Helmut Gumnior hatte 1970 nicht nur für den SPIEGEL ein Interview mit Max Horkheimer geführt. Ein zweites Gespräch ist unter dem Titel „Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior“ als Buch im Furche-Verlag publiziert worden. Auch in diesem Gespräch geht es um die Gottesfrage:
H. G.: Was bedeutet hier aber Theologie?
MAX HORKHEIMER: »Ich will versuchen, das zu erklären. Vom Standpunkt des Positivismus aus gesehen, läßt sich keine moralische Politik ableiten. Rein wissenschaftlich betrachtet, ist der Haß, bei aller sozial-funktionellen Differenz nicht schlechter als die Liebe. Es gibt keine logisch zwingende Begründung dafür, warum ich nicht hassen soll, wenn ich mir dadurch im gesellschaftlichen Leben keine Nachteile zuziehe.«
H. G.: Der Positivist kann also, wenn ich Sie recht verstanden habe, etwa im Sinne George Orwells sagen: Krieg ist so gut oder so schlecht wie Frieden, Freiheit ist so gut oder so schlecht wie die Sklaverei, die Unterdrückung.
MAX HORKHEIMER: Das ist absolut richtig, denn wie läßt es sich exakt begründen, daß ich, wenn es mir Spaß macht, nicht hassen soll. Der Positivismus findet keine die Menschen transzendierende Instanz, die zwischen Hilfsbereitschaft und Profitgier, Güte und Grausamkeit, Habgier und Selbsthingabe unterschiede. Auch die Logik bleibt stumm, sie erkennt der moralischen Gesinnung keinen Vorrang zu. Alle Versuche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen — selbst Kant hat dieser Neigung nicht immer widerstanden —, beruhen auf harmonistischen Illusionen. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück, alle Moral, zumindest in den westlichen Ländern, gründet in der Theologie — wie sehr man sich auch bemühen mag, die Theologie behutsam zu fassen.
H. G.: Nochmal meine Frage, Herr Horkheimer: Was bedeutet hier Theologie?
MAX HORKHEIMER: Auf keinen Fall steht Theologie hier für die Wissenschaft vom Göttlichen oder gar für die Wissenschaft von Gott. Theologie bedeutet hier das Bewußtsein davon, daß die Welt Erscheinung ist, daß sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist. Theologie ist — ich drücke mich bewußt vorsichtig aus — die Hoffnung, daß es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, daß das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge.
H. G.: Theologie als Ausdruck einer Hoffnung?
MAX HORKHEIMER: Ich möchte lieber sagen: Ausdruck einer Sehnsucht, einer Sehnsucht danach, daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge.
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