autorität des Vaters. Indem die Kinder vom Vater täglich hören: »Seid fleißig, sagt die Wahrheit, tut das Rechte!« gehen diese Maximen in ihre Psyche ein. Schließlich vernehmen sie die Stimme des Vaters als ihre eigene.

In der Pubertät hält dann das Kind dem Vater die Forderungen als seine eigenen entgegen: »Sprichst du denn immer die Wahrheit, bist du immer fleißig, tust du immer das Rechte«. Es [79] kommt in sehr vielen Fällen zu Konflikten. Erst wenn der Sohn die Pubertät überwunden hat, versteht er, daß man in dieser Welt eigentlich nicht immer die Wahrheit sagen, nicht immer das tun kann, was den Forderungen unmittelbar entspricht. Dann ist er erwachsen.

H. G.: Aber wo ist der Anfang? Warum konnte der »erste« Vater sagen: »Sag die Wahrheit, tut das Rechte?« Woher nahm er selbst diese Maximen?

MAX HORKHEIMER: Sicherlich spielte dabei die Religion eine entscheidende Rolle. Aber viel wichtiger ist doch, daß diese Gewissensbildung heute gefährdet ist. Durch die zahlreichen soziologischen, psychologischen und technischen Veränderungen insbesondere der bürgerlichen Familie, zu denen man auch die Pille zählen kann, ist doch die Autorität des Vaters erschüttert. Daraus, so glaube ich, ergeben sich große Konsequenzen. Spielt das Gewissen, da die Autorität des Vaters nicht mehr dieselbe ist wie früher, eine andere Rolle? Oder kann es sich überhaupt nicht mehr herausbilden? Das sind Fragen, die heute überhaupt nicht untersucht werden. Ich glaube, aufgrund des Umstandes, daß die Familie heute nicht mehr die Bedeutung hat wie früher, wird unser gesellschaftliches Leben ganz entscheidend verändert.

Eines scheint in jedem Fall klar zu sein, daß der [80] Zusammenbruch des Vater-Mythos, ohne auch nur einigermaßen entsprechenden Ersatz, die Existenz des Gewissens als gesellschaftliches Phänomen in Frage stellt.

Die Mutter, die einen Beruf ausübt, ist etwas völlig anderes als die Mutter, deren Lebensaufgabe die Erziehung der Kinder war. Der Beruf verdinglicht ihre Gedanken. Dazu kommt noch etwas anderes. Sie ist gleichberechtigt. Sie strahlt, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr die Liebe aus wie vorher. Die Mutter bewahrte bisher ihre Natur als Ganzes und strahlte sie aus, durch ihre Sprache, ihre Gebärden. Ihre bewußten und unbewußten Reaktionen — erinnern Sie sich an das Beispiel, das ich genannt habe — spielten eine entscheidende Rolle in der Erziehung. Sie prägten das Kind vielleicht entschiedener als die Weisungen.

H. G.: Kann man das Rad der Entwicklung zu rückdrehen?

MAX HORKHEIMER: Ich gehe davon aus, man kann den Prozeß nicht rückgängig machen, es sei denn etwa durch grauenvolle Katastrophen, wie ein Nuklearkrieg. Man kann aber von dem, was verlorengeht, etwas bewahren, indem man – und hier wird wieder deutlich, was ich unter kritischer Theorie verstehe — auch die Negativität dieser Prozesse deutlich macht.

Hier in der Schweiz, um Ihnen ein weiteres Bei-[81]spiel zu nennen, tobt doch ein ständiger Kampf um die Gleichberechtigung der Frau. Ich meine, Nietzsche hatte völlig recht, als er sagte, die Frau wird mit der Gleichberechtigung das Wichtigste verlieren, was sie hat: das nicht verdinglichte, das nicht bloß pragmatische Denken.

H. G.: Aber spielt der kritische Theoretiker nicht dabei die tragische Rolle des Don Quichotte? Er kämpft doch gegen die Entwicklung, gegen das, was Sie die immanente Logik der Geschichte nennen, auf die wir noch zu sprechen kommen. Er hat nicht einmal die Chance, mögliche Veränderungen, die er bewirkt hat, zu erleben.

MAX HORKHEIMER: Diese Frage läßt sich auf verschiedenste Weise beantworten, psychologisch, philosophisch und theologisch. Lassen Sie mich sie theologisch beantworten.

Ich versuche einfach deshalb, die negativen Auswirkungen bestimmter Entwicklungen deut¬lich zu machen, weil ich glaube, daß die Liebe besser ist als der Haß, daß ich damit Postulate beachte, auch wenn ich mich dabei nicht auf Gott berufen kann. Und ich glaube, das gilt nicht nur für mich, sondern für alle Menschen.

H. G.: Das würde bedeuten: Auch hinter den Revolutionären des Proletariats, hinter Liebknecht, Rosa Luxemburg, um einige Namen zu nennen, die für die Gesellschaft etwas tun wollten, [82] auch in dem Bewußtsein, den Sieg ihrer Idee nicht zu erleben, auch hinter ihnen steht das Theologische. Sie haben es getan aus Liebe zu den Menschen.

