
Dass Luthers Lehre über Kirche und Staat komplexer ist als eine schematisierte „Zwei-Reiche-Lehre“, zeigt Hans Joachim Iwand in seiner Bonner Vorlesung zu Luthers Theologie 1956/57, wenn er schreibt:
Von Hans Joachim Iwand
1. Die Lehre von den beiden Reichen
Luthers Stellungnahme zur Obrigkeit gewinnt im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit den Schwärmern (Karlstadt, Müntzer u. a.), aber auch mit Zwingli, neue Formen und Formulierungen. Dabei nimmt zugleich seine Lehre von den Sakramenten, insbesondere die Lehre vom Heiligen Abend-[291]mahl, aber auch die von der Heiligen Taufe, thesenartige Gestalt an. Während seines Aufenthaltes auf der Wartburg 1521/22 wendet sich eine Volksbewegung unter Andreas Bodenstein (genannt Karlstadt) 1522 in Wittenberg gegen die Abbildungen von Aposteln und Heiligen (sog. «Bildersturm»). Im August 1524 hat Luther mit dem Rat der Stadt Orlamünde ein Religionsgespräch, in dem ein Schuster u. a. sagt: «Ich habe oft vor einem Bild an der Wand und auf dem Wege meinen Hut abgezogen. Das ist eine Abgötterei und Gottes Unehre und der armen Menschen großer Schaden. Darum soll man Bilder nicht haben. Sprach Martin (Luther): So mußt du (wegen) des Mißbrauchs auch die Weiber umbringen, auch den Wein verschütten»[1]. — Hier bricht etwas auf von dem, was das Verhältnis von Staat und Kirche, die Lehre von den beiden Reichen, bei Luther bestimmt. Durch die Lehre von der Ubiquität Gottes in den Sakramenten, auch bei dem lutherischen «est», klingt das Verhältnis von «innen» und «außen», von «internum» und «externum», auf. Luther behauptet, daß Karlstadt alles verinnerlicht, was Gott äußerlich verstanden wissen will, und daß er veräußerlicht, was innerlich ist. Luther dachte sich den Lauf des Wortes Gottes, den Verlauf der Reformation ganz anders als die Schwärmer. So versteht er denn auch Lk 17,20 f.: «Das Reich Gottes ist mitten unter euch» als «Das Reich Gottes ist innerlich in euch». Luther benötigt daher den christlichen Staat zur Unterstützung der kirchlichen Reform. In dieser Lage muß man es verstehen, daß er sich bald gegen eine bestimmte Obrigkeit wenden, bald auch wieder für eine andere eintreten kann. Jedenfalls ist es doch wohl nicht richtig, wenn man sagt, daß Luther sich wegen der Täufer an die Obrigkeit gewandt habe; richtiger ist dies: er hält sich jetzt grundsätzlich an die Obrigkeit und begründet damit ein bestimmtes, sich Jahrhunderte hindurch aufrechthaltendes Verhältnis von Kirche und Staat. Dafür zwei Beispiele, Äußerungen Luthers nach dem Wormser Edikt (1521), das über Luther und alle, [292] die ihm zufielen, die Reichsacht verhängte: «Meine lieben Fürsten und Herren, ihr eilet fast mit mir armen einigen Menschen zum Tod, und wenn das geschehen ist, so werdet ihr gewonnen haben. Wenn ihr aber Ohren hättet, die da hörten, ich wollte euch etwas Seltsames sagen. Wie, wenn des Luthers Leben so viel für Gott gälte, daß, wo er nicht lebte, euer keiner seines Lebens oder Herrschaft sicher wäre und daß sein Tod euer aller Unglück sein würde? Es ist nicht scherzen mit Gott. Fahret nur fort, würget und brennet, ich will nicht weichen, ob Gott will: hier bin ich … Gott hat mir (wie ich sehe) nicht mit vernünftigen Leuten zu schaffen gegeben, sondern deutsche Bestien sollen mich töten (bin ich’s würdig), grad als wenn mich Wölfe oder Säue zerrissen»[2]. Und in einem Nachwort zur gleichen Schrift sagt er: «Am Ende bitte ich, alle lieben Christen wollten helfen, Gott bitten für solche elenden verblendeten Fürsten, mit welchen uns ohne Zweifel Gott geplaget hat im großen Zorn, daß wir ja nicht folgen, wider die Türken zu ziehen oder zu geben. Sintemal der Türke zehnmal klüger und frömmer ist, denn unsere Fürsten sind. Was sollte solchen Narren wider den Türken gelingen, die Gott so hoch versuchen und lästern. Denn hier siehest du, wie der arme sterbliche Madensack, der Kaiser, der seines Lebens nicht einen Augenblick sicher ist, sich unverschämt rühmet, er sei der wahre oberste Beschirmer des christlichen Glaubens. Die Schrift sagt, daß der christliche Glaube sei ein Fels, der Teufel, Tod und aller Macht zu stark ist, Mt 16 (V. 18), und eine göttliche Kraft, Röm 1 (V. 16) … Also rühmet sich auch der König von England einen Beschirmer der christlichen Kirchen und des Glaubens. Ja die Ungarn rühmen sich Gottes Beschirmer … Ach, daß auch etwa ein König oder Fürst wäre, der Christus Beschirmer würde, und danach ein anderer, der den heiligen Geist beschirmet, so meine ich, wäre die heilige Dreifaltigkeit und Christus samt dem Glauben nicht übel bewahret. Solches klage ich aus Herzensgrund allen frommen Christen, daß sie sich mit mir über solche tolle, törichte, unsinnige, rasende, wahnsin-[292]nige Narren erbarmen … Gott erlöse uns von ihnen und gebe uns aus Gnaden andere Regenten. Amen»[3].
