Gastfrei zu sein vergesst nicht. Wenn ein IRA-Mann auf der Flucht vor der eigenen Haustür steht: „Ungesegnet geht er, wissend um das Jüngste Gericht. Dass alles am Ende nur gut ausgehen kann, das glaube er nicht. Einen Weichmacher-Jesus mag er nicht und billige Gnade ist nicht seine Sache. Da hat er wohl schon zu viel gesehen und zu viel getan, als dass es für uns alle ein Happy End geben kann.“

IRA Patrol in Belfast vor dem Good-Friday-Agreement 1998

Gastfrei zu sein vergesst nicht. Wenn ein IRA-Mann auf der Flucht vor der eigenen Haustür steht

Da stand er vor mir im blauen Adidas-Trainingsanzug mit den schnürlosen Adidas-Schuhen und bot mir die Stirn. Die Nacht ist er hindurch gelaufen – kein Geld mehr für eine Unter­kunft. Das zukünftige Fluggepäck ist im Schließfach am Ulmer Bahnhof verstaut. In Senden hatte er frühmorgens das evangelische Gemeindehaus gesehen, fand jedoch nicht das Pfarr­haus. Und als er schließlich in Vöhringen wohl um 8 Uhr beim katholischen Pfarrhaus ankam, war mein Kollege im Gehen begriffen. Und der englischsprechende Kaplan war schon im Unterricht. Auf die Frage nach dem Presbyterian minister wurde er an den lutherischen Pfarrer verwiesen. So klingelte er dann um 8.40 Uhr bei uns.

Er wollte sich mir gegenüber erklären – eine längere Geschichte. Ich lud ihn ins Amtszimmer ein, selbst frühstückshungrig. Sein English ließ mich auf Schottland schließen. Ja, er habe da für wenige Jahre dort gelebt, mit Frau und Tochter, aber er komme aus Belfast, sei seit neun Tagen in Deutschland – auf der Flucht.

45 Jahre alt, der Vater auch schon bei der Provisional IRA, getötet, wohl andere Familien­glieder auch, die Schwester und die Mutter leben noch. Er selbst war (wohl wegen Tötungs­delikten) Jahre in britischen Gefängnissen und ist nach dem Good-Friday-Agreement freige­kommen, habe damals der Gewalt abgeschworen. Wie er den Lebensunterhalt sich verdient habe und auch das Haus für Frau und Kind, ist für mich nicht nachvollziehbar. Anders hingegen die vielfältigen Einnahmequellen der IRA aus Spielhöllen, Zigarettenschmuggel und Schutzgeld­abgaben, die wohl immer noch in Nordirland praktiziert werden. Ob er Mitglied der Real bzw. NEW IRA ist, weiß ich nicht. Aber der Drogenkrieg in Belfast hat ihn mitgenommen. Bei der alten Provisional IRA haben die Rekruten Drogen und Alkohol abschwören müssen. Er halte sich daran. Und das Päckchen mit dem Zigarettentabak, das er später auf dem Fußweg zum Bahnhof öffnete, habe noch den Rest von neun Tagen Deutschland drin.

Die ganze Nacht durchgelaufen, in Senden ein Schinkenbrötchen gegessen mit Kaffee, er vermisst den britischen Tee. In seiner Stimme die Unruhe der Flucht. Er hat wohl der Polizei anonym Informationen über Drogendealer geliefert, war selbst Augenzeugen diverser Hin­richtungen, zuletzt habe man ihm eine Beutel mit einem sechsstelligen Pfundbetrag als Schweigegeld angeboten, den er abgelehnt hätte.

Gary N. zeigt mir zur Beglaubigung seine Barclay-Kreditkarten, er sei kein Bettler, sondern nur kurzfristig nicht länger liquide. Dann ein Stapel von Übernachtungsbelegen in deutschen Gästehäusern und Hotels. Er hat schon angefangen, Deutsch zu lernen. Für neun Tage hört es sich gut an. Über Kronenberg ist er angekommen und will weiter nach Neuseeland. Frau und Tochter seien da schon. Das Haus und das Auto seien schon verkauft. Er sei noch zurückge­blieben, um den Verkauf noch abzuwickeln.

Vor drei Monate habe er seine elfjährige Tochter zur Schule gefahren, als jemand mit der AK 47 auf ihn geschossen habe. Das war nicht das erste Mal in seinem Leben. Im Straßenkrieg der achtziger und neunziger Jahre waren Schussverletzungen gang und gäbe. Die erste Schussverletzung am Knie habe er mit 14 abbekommen und er zieht dazu das entsprechende Hosenbein hoch. Aber dass jetzt offensichtlich auch das eigene Kind gefährdet sei – bei anderen, die im Drogenkrieg nicht (länger) mitspielen, wurden auch schon Familienange­hörige hingerichtet. Es ist nicht die Angst vor dem eigenen Tod, sondern die Sorge um die Familie, die ihn fliehen lässt. Er selbst zählt sich zu der Generation in Belfast, die sich im Nachhinein darüber gewundert hat, überhaupt 25 Jahre alt zu werden.