MAX HORKHEIMER: Um der Liebe zu den Menschen willen. Und jetzt kommen wir wieder zu dem Punkt, an dem das Judentum für mich so interessant ist: Die Identifikation nicht mit dem, sondern mit den Anderen. Ich bin am Schicksal der Anderen interessiert, ich weiß mich als Glied der Menschheit, in der ich fortleben werde.

Wenn ich an mich denke, denke ich an mich als ein Glied dieser Menschheit.

So haben sich die Märtyrer und Aufklärer aller Zeiten selbst aufgegeben, damit andere leben sollten.

Es ist mir sehr wichtig, an dieser Stelle wiederum den Zusammenhang mit der kritischen Theorie deutlich zu machen. Die wahre gesellschaftliche Funktion der Philosophie liegt in der Kritik des Bestehenden. Das bedeutet keine oberflächliche Nörgelei über einzelne Ideen oder Zustände, so als ob ein Philosoph ein komischer Kauz wäre. Es bedeutet auch nicht, daß der Philosoph diesen oder jenen isoliert genommenen Umstand beklagt und Abhilfe empfiehlt. Das eigentliche Ziel einer derartigen Kritik ist es zu verhindern, daß die Menschen sich an jene Ideen und Verhaltensweisen verlieren, welche die Ge-[83]sellschaft in ihrer jetzigen Organisation ihnen eingibt. Die Menschen sollen den Zusammenhang zwischen ihren individuellen Tätigkeiten und dem, was durch diese erreicht wird, einsehen lernen, zwischen ihrer besonderen Existenz und dem allgemeinen Leben der Gesellschaft, zwischen ihren täglichen Projekten und den großen Ideen, die sie anerkennen.

H. G.: Erscheint dies nicht als Illusion, angesichts dessen, was Sie die immanente Logik der Geschichte nennen, angesichts ihres düsteren Zukunftsbildes von einer verwalteten Welt?

MAX HORKHEIMER: Zunächst einmal: Die immanente Logik der Geschichte, so wie ich sie heute verstehe, führt tatsächlich zur verwalteten Welt. Durch die sich entfaltende Macht der Technik, das Wachstum der Bevölkerung, die unaufhaltsame Umstrukturierung der einzelnen Völker in straff organisierte Gruppen, durch schonungslosen Wettbewerb zwischen den Machtblöcken, scheint mir die totale Verwaltung der Welt unausweichlich geworden zu sein. Mit der Wissenschaft und der Technik hat sich der Mensch die ungeheuren Kräfte der Natur unterworfen. Wenn diese Kräfte — zum Beispiel die Nuklear-Energie — nicht zerstörerisch wirken sollen, müssen sie von einer wirklich rationalen Zentralverwaltung in Obhut genommen werden. Die moderne Pharmazeutik hat — um ein an-[84]deres Beispiel zu nennen — durch die Pille die menschliche Zeugungskraft manipulierbar gemacht. Eines Tages werden wir auch eine Geburtenverwaltung brauchen.

Ich glaube, daß die Menschen dann in dieser verwalteten Welt ihre Kräfte nicht werden frei entfalten können, sondern sie werden sich an rationalistische Regeln anpassen, und sie werden diesen Regeln schließlich instinktiv gehorchen. Die Menschen dieser zukünftigen Welt werden automatisch handeln: bei rotem Licht stehen, bei Grün marschieren. Sie werden den Zeichen gehorchen.

Die Individualität wird eine immer geringere Rolle spielen. Im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Liberalismus, kam es noch sehr auf den Einzelnen, die Persönlichkeit an. Er hat große Unternehmungen geleitet, in eigner Verantwortung, es gab auch noch die Persönlichkeit in der Geschichte. Aber schon heute ist es relativ leicht, ein Mitglied eines Fabrikdirektoriums oder einen Minister auszuwechseln, durch eine andere Figur zu ersetzen.

H. G.: Und was wird aus dem freien Willen?

MAX HORKHEIMER: Wir werden ihn bei den Menschen etwa in der Weise suchen können wie bei den Bienen und Ameisen und den vielen anderen Wesen dieser Erde. [85]

H. G.: In der verwalteten Welt wird es also keinen freien Willen geben?

MAX HORKHEIMER: Eine verbindliche Antwort kann ich darauf nicht geben. Ich meine aber, heute schon sagen zu können, daß die immanente Logik der gegenwärtigen historischen Entwicklung, soweit sie durch Katastrophen nicht unterbrochen wird, auf eine Aufhebung des freien Willens hinweist.

H. G.: Das klingt nach Untergangsstimmung.

MAX HORKHEIMER: Ich möchte das einschränken. Die europäische Zivilisation im Sinn des 19. Jahrhunderts hat nur eine sehr geringe Aussicht, wahrscheinlich gar keine, sich in den nächsten Jahrhunderten fortzusetzen. Trotzdem wird die verwaltete Welt aber auch eine positive Seite haben: Die materiellen Bedürfnisse der Menschen können befriedigt werden.