Wir müssen also sehen, daß Luther in dieser Situation, in der seine Staats- und Sakramentslehre sich formt, seine Sache nicht losläßt, sie nicht aufgibt, auch wenn ihn diese Sache hin- und herwirft. Wenn wir aber sehen, daß hier eine Bewegung Luther überfällt in einem dramatischen und weltweiten Ausmaße, dann verstehen wir, daß die Sache Luther mitreißt. Sie läßt ihn nicht mehr eine bleibende, ständige Position haben. Jetzt baut er die Kirche und den Staat. Die Lutheraner des vorigen Jahrhunderts haben die Kirchen- und Staatsbegründung so angesehen, daß damit das eigentlich Lutherische gegeben sei. Sie haben daher den konterrevolutionären Aspekt in ihre Theologie eingebaut. Von daher hat die Restauration in der Lutherischen Kirche ihre Kräfte. Die Aufklärung stand da, wo zu Luthers Zeiten die Täufer standen, und so wird die Stellung zum Sakrament und zum Staat für sie zum Prüfstein des Menschen, und sie konnten daher um so leichter dem Konservatismus des «Dritten Reiches» verfallen. Das alles ist begründet in der Verbindung von Sakrament und Staat. Und wir brauchten daher ein ganz neues Durchdenken des Kampfes gegen die Schwärmer. Das Merkwürdige aber, das wir bei Luther antreffen, ist dies: daß seine Lehre von den Sakramenten genauso begründet wird wie seine Lehre vom Staat. Wer die Taufe nicht anerkennt, erkennt auch die Obrigkeit nicht an, denn die Setzung der Taufe ist Setzung der Obrigkeit. Hören wir dazu aus den «Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche»: «Darum sei beschlossen, daß die Taufe allezeit recht und in vollem Wesen bleibt, wenngleich nur ein Mensch getauft würde und dazu nicht rechtschaffen glaubte. Denn Gottes Ordnung und Wort lässet sich nicht von Menschen wandelbar machen noch ändern. Sie aber, die Schwärmergeister, sind so verblendet, daß sie Gottes Wort und Gebot nicht sehen und die Taufe und Obrigkeit nicht weiter ansehen denn als Wasser im Bach und Topfen (= Topf; vgl. F. Kluge, 783) oder als einen anderen Menschen und, weil sie keinen Glauben noch Gehorsam sehen, soll es an ihm selbst auch nichts gelten. Da ist ein heim-[294]licher, aufrührerischer Teufel, der gerne die Krone von der Obrigkeit reißen wollte, daß man sie danach mit Füßen trete, dazu alle Werke und Ordnungen Gottes uns verkehren und zunichte machen. Darum müssen wir wacker und gerüstet sein und uns von dem Wort nicht lassen weisen noch wenden, daß wir die Taufe nicht lassen ein bloßes lediges Zeichen sein, wie die Schwärmer träumen»[4].
Von daher müssen Sie verstehen, daß Luther die Obrigkeit aufrief, die Schwärmer aus dem Lande zu werfen, denn wer die Taufe falsch ansieht, der wird auch die Obrigkeit falsch ansehen, und damit ist dann die Revolution da. So ist nicht vom Glaubens-, sondern vom Sakramentsbegriff her die Verbindung von Staat und Kirche geschaffen. Luther hat hier unbedacht in der Leidenschaftlichkeit des Kampfes die Autorität übertragen auf die kirchliche Autorität, während die Schwärmer sagten: «Wir müssen die Zugehörigkeit zur Kirche vom Geist her erfassen» und: «Wir müssen die Fürsten nach ihrem christlichen Standpunkt bewerten», so muß nach Luthers Lehre die Zugehörigkeit zur Kirche nach der Stellung zum Sakrament angesehen werden. Und so behält nach Luthers Lehre auch der schlechte Fürst seine Gewalt als «institutio Dei». Das ist das Problem von Staat und Kirche bei Luther. Das ist das Problem des lutherischen est.
2. Das Begriffspaar «innen» und «außen»
Mit der Entstehung der Lehre Luthers über das Verhältnis von Staat und Kirche aus dem Begriff des Sakraments drängt sich uns weiter die Frage nach dem «außen» und «innen» auf, weil hierdurch die Zwei-Reiche-Lehre, und damit auch die Lehre vom Staat, noch deutlicher wird. Ich gebe ein paar Zitate aus Luthers Schrift gegen Karlstadt: «So nun Gott sein heiliges Evangelium hat ausgehen lassen, handelt er mit uns auf zweierlei Weise, einmal äußerlich, das andere Mal innerlich. Äußerlich handelt er mit uns durch das mündliche Wort des Evangeliums und durch leibliche Zeichen als da ist Taufe und Sakrament. Innerlich handelt er mit uns durch den Heiligen Geist und Glauben samt [295] anderen Gaben»[5]. Von den Schwärmern in Wittenberg aber sagt er, sie seien der Meinung: «Sollte mich eine Handvoll Wassers von Sünden rein machen? Der Geist, der Geist, der Geist muß es inwendig tun. Sollte mir Brot und Wein helfen? … Nein, nein, man muß Christi Fleisch geistlich essen»[6]. Und nun fährt Luther fort: «Die Wittenberger wissen nichts drum, sie stehlen den Glauben aus dem Buchstaben»[7]. Die Geisterfahrung wird von den Schwärmern auch weithin zur Norm gemacht, um wahrhaft vom Worte Gottes reden zu können. Die Erfahrung wird sozusagen zum Ausgangspunkt, von dem aus erst das Wort verstanden werden kann. Wer sie nicht hat, der hat auch das Wort nicht. Darüber urteilt Luther: «… gleichwie sie einen eigenen innerlichen Geist erdichten, also richten sie auch eine eigene äußerliche Ordnung an»[8].