Der Bandenkrieg zwischen der Kinahan- und der Hutch-Gang sei in den letzten Monaten eskaliert. Der junge Kinahan stehe nun vor Gericht. Mögliche Zeugen gegen ihn werden eliminiert. Dann gehen wir am Computer ins Internet und lesen die Online-Ausgaben der Irish Times bzw. der Sunday World unter der Rubrik „crime desk“. Wir scrollen durch. Wo die Bilder von unten her auftauchen, nennt Gary schon die Namen der Ermordeten und sein Verhältnis zu ihnen. Der Eindruck verfestigt sich – mexikanische Verhältnisse in Irland. Es geht um Kokain. Und Gary scheint als nächstes Opfer ausersehen zu sein, wurde vorgewarnt. So hat er die Fähre und den Bus nach London genommen und ist weiter auf den Kontinent, um am nächsten Freitag hoffentlich nach der fälligen Geldtransaktion den Flug nach Neusee­land über Singapur unter Dach und Fach zu kriegen. Zwischenzeitlich hält er Kontakt mit der Familie über Skype. Offensichtlich hat er einen Kontaktmenschen bei den Verfolgern, der ihn über deren nächsten Schritte auf dem Laufenden hält.

Ich stelle Gary Frau und Kind vor. Bei Yana leuchten seine Augen. Wer seiner Tochter etwas antäte, müsste wohl eine entsprechende Vergeltung befürchten. Dass Gary bei mir auftauchte, hängt ja mit seinem Glauben zusammen, gut katholisch und äußerst kirchenkritisch, hat etwas dagegen, wie Kirche sich das Geld nimmt. Gnadenlos legt er den Maßstab des Evangeliums an die Lebensform des Klerus und der Pfarrer an. Seine Bibelkenntnisse überzeugen, sein Allgemeinwissen überrascht mich (die Ansätze einer Verschwörungstheorie im Hinblick auf den 11. September kommen ganz zum Schluss und sind verglichen mit den übrigen Einschät­zungen der Weltsituation eher rudimentär). Er weiß, dass man als Christ gastfreundlich zu sein hat, heißt es doch im Brief an die Hebräer im 13. Kapitel: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ Wer als katholischer Pfarrer ihn vor der Haustüre abfertigen will, wie kann dieser sich sicher sein, dass er damit nicht einen Gottesboten weggeschickt hat? Recht hat er als fluchtbedürftiger Nichtbettler. Auch wenn sein Belfaster Englisch mit aller nachtlosen Unruhe sich für mich viel zu schnell anhört und geläufige Worte nachgefragt werden müssen, wer seine ganze Geschichte anhört, kann ja nicht anders als ihm helfen.

Gary, der große Moralist, weiß darum, wie sich der Bürgerkrieg in Nordirland in einen Drogenkrieg verwandelt hat. Und offensichtlich verletzt es sein Gerechtigkeitsempfinden, wie alte Kämpfer nun ihr Auskommen im Drogengeschäft und in der Schutzgelderpressung suchen. Die eingeschworene Abstinenz der Kämpfer ist dem Geschäftssinn gewichen. Und den Jungen macht man mit Bentleys vor, was es im Leben (mit der Waffe) zu erreichen gilt, auch wenn sie wohl als Auftragskiller nur Kanonenfutter sind. Eingeschworene Loyalitäten zählen nicht. Und auch die Real IRA, die sich dem Krieg gegen die Drogen verschrieben hat, kassiert ab. Wie Gary mir rechthaberisch die Stirn bietet, ahne ich, um welch verlorenen Kampf es in Nordirland geht. Die Rettung für ihn ist Neuseeland. Noch einmal neu anfangen dürfen. Er muss die nächsten Tage in Europa überleben, das Geld aus dem Hausverkauf kriegen. Und dann nichts wie weg.

Ich bringe ihn zum Bahnhof, zahle ihm das Ticket nach Frankfurt und leihe ihm noch 200 Euro für die fehlenden zwei Übernachtungen. Wir umarmen uns. Ungesegnet geht er, wissend um das Jüngste Gericht. Dass alles am Ende nur gut ausgehen kann, das glaube er nicht. Einen Weichmacher-Jesus mag er nicht und billige Gnade ist nicht seine Sache. Da hat er wohl schon zu viel gesehen und zu viel getan, als dass es für uns alle ein Happy End geben kann.

Hier mein Text als pdf.

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