H. G.: Mir scheint aber doch, daß Ihr Urteil über die verwaltete Welt ein sehr negatives, ein sehr pessimistisches ist.

MAX HORKHEIMER: Ich möchte sagen, es ist nicht nur pessimistisch. Vielleicht können auch in der verwalteten Welt Kräfte entfaltet werden, die einen nicht ausschließlich technischen Fortschritt hervorbringen. Zunächst einmal im Hinblick auf die Gerechtigkeit, den Fortfall der durch [86] den chaotischen Zustand der Welt bedingten Konflikte, ja vielleicht auch das Bewußtsein einer universalen Solidarität.

H. G.: Aber, daß die verwaltete Welt kommen wird, ist gewiß?

MAX HORKHEIMER: Lassen Sie es mich so sagen: Der Prozeß der Entwicklung kann nicht willkürlich in einem gegebenen Augenblick rückgängig gemacht werden, denn die totale Transformation wirklich jeden Seinsbereichs in ein Gebiet von Mitteln führt letzten Endes zur Liquidation des Subjekts, das sich ihrer bedienen soll. Man kann einen solchen Prozeß nicht rückgängig machen. Man kann nur versuchen, etwas von dem Überlieferten zu bewahren, indem man die Wandlungen auch in ihrer Negativität sichtbar macht.

Gerechtigkeit und Freiheit sind nun einmal dialektische Begriffe. Je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit; je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das ist eine wundervolle Parole. Aber wenn Sie die Gleichheit erhalten wollen, dann müssen Sie die Freiheit einschränken, und wenn Sie den Menschen die Freiheit lassen wollen, dann kann es keine Gleichheit geben. Wir sprachen vorhin vom Liberalismus. Dazu möchte ich noch etwas sagen. Marx projizierte die allseitige Entfaltung der Persönlichkeit als Ziel in die [87] Zukunft. Doch eben diese Entfaltung ist ein Produkt des liberalistischen Zeitalters, ein Produkt, das mit dem Liberalismus verschwindet. Das Thema dieser Zeit ist Selbsterhaltung, während es gar kein Selbst zu erhalten gibt.

H. G.: Wenn die Entwicklung der Gesellschaft einer ihr selbst immanenten Logik unterliegt, wenn die Anpassungszwänge für den Einzelnen immer größer werden, wenn die Rolle der Individualität immer kleiner wird, welchen Nutzen hat dann noch eine Gesellschaftstheorie?

MAX HORKHEIMER: Da sage ich zunächst bescheiden: Wir leben ja noch nicht in der vollautomatisierten Gesellschaft, noch ist unsere Welt nicht total verwaltet. Wir können heute noch sehr viele Dinge tun, selbst wenn sie später überholt werden sollten.

H. G.: Aber wir können uns dem, was Sie die immanente Logik der Geschichte, der gesellschaftlichen Entwicklung nennen, nicht widersetzen, wir können die Entstehung der verwalteten Welt nicht verhindern?

MAX HORKHEIMER: Nein, das können wir nicht. Aber wir können vielleicht helfen, grauenvolle Zwischenfälle in der Entwicklung zu vermeiden.

H. G.: Könnte nicht, Herr Horkheimer, für viele [88] Menschen der pharmazeutisch produzierte Traum ein Ausweg werden?

MAX HORKHEIMER: Die Totalverwaltung der Welt wird Rauschmittel, soweit sie der Gesundheit schädlich werden können, abschaffen. Vielleicht wird sie ungefährliche Mittel einführen, denn die Welt wird ja langweilig sein.

H. G.: Und die Theologie, die Sehnsucht nach dem Absoluten, was wird aus ihr in der total verwalteten Welt?

MAX HORKHEIMER: Diese Sehnsucht wird es vielleicht auch in der verwalteten Welt geben. Denn selbst dann, wenn alle materiellen Bedürfnisse befriedigt werden, die Tatsache bleibt, daß der Mensch sterben muß, und vielleicht wird ihm, gerade weil seine materiellen Bedürfnisse befriedigt werden, diese Tatsache dann in besonderer Weise bewußt sein. Vielleicht entsteht dann diese echte Solidarität der Menschen, von der wir am Anfang gesprochen haben, vielleicht trägt sie dazu bei, die Nachteile der totalen Verwaltung abzuschwächen.

H. G.: Warum wird diese Welt langweilig sein?

MAX HORKHEIMER: Man wird das Theologische ab-[89]schaffen. Damit verschwindet das, was wir »Sinn« nennen aus der Welt. Zwar wird große Geschäftigkeit herrschen, aber eigentlich sinnlo-[89]se, also langweilige. Und eines Tages wird man auch die Philosophie als eine Kinderangelegenheit der Menschen betrachten. Vielleicht schon in naher Zukunft wird man von dem, was wir mit allem Ernst in diesem Gespräch getan haben, über die Beziehungen von Transzendentem und Relativem spekulieren, sagen, es sei läppisch. Ernsthafte Philosophie geht zu Ende.

Quelle: Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior, Hamburg: Furche Verlag 1970, S. 54-89.

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