Hier stoßen wir auf Thesen, die in dieser Hinsicht noch neu sind, nämlich, daß es «eigene erdichtete» Innerlichkeit ist. Das muß nicht die Innerlichkeit sein, die Gott selber setzt und schafft, indem er den Geist ins Herz gibt, sondern die sich der Mensch selber schafft. Und damit, daß der Mensch diese eigene Innerlichkeit schafft, hängt zusammen, daß er auch — wie Luther meint — eigene äußere Ordnung schafft: «Jetzt sei so viel gesagt zum anzeigen, daß du wissest, wie dieses Geists Art sei, stracks eine verkehrte Weise wider Gottes Ordnung zu treiben: das, was Gott vom innerlichen Glauben und Geist ordnet, da machen sie ein menschliches Werk draus. Wiederum: was Gott von äußerlichem Wort und Zeichen und Werken ordnet, da machen sie einen innerlichen Geist draus»[9]. Das, was Gott innerlich gemacht hat, den Glauben, das neue Herz, in dem Christus lebt durch den Glauben, das freilich kann nicht dargestellt werden. Man könnte auch sagen, es kann nicht verwirklicht werden. Die Schwärmer wollen — und das meint Luther, wenn er immer sagt: sie wollen über das Wort hinausgehen, sie wollen noch mehr haben, als wir schon erreicht haben — die Schwärmer meinen damit, es müsse [296] jetzt noch mehr verwirklicht werden. Oder man könnte auch sagen: Alles, was die Schwärmer noch verwirklichen wollen, sei nur ein Zurückfallen unter den Glauben, hinter den Glauben. Wir können das, was Gott innerlich gemeint hat, nicht nach außen kehren. Es verliert seine Qualität damit. Es verliert sein Wesen. Damit würde das Wesen des Glaubens wieder zu einem Handeln, zu einem Leben unter dem Gesetz. Man wird dann die Menschen danach beurteilen, ob sie noch ein Heiligenbild in ihrem Zimmer haben oder nicht. Damit könne man gar nichts sagen, das mache noch keinen Christen. Ob sie oft das Sakrament gebrauchen oder nicht, das sei kein Zeichen des neuen Lebens. Weil Luther zu der Erkenntnis kommt, daß sich dieses innere Leben des Glaubens nicht verwirklichen läßt, daß es keinen Überschritt gibt aus der Innerlichkeit zu einem Außen, darum braucht er den Staat. Der Staat ist die einzige Möglichkeit der Verwirklichung für Luther. Zum Staat gehören die Stände, die Gesellschaft, die Familie, alles, was darunter zu fassen ist, daß wir in der Gesellschaft sind und daß wir eine Familie haben. Das wird alles von Luther dem Staat zugeordnet, nicht der Kirche. Es ist ein Kennzeichen der Ordnung von Staat und Gesellschaft, daß im Bereiche des Luthertums alle Gesellschaftsprobleme vom Staat aus gehandelt worden sind. Im Grunde genommen gibt es keine Gesellschaftslehre, die die Gesellschaft unmittelbar auf die Kirche bezieht, wo die Kirche selber «societas», Gesellschaft, genannt wird. Das gibt es nur im angelsächsischen und nordamerikanischen Bereich und bei den Sekten. Die Kirche kann sich nicht unmittelbar mit der Gesellschaft ins Verhältnis setzen; denn es gibt keine christlichen Gesellschaftsorganisationen. Darum fällt die Gesellschaft in den Staat. Der Staat ist der Überschritt aus dem Innen in das Außen. Er ist darum eben das Reich Gottes zur Linken; das ist der Sinn dieser Lehre. Auch der Staat verwirklicht, nein, er allein verwirklicht Gottes Herrschaft nach außen: aber so, wie sie sich eben allein auf Erden verwirklichen läßt, gleichsam wie inkognito in einer seltenen Weise, daß sich ein Fürst durch Blutvergießen den Himmel verdienen kann.
Von da aus wird man auch die Dinge verstehen müssen, die Luther in der Schrift «An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. 1520» über den Staat sagt: «Christus [297] hat nicht zwei noch zweierlei Art Körper, einen weltlich, den anderen geistlich. Ein Haupt ist und einen Körper hat er»[10]. Und: «Sintemal weltliche Herrschaft ist ein Mitglied geworden des christlichen Körpers, und wiewohl sie ein leibliches Werk hat, doch geistlichen Standes ist, darum ihr Werk soll frei, unverhindert gehen in alle Gliedmaßen des ganzen Körpers, strafen und treiben, wo es die Schuld verdient oder Not fordert, unangesehen Papst, Bischof, Priester, sie dräuen oder bannen, wie sie wollen»[11]. Luther kann auch sagen: «Weltliche Herrschaft ist ein Bild, Schatten und Figur der Herrschaft Christi»[12]. Auch wenn Christus das weltliche Reich hat fallenlassen, als er Mensch wurde, so bleibt er doch der Herr auch des weltlichen Reiches. Sonst könnte Luther gar nicht über die weltlichen Reiche sprechen unter der Voraussetzung, daß er die Christen berät, wie sie mit Gewalt, mit dem Schwert, mit der Strafe, mit dem Zorn umgehen sollen: «Nun wollen wir das geistliche und weltliche Reich Christi voneinander sondern. Das weltliche Reich hat Christus in den Kindern von Israel, von Mose an bis auf Jesum gebraucht, da er ihnen die Gesetze gab, als in Kleidung, Essen, Trinken, Zeremonien und anderen Dingen. Aber da Christus ist Mensch worden, hat er das geistliche angenommen und das weltliche fallenlassen. Nicht, daß er kein Herr mehr darüber will sein, sondern daß er Fürsten, Kaiser und Amtleute darüber etwas zu tun, mit dem armen Volk auch getreulich umzugehen, gesetzt hat, und er will gleichwohl das regieren und ein Herr darüber sein»[13].
