Versprechen, die den Glauben neu herausfordern. Von der Sprachkraft der Dogmen
„Glaube lässt sich nicht in Dogmen verfestigen“ hat jüngst der evangelische Pfarrer und Lyriker Christian Lehnert in einem Interview für die Zeitschrift „Herder Korrespondenz“ gesagt. Wie wahr, und doch nicht die ganze Wahrheit. Ein dogmenfreies Christentum kann es nicht geben. Kirche ist weder religiöse Selbsterfahrungsgruppe noch gläubiger Lyrikkreis. Wird unter der Signatur „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ der Gottesdienst eröffnet, verbinden sich Verkündigen und Bekennen wie auch Beten, Loben und Danken. Für die Versammlung der Gläubigen bedarf es einer gemeinsamen Sprache, die sie das „Amen“ im Konsens sprechen lässt.
Was in der Kirche über die je eigene religiöse Empfindsamkeit hinaus gemeinschaftlich zur Sprache gebracht wird, basiert auf verbindlichen Regeln. In einem Gottesdienst lässt sich eben nicht alles Mögliche „undogmatisch“ sagen. Ansonsten zerfiele die Gemeinschaft im ausgesprochenen Dissens gegenüber Gottes Wort. Verkündigte beispielsweise ein Pfarrer in der Osternacht an Stelle des Ostergrußes, Christus sei nicht wirklich auferstanden, wäre die Versammlung in dessen Namen am Ende, es sei denn, ein Gemeindeglied stünde auf und würde bekennend dagegen halten: „Für mich ist Christus dennoch auferstanden!“
Persönlicher Glaube in seiner je eigenen Vertraulichkeit lässt sich sprachlich nicht reglementieren. Das wollen Dogmen (bzw. die kirchlichen Bekenntnisse) auch gar nicht. Sie gelten vielmehr als Grammatik zum göttlichen Wortschatz des Glaubens, nämlich der Heiligen Schrift. Dogmen leiten dazu an, Anspruch und Verheißung des dreieinigen Gottes in der Verkündigung wie auch im Gebet auf das Amen hin zur Sprache zu bringen. Solche Grammatikregeln suchen Christen nicht „rechtgläubig“ zu zähmen, sondern ermöglichen Zusagen und Versprechen, die deren Glauben neu herausfordern.
Da mag man in kirchlichen Dogmen Sprachbegrenzungen wahrnehmen, aber gerade deren Befolgung eröffnet in der Verkündigung gewagte „Sprachspiele“, durchaus vergleichbar mit wunderbaren Spielzügen, die die Regeln des International Football Association Board (IFAB) dem Fußballspiel ermöglichen. Wird hingegen – unter Berufung auf eine historische Vernunftkritik – die dogmatische Regelbindung preisgegeben, zeigt sich im kirchlich-pastoralen Reden häufig eine „allgemeinplatzige“ Plastiksprache – seelsorgerlich banal, politisch mitunter selbstgerecht.
Freimütige, verheißungsvolle, herausfordernde Gottesrede, die die menschlichen Rahmungen hoffnungsloser Weltbilder und Weltanschauungen sprengt – sie ist nur orthodox, also in der Bindung an kirchliche Dogmen und unter Verwendung des göttlichen Wortschatzes, also der Bibel zu führen. Dogmen lassen eben keine ideologischen Allgemeinbegriffe zu, sondern provozieren in der Anrede eine Metaphorik, die neu hören und sehen lässt.