Man sieht also, es ist gar nicht so, daß bei Luther nicht immer wieder Stellen dafür zu finden wären, wonach auch das weltliche Reich unter der Herrschaft Christi steht, und die weltlichen Regenten, die Fürsten und Könige, seine Amtleute sind. Es ist ganz falsch, wenn man das später völlig auseinandergerissen und einen Dualismus daraus gemacht hat. Ich kann jetzt nicht genau sagen, wodurch [298] das eigentlich geschehen ist. Es gibt natürlich solche dualistischen Stellen; wahrscheinlich ist aber die dualistische Interpretation dadurch geschehen, daß die ganze Zwei-Reiche-Lehre sehr stark in das Schema von Gesetz und Evangelium mit hineingekommen ist. Aber das ist nicht Luthers grundsätzliche Meinung. In den vielen Psalmen, in denen Luther über das weltliche Regiment im einzelnen redet, etwa im 2. Psalm, spricht er immer wieder davon, daß durch die weltlichen Fürsten Christus regiert. Aber sie regieren Ihm zur Linken, und zwar so, daß die Verwirklichung der Herrschaft Christi eben nicht eine Verwirklichung in dem Sinne ist, daß man nun das Reich Gottes sehen kann. Es ist eine Verwirklichung «in incognito». So ist auch die Verwirklichung christlicher Existenz nur verständlich als eine Verwirklichung «in incognito». Ich bin nicht daran als Christ erkennbar, daß ich ein Vater bin, daß ich ein Richter bin. Von meinen Ständen aus bin ich nicht erkennbar. Von da aus bleibe ich «jedermann». Infolgedessen ist es Luther nicht gelungen, eine Darstellung der Kirche nach außen zu geben. Nicht etwa deshalb, weil er daran gescheitert wäre, sondern weil er grundsätzlich der Meinung ist, das geht nicht, und zwar deswegen nicht, weil man das Innen verkehren würde nach außen.
3. Der recht verstandene «politische» Gottesdienst
Der Staat ist Gottes Reich zur Linken, wohl gemerkt: Gottes Reich! Aber dieses Reich ist das externum, das Reich Gottes außen. Das Geschehen von Gottes Wort in diesem Reich sucht nicht den Glauben, kann niemand belehren, sondern sucht hier Billigkeit, Fleiß, Tugend usw., ethische Begriffe also, die Luther von Aristoteles in seine Standes-lehre übernehmen konnte. (Auch Aristoteles schuf in seinen «politika» mehrere Bücher über den «Staat».) Sie sind nicht etwa Ausdruck des Glaubens, sondern eines sittlichen Lebens. Dieser Gegensatz von innen und außen ist das eigentliche Protestantische. Es gibt keine christlichen Stände, keinen christlichen Staat bei Luther. Wenn man das nicht sieht und bei einem politischen «Machtwechsel» die sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht völlig übernimmt, ist man dumm. Auch Gebildete sind nicht davor geschützt, dumm zu sein, auch sie können in das andere Lager übergehen, ohne zu wissen, was sie tun. Zu sehen und zu wissen, was man tut, das ist wichtig. Der Staat umfaßt bei Luther nicht nur den Bereich des Gesetzes und das Predigtamt nicht nur den Bereich des Evangeliums. Wäre es anders, so hätte man wirklich «das Gesetz oder die zehn Gebote aus der Kirche» gestoßen und «aufs Rathaus» gebracht[14], und das Evangelium wäre lediglich eine Trostpredigt für das Gewissen. Luther sagt hierzu ausführlich in der «Auslegung des 82. Psalms» (1530): «Ja, wo ist denn Gott? Oder wie werden wir gewiß, daß Gott sei, der schilt und straft? Antwort: Du hörest wohl hier, daß er stehet in der Gemeine. Wo seine Gemeine ist, da sollst du ihn finden. Denn daselbst hat er seine Priester und Prediger bestellet, welchen er das Amt befohlen hat, daß sie lehren, vermahnen, strafen, trösten und summa, das Wort Gottes treiben sollen. Wo nun Gottes Wort befohlen wird, da ist Gottes Amt zu strafen. Wie aber das Wort Gottes in aller Welt und an allen Örtern zu predigen befohlen ist, darf (brauche) ich hier nicht zu erzählen. Merke aber, daß ein solcher Prediger, durch welchen Gott die Götter straft, soll stehen in der Gemeine. ‹Stehen› soll er, das ist, fest und getrost sein, aufrichtig und redlich wider sie handeln. Und ‹in der Gemeine›, das ist, öffentlich frei vor Gott und den Menschen. Damit werden zwei Laster vorkommen. Das erste heißt Untreue, denn gar viel jetzt Bischöfe und Prediger im Predigtamt sind. Sie stehen aber nicht und dienen Gott nicht treulich, sondern liegen oder treiben sonst ihren Scherz damit. Das sind jetzt die faulen und unnützen Prediger, die den Fürsten und Herren ihre Laster nicht sagen, etliche darum, daß sie es gar nicht achten … Etliche aber heucheln und schmeicheln und stärken die bösen Götter in ihrem Mutwillen … Etliche fürchten auch der Haut, sorgen, sie müssen Leib und Gut darüber verlieren. Diese alle stehen nicht und sind Christo nicht treu»[15]. Und Luther fährt fort: «Das andere Laster heißt Afterreden. Denn der Leute beide, Prediger und Laien, ist alle Welt und alle Winkel voll, die ihren Göttern, das ist, ihren Fürsten und Herren, hin und wieder Übles nachreden, ihnen [300] fluchen und schelten, aber doch nicht frei öffentlich, sondern in Winkeln und bei ihren Rotten (Sekten, Ketzern)»[16].
Luther nimmt hier das Gesetz hinein in die Ausführung des Predigtamtes: Das Reich dieser Welt ist Gottes Reich, aber im Sinne des Amtes: «Mein Befehl und mein Wort macht und ordnet euch zu Göttern und erhält euch darinnen, nicht euer Wort, Weisheit oder Macht. Ihr seid gemachte Götter durch mein Wort wie alle Kreatur und nicht selbst Götter oder geborene Götter wie ich. Wenn ich’s nicht hieße oder befohlen hätte, so wäre euer keiner nicht Gott … Mein ist alle solche Gewalt, Obrigkeit, Gut, Ehre, Land und Leute und alles, was dazu gehört. Ich hab’s euch gegeben. Ihr habet’s selbst nicht erworben noch gewonnen»[17]. Weiter stellt Luther in der «Auslegung des 82. Psalms» eine Art Fürstenspiegel zusammen. Für den Fürsten bestehen drei Aufgaben: 1. Er hat für einen guten Prediger zu sorgen. Das ist das erste Werk des Fürsten. So versteht Luther den Schutz der reinen Lehre. — 2. Er hat für den Schutz und die Förderung der Waisen, Witwen, Armen und Schwachen Sorge zu tragen. — 3. Er muß Schutz und Schirm gegen Frevel und Gewalt sein, das ist, er muß Frieden schaffen. Das Tun des Friedens (vgl. Mt 5,9 n. d. griech. Text) ist eine Analogie des Himmelreiches. So heißt es in der «Auslegung des 82. Psalms»: «Und summa, nach dem Evangelium oder geistlichem Amt ist auf Erden kein besseres Kleinod, kein größerer Schatz, kein reicheres Almosen, kein schöneres Stift, kein feiner Gut denn (eine) Obrigkeit, die das Recht schaffet und hält. Dieselbigen heißen billig Götter. Solche große Tugend, Nutz, Früchte und gute Werke hat Gott in diesen Stand gelegt. Denn er hat sie nicht umsonst Götter genennet, will auch nicht, daß ein fauler, lediger (leerer, unnützer), müßiger Stand sei, darin man allein Ehre, Gewalt, Wollust oder eitel Eigennutz und Mutwillen suche. Sondern er will sie voller großer, unzähliger, unaussprechlicher guter Werke haben, daß sie sollen mit ihm göttlicher Majestät wahrhaftig sein und ihm helfen, eitel göttliche, über-menschliche Werke tun»[18]. — An dieser Auslegung des 82. Psalms läßt sich deutlich die [301] Meinung Luthers über die politische Predigt ablesen. Das ist der politische Gottesdienst, den Luther meint. Gott will, daß die Christenheit sich in der Welt bewegt und bewährt.
4. Die Frage des «Widerstandes»
Die Obrigkeit verliert ihr Recht, Obrigkeit zu sein, wenn sie zu einer Maske des Teufels wird. Die Frage des Widerstandes[19] gegen eine pervertierte Obrigkeit ist noch ungeklärt und steht im Gegensatz zum gebotenen Gehorsam gegen die Obrigkeit (Röm 13, 1 ff.). Nach der mittelalterlichen Ordnung bestimmte die Kirche, wie weit der einzelne in seinem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit zu gehen hat. Die neue «Ordnung», in der die Christen heute leben, läßt eine generelle Regelung, wie sie im Mittelalter üblich war, nicht zu. Bei Luther fällt die Überordnung der Kirche über den Staat weg. Der Staat hat — von Gott her gesehen — das gleiche Recht über den Menschen wie die Kirche. Die Minderbewertung des Staates ist teuflisch. Staat und Kirche sind in gleicher Weise im 4. Gebot abgehandelt. Luthers Staatslehre läßt keine Vergleichbarkeit des Menschen im Staat mit dem Stand des Menschen in der Kirche zu. Luther hat vielmehr den Staat erhöht, indem er ihm die gleiche Würde zuspricht von Gott her, nämlich von seiner Einsetzung her. Nur von da aus gesehen ist zu verstehen, was Luther über die Obrigkeit sagt, und nur von daher gesehen ist auch zu verstehen, was er über den Aufruhr gegen die Obrigkeit sagt. Dasselbe Wort Gottes gründet die Kirche und den Staat. Bei Luther gibt es keine grundsätzliche Entwertung des Standes, den der Mensch im Staat hat. Das Predigtamt freilich bedeutet ihm unendlich mehr als ein Fürstenamt. Grundsätzlich verteidigt die Christengemeinde die Funktionen der Obrigkeit, auch dann, wenn sie die Obrigkeit auf ihre Grenzen hinweist. Wenn der Staat in Glaubensfragen eingreift, so greift er in den Bereich, der Gott gehört. Die Christen haben dann nicht nur das Recht zum passiven Widerstand, sondern auch zum [302] Aufruhr, wobei unter Aufruhr hier ein Widerstand gegen das geltende Recht verstanden wird, nicht ein Selbst-Herr-sein-Wollen: «Wo es zum Kriege kommt, da Gott vor sei, so will ich das Teil, so sich wider die mörderischen und blutgierigen Papisten zur Wehr setzt, nicht aufrührerisch gescholten haben noch schelten lassen. Sondern ich will’s lassen gehen und geschehen, daß sie es eine Notwehr heißen, und will sie damit ins Recht und zu den Juristen weisen. Denn in solchem Fall, wenn die Mörder und Bluthunde je kriegen und morden wollen, so ist’s auch in der Wahrheit kein Aufruhr, sich wider sie setzen und wehren. Nicht, daß ich hiermit wolle jemand reizen noch erwecken zu solcher Gegenwehr noch sie rechtfertigen, denn das ist meines Amtes nicht, viel weniger auch meines Richtens oder Urteils. — Ein Christ weiß wohl, was er tun soll, daß er Gott gebe, was Gottes ist, und dem Kaiser auch, was des Kaisers ist (Mt 22,21), aber doch nicht den Bluthunden, was nicht ihrer ist. — Sondern, daß ich einen Unterschied gebe zwischen Aufruhr und anderen Taten und den Bluthunden den Schanddeckel nicht lassen will, daß sie rühmen sollten, als kriegten sie wider aufrührerische Leute und hätten’s guten Fug nach weltlichem und göttlichem Rechte, wie sich das Kätzlein gern putzen wollte und schmücken. Desgleichen will ich der Leute Gewissen nicht beschweren lassen mit der Gefahr und Sorge, als sei ihre Gegenwehr aufrührerisch; denn solcher Name ist zu böse und zu schwer in solchem Fall. Es soll einen anderen Namen haben; den werden die Rechte wohl finden»[20]. Hier rechtfertigt Luther den aktiven Widerstand gegen diejenigen, die einen Glaubenskrieg vom Zaune brechen. Man soll lieber Leib und Leben lassen, als solchen ungerechten Krieg mitmachen. Darum soll man den Fürsten, die zum Feldzug gegen die Protestanten aufrufen, widerstehen. Luther will die Obrigkeit entlarven, daß sie keinen Befehl von Gott habe, gegen die Protestanten Krieg zu führen. Unter einem ungerechten Krieg versteht er den Krieg, in dem der Staat sich anheischig macht, eine Glaubensüberzeugung mit Gewalt durchzusetzen. Damit säkularisiert Luther den Staat und führt durch, was [303] Ockham in seiner Staatslehre vertreten hat: die strengste Unterscheidung dessen, was außen (Staat) und was innen (Kirche) ist[21].
Für Luther ist aber der Widerstand im wesentlichen eine Sache des Wortes Gottes. Als er im Dezember 1521 heimlich von der Wartburg aus die Freunde in Wittenberg besuchte, hörte er, daß kurz vor seiner Ankunft die Frühmesse in der Stadtpfarrkirche durch Studenten und einige Bürger gewaltsam gestört worden war. Auf Grund dieser und ähnlicher Vorfälle verfaßte er eine wichtige Schrift unter dem Titel: «Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung» (1522). Hier finden sich Sätze, die für seine Haltung zum Aufruhr von großer Wichtigkeit sind: «Ich bin je gewiß, daß mein Wort nicht mein, sondern Christi Wort sei; so muß mein Mund auch dessen sein, dessen Wort er redet. Darum darfst du nicht begehren eines leiblichen Aufruhrs. Es hat Christus selbst schon einen angefangen mit seinem Mund, der dem Papst allzu schwer wird sein, demselbigen laß uns folgen und fortfahren. Es ist nicht unser Werk, das jetzt geht in der Welt. Es ist nicht möglich, daß ein Mensch sollte allein solch ein Wesen anfangen und führen. Es ist auch ohne mein Bedenken und Ratschlagen so weit gekommen. Es soll auch ohne meinen Rat wohl hinausgehen, und die Pforten der Höllen sollen’s nicht hindern. Ein anderer Mann ist’s der das Rädlein treibt, den sehen die Papisten nicht und geben uns schuld»[22] — Die Überwindung des Irrtums geschieht durch das Wort Gottes selbst. Es gilt, das Innere, das Geschehen des Wortes Gottes in das Äußere zu übersetzen. Durch dieses Wort wird mehr gestürzt, als wenn durch äußere Aktionen die Formen gestürzt werden. Das Alte bliebe doch immer lebendig. Immer, wenn man heute die alten Formen gestürzt hat in den Revolutionen, bleibt der alte Geist in neuen Formen wirksam. Die alten Götter müssen von innen her ausgehöhlt werden, dann stürzen sie von selbst: «Er muß ohne Hand und allein mit dem [304] Mund zerstöret werden; da hilft nichts vor»[23]. Es ist Christi Aufruhr mit seinem Mund, der dem Papst schwer wird. Aus Christi Mund kommt nur die Wahrheit. Das gilt auch für den Aufruhr und die Schwärmer: «Sobald die Lüge erkannt wird, bedarf sie schon keines Schlages mehr, fällt und verschwindet von ihr selbst mit allen Schanden»[24]. Weil die Lüge nichts ist, kann man sie nicht durch äußere Gewalt angreifen, sondern nur durch Wahrheit aufdecken. Wer sich gegen die Lüge, das Nichts, mit Gewalt auflehnt, macht sie erst zu etwas. Damit wendet sich Luther gegen den Aufruhr als Prinzip: «Lehren wir aber das nicht und bringen solche Wahrheit nicht unter die Leute, daß ihnen solch Ding aus dem Herzen genommen werde, so wird der Papst wohl vor uns bleiben, wenn wir gleich tausend Aufruhr wider ihn anfingen. Siehe, was hat’s gewirkt allein dies einige Jahr, daß wir haben solche Wahrheit getrieben und geschrieben, wie ist den Papisten die Decke so kurz und schmal geworden… Was will werden, wo solcher Mund Christi noch zwei Jahre mit seinem Geist dreschen wird? Solches Spiel wollte der Teufel mit leiblichem Aufruhr gerne hindern. Aber laßt uns weise sein, Gott danken für sein heiliges Wort und diesem seligen Aufruhr den Mund frisch dargeben»[25].
Luthers Warnung vor dem Aufruhr will das Feld freihalten für den Aufruhr Gottes, daß das Wort Gottes läuft und für das Wort Gottes der Raum freibleibt. Das Wort Gottes ist nicht Bestätigung des Gegebenen; es rechtfertigt nicht die Ordnungen der Welt, sondern es greift sie an und reinigt sie. Die Freiheit für das Wort ist gesetzt durch die Unterordnung der Christen unter den Staat. Es gibt eben auch hier eine bestimmte Ordnung von außen und innen. So wird sich der Nebel verziehen, ein Wahn vergehen, und der Blick für die Wahrheit Gottes wird scharf werden, denn das Wort hat’s getan, Seine Lehre macht’s, die läuft.
5. Luthers Lehre von den drei Hierarchien
Am Schluß dieses letzten Abschnittes einer Darstellung von «Luthers Theologie» könnte sich die Frage erheben, ob Luther vielleicht auch etwas Allgemeingültiges über die menschliche Gesellschaft gesagt hat. Man wird dabei bedenken müssen, daß das ganze Bild des gesellschaftlichen Lebens zur Zeit Luthers noch bestimmt ist durch den Gedanken, daß eine Stadt oder ein Staat nicht sein kann ohne Prediger. Luther hat nicht etwa gemeint, daß der Predigerstand ein besonders geachteter Stand sei. Luther vertrat nicht, wenn er an das Amt eines Predigers dachte, eine Rangordnung im Sinne der weltlichen Macht und Ehre, sondern er vertritt die Rangordnung unter den Menschen überhaupt im Sinne der göttlichen Stiftung. In seiner späten Schrift «Von den Konziliis und Kirchen» (1539) sagt er: «Die Schule muß das nächste sein bei der Kirche, als darin man junge Prediger und Pfarrherrn zeuget, und daraus hernach dieselben an der Toten Statt setzet. Danach des Bürgers Haus nächst an der Schule ist, als daraus man Schüler kriegen muß. Danach das Rathaus und Schloß, so Bürger schützen müssen, damit sie Kinder zeugen zur Schule und Schulen Kinder zu Pfarrherrn aufziehen»[26]. Dann aber heißt es weiter: «Gott aber muß der Oberste und Nächste sein, der solchen Ring oder Zirkel (Kreislauf) erhalte wider den Teufel und alles tue in allen Ständen, ja in allen Kreaturen. Also sagt Psalm 127, daß auf Erden allein zwei leibliche Regimente sind, Stadt und Haus: ‹Wo der Herr das Haus nicht bauet›, item: ‹Wo der Herr die Stadt nicht behütet›. Das erste ist Haushalten, daraus kommen Leute. Das andere ist Stadtregieren, das ist Land, Leute, Fürsten und Herren (das wir die weltliche Obrigkeit heißen). Das ist alles gegeben, Kind, Gut, Feld, Tier etc. Das Haus muß bauen, die Stadt muß solches hüten, schützen und verteidigen. Danach kommt das dritte, Gottes eigenes Haus und Stadt, das ist die Kirche, die muß aus dem Hause Personen, aus der Stadt Schutz und Schirm haben»[27]. Luther sagt dann weiter, daß diese «drei Hierarchien von Gott geordnet sind und keiner mehr [306] bedürfen, haben auch genug und übergenug zu tun, daß wir in diesen dreien recht leben wider den Teufel»[28].
Das Außen, in dem meine christliche Existenz in Erscheinung tritt, ist im Hinblick auf die vergängliche Welt vorgezeichnet durch den Stand, dem ich angehöre. Und Luther meint offenbar, daß nun sowohl das Predigtamt wie alles das, was mit der Familie zusammenhängt, und schließlich der Obrigkeitsstand die drei Stände sind, in denen der Mensch zu leben hat, wenn anders er ein Gott wohlgefälliges Werk tut. Der in diesem Stande Lebende lebt nicht auf Grund dessen, daß er ein gutes Werk tut in seinem Stand, sondern er lebt darin, weil dieser Stand Gott wohlgefällt. Und so ist Luthers Rede davon, daß Gott sein Wort an diese Stände geheftet hat, ein Zeichen und Zeugnis dafür, daß der aus Glauben Geborene sozusagen die Wegweisung Gottes sucht, wo er sicher und gewiß sein kann, daß sein Tun Gott wohlgefällt.
Was meint nun Luther eigentlich mit dem Ausdruck «Stand»? Wenn er etwa von Vater und Mutter spricht als von einem Stand, von der Ehe als einem Stand, oder der Obrigkeit als von einem Stand, was meint Luther mit diesem Ausdruck «Stand»? Er entwickelt die Lehre von den Ständen im Zusammenhang damit, daß man nicht aus der Welt geht. Das hat er immer wieder geltend gemacht. Das ist seine Antithese zum mönchisch-asketischen Leben. Das Ja zur Welt ist bei ihm gegeben durch den Stand. Was heißt das? Das könnte heißen — und ich glaube, daß es so heißt —, daß über dem Glauben und für den Glauben in der Welt Gegebenheiten da sind, Ordnungen da sind, in denen der Christ dessen gewiß sein kann, daß er Gott wohlgefällt. Sie müssen, meine Hörer, immer verstehen, daß Luther keinen Weg sieht, das innere Leben der Christen nach außen hin darzustellen. Das Leben der Christen ist verborgen (vgl. Kol 3,3: «Euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott»). Luther sagt: «So will er solche Heiligen auch nicht, die von den Leuten laufen, denn wo das sollte gelten, so bedürfte man der zehn Gebote nicht überall. Denn wenn ich in der Wüste von allen Leuten gesondert bin, so darf mir niemand danken, daß ich nicht ehebreche, totschlage noch [307] stehle, und meine doch dieweil, ich sei heilig und den zehn Geboten weit entlaufen, die doch darum von Gott gestellet sind, daß er uns lehre wie wir in der Welt gegen den Nächsten recht leben sollen»[29]. — Hier sieht man also, die Welt ist offenbar die Stätte, in der es allein möglich ist, Gottes Gebot zu erfüllen, und der «Stand» muß damit zusammenhängen. An einer anderen Stelle sagt Luther: «Siehe, also muß das ganze christliche Leben verborgen sein und bleiben und kann zu keinem Ruhm kommen noch einigen Schein und Ansehen vor der Welt haben. Darum laß es gehen und nimm dich’s nicht an, obgleich’s verborgen und wohl zugedeckt und vergraben wird, daß es niemand siehet noch achtet. Und laß dir genügen, daß es dein Vater droben im Himmel siehet, der hat scharfe Augen und kann weit in die Ferne sehen, ob’s gleich mit großer finsterer Wolke überzogen und tief in der Erden zugescharret ist, also daß aller Christen Leben allein auf Gottes Augen gerichtet sei»[30]. Und zu dem kleinen Gleichnis Mt 5,29: «Wenn dir aber dein rechtes Auge Ärgernis schafft, so reiß es aus und wirf’s von dir …» sagt Luther: Diese Worte Jesu «sind allein von geistlichem Leben und Wesen geredet, da man nicht äußerlich am Leibe vor der Welt, sondern im Herzen vor Gott Augen und Hand von sich wirft, sich selbst und alle Ding verleugnet und verläßt. Denn er lehrt nicht die Faust oder das Schwert führen, noch Leib und Gut regieren, sondern allein das Herz und Gewissen vor Gott. Darum muß man seine Worte gar nicht ins Rechtsbuch oder ins weltliche Regiment ziehen»[31].
Diese kurze Betrachtung über Luthers Lehre von den drei Hierarchien, die uns etwas sagen sollte von seiner Auffassung über das gesellschaftliche Leben der Menschen, möchte ich abschließen mit einem Zitat, das zugleich für unser Leben, für unser Christenleben in unserer Gegenwart, von einiger Bedeutung sein kann, wenn wir es recht bedenken: «Summa: wer ein Christ sein will, muß also geschickt sein, daß er kein gutes Werk tue oder lasse um der Leute willen, sondern allein darum, daß er mit seinem Amt, Stand, Geld, [308] Gut oder was er hat, vermag und tut, wolle Gott dienen und ihm zu Ehren tun, was er kann, ob er gleich nimmermehr auf Erden einigen Dank damit verdiene. Denn es ist auch unmöglich, daß einem frommen Menschen auch das allergeringste Werk, das er tut, allhier könnte belohnet werden, wenn man ihn gleich mit Gold krönet und ein ganzes Königreich gäbe. Darum soll er nicht weiter denken, denn daß er Essen und Trinken davon nähme und keinen Lohn erwarte von der Welt, als die nicht wert ist, daß sie sollte ein gutes Werk bezahlen oder vergelten, ja daß sie sollte einen rechten Christen erkennen und ehren, und ob sie ihn gleich kennet, so ist sie so fromm nicht, daß sie ihm wollte danken. Weil es denn um ihrer willen nicht angefangen ist, so sei es auch um ihrer willen nicht gelassen, sondern Gott befohlen, der es überschwänglich vergelten will, nicht heimlich, sondern öffentlich vor aller Welt und allen Engeln»[32].
Quelle: Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke, hrsg. v. Helmut Gollwitzer, Walter Kreck, Karl Gerhard Steck und Ernst Wolf, Bd. 5: Luthers Theologie, München: Kaiser 21983, 290-308.
[1] WA 15, 345, 29ff. (Item die Handlung Doctor Martini Luthers mit dem Rath und Gemeine der Stadt Orlamünd. 1524). — Vgl. auch die immer noch wichtige Schrift von Harald (!) Diem: Luthers Lehre von den zwei Reichen, München 1938 (BEvTh 5), besonders S. 113ff.
[2] WA 15, 254, 26ff. (Zwei kaiserliche uneinige und widerwärtige Gebote den Luther betreffend. 1524).
[3] Ebd. 277, 21ff.
[4] Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 1930, Bd. 2, S. 703, Z. 34ff. = WA 30/1, 220, 1ff. (Der Große Katechismus. 1529, Von dem Sacrament der Taufe) = BoA 4, 86, 31ff.
[5] WA 18, 136, 9ff. (Wider die himmlischen Propheten … 1525).
[6] Ebd. Z. 31ff.
[7] Ebd. 137, 1f.
[8] Ebd. Z. 21f.
[9] Ebd. 139, 1ff.
[10] WA 6, 408, 33ff. = BoA 1, 368, 17f.
[11] WA 6, 410, 3ff. = BoA 1, 369, 22ff.
[12] WA 30/2, 554, 11f. (Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle. 1529?).
[13] WA 10/3, 371, 19ff. (Predigten des Jahres 1522. 24. Oktober. 18. Sonntag nach Trinitatis).
[14] Vgl. WA 50, 468, 6f. (Wider die Antinomer. 1539). Zum Verständnis des Zitats vgl. die Einführung von O. Clemen und O. Brenner zu der Schrift, ebd. S. 461 ff.
[15] WA 31/1, 196, 4ff.
[16] Ebd. Z. 35ff.
[17] Ebd. 216, 5ff.
[18] Ebd. 201, 16ff.
[19] Die hier und auch weiterhin wiedergegebenen Sätze der Vorlesung stammen (außer den Luther-Zitaten) allem Anschein nach aus einer oder mehreren privaten Nachschriften dieses Abschnittes.
[20] WA 30/3, 282,22 ff. (Warnung an seine lieben Deutschen. 1531).
[21] Wilhelm von Ockham (etwa 1300-1350), Engländer, Erneuerer des Nominalismus, vertritt die Ansicht, daß es «rein Sache des Staates ist, das Gemeinwohl (bonum commune) zu schaffen. Verletzt der Fürst diese seine Pflicht, so hat das Volk das Recht, ihn abzusetzen, den Tyrannen zu töten» (vgl. K. Vorländer, Philosophie des Mittelalters, rde 193/194, S. 106).
[22] WA 8, 683, 15ff. = BoA 2, 306, 20ff.
[23] WA 8, 683, 32f. = BoA 2, 306, 36f.
[24] WA 8, 678, 9f. = BoA 2, 301, 30ff.
[25] WA 8, 684, 6ff. = BoA 2, 307, 8ff.
[26] WA 50, 652, 1ff.
[27] Ebd. Z. 7ff.
[28] Ebd. Z. 18ff.
[29] WA 32, 370, 33ff. (Wochenpredigten über Matth. 5-7. 1530/2. Druck 1532. – Matth 5,27-29).
[30] Ebd. 435, 1ff. (Matth 6,16-18).
[31] Ebd. 374, 25ff. (Match 5,27-29).
[32] Ebd. 412, 19ff. (Matth 6,1-4).