Hermann Lübbe über das Evangelische Kirchengesangbuch und die Kontingenzbewältigung: „Wer vom Gesangbuch in intentio directa Gebrauch macht, dankt Gott, bringt Bitten vor ihn, klagt oder singt zum Pfingstfest. Die Auskunft aber, eben darum handele es sich doch – jeden­falls in unserer hiesigen Religion oder Konfession – und nicht um ‚Kontingenzbewälti­gung durch Anerkennung unserer schlechthinnigen Abhängigkeiten‘, macht aus einem Reflexions­verhältnis eine windschiefe Alternative.“

Über das Evangelische Kirchengesangbuch (EKG)

Hermann Lübbes Thema in Sachen Religion ist die Kontingenzbewältung. So beschließt er seinen Vortrag „Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung“ auf der letzten Tagung der Gruppe „Poetik und Hermeneutik„, die vom 19.–24. September 1994 eben zum Thema Kontingenz in Bad Homburg stattfand, mit einer Reflexion über das Gesangbuch (und bezieht sich dabei auf das Evangelische Kirchengesangbuch – EKG):

Im Bücherregal behauptet das Gesangbuch, durchaus sektoral, seinen Standplatz neben der Fülle übriger nützlicher Hausbücher vom Do-it-Yourself-Ratgeber bis hin zur aktualisierten Anleitung für die Einkommenssteuererklärung. Aber es wäre ersichtlich unsinnig zu sagen, daß, analog zu den übrigen nützlichen Lebensanleitungen, das Gesangbuch auch seinem Gegenstandsbereich nach sektoral begrenzt sei. Durchaus asymmetrisch zu den Beziehungs­verhältnissen zwischen den übrigen Lebenskunden und Lebenshilfen bezieht es sich auf unser Leben integral. Von Gott und Welt ist buchstäblich die Rede, von Geburt und Tod, von Leben und Sterben und von den letzten Dingen am Ende aller Zeiten. Gewiß: Auch zum Thema „Auf Reisen“ finden sich einige Strophen, aber doch nicht von der Art anderer Reiseführer, viel­mehr in Erhebung der Reise, vor der man steht, zur Metapher des Lebens etc. Auch bei „Sturm- und Wassernot“ gibt es etwas zu singen, „Bei reichlicher Ernte“ sowie „Bei sparsa­mer Ernte“. Aber in allen diesen und in vielen weiteren Fällen handelt es sich nicht um sekto­rale Spezifikationen, auf die wir kompetenzdifferenzierend zu antworten hätten. Weder dem Baedeker noch der Feuerwehr wird Konkurrenz gemacht, vielmehr vergegenwärtigt, daß wir in keiner Lebenslage der Bedingungen unseres Daseins mächtig sind, und darauf antworten die fraglichen Lieder dann mit ihrem Dank, ihren Bitten und Klagen.

Der zitierte Lebenslagenkatalog klingt natürlich etwas altväterlich, und in der Tat bezieht er sich auf Texte vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Andererseits haben sich natürlich Sturm- und Wassernöte inzwischen nicht erledigt und, nämlich in anderen Weltgegenden, Hungerkata­strophen bewirkende Mißernten ohnehin nicht. Nur sind inzwischen viele andere zivilisations­spezifische Nöte, zumeist als kontingente Nebenwirkungen technisch instrumentierten Han­delns, hinzugekommen. Nichts steht, im Prinzip, entgegen, das bei der jeweils nächsten Gesangbuchrevision zu berücksichtigen, wenn man, auf der anderen Seite, zugleich auch zu berücksichtigen hat, daß die Bemühung, konkret zu sein, bei zunehmender Geschwindigkeit in der Änderung unserer zivilisatorischen Lebenslagen schließlich in einem sinnwidrigen Aktualismus enden müßte, der es, sozusagen auf einem höheren Abstraktionsniveau, als Vor­zug erkennen läßt, sich auf das zu beschränken, was sich glaubensgeschichtlich indifferent zu dem Unterschied verhält, den es macht, ob uns Nöte aus aufgehaltenem Fortschritt oder die kontingenten Nebenfolgenlasten stattfindenden Fortschritts drücken.

Der naive Fromme und der die Vorzüge frommer Naivität reflektierende Intellektuelle erst recht wird vielleicht finden, die vorstehende Art, die Funktion des Gesangbuchs zur Funktion anderer Hausbücher in Beziehung zu setzen, sei eine Art der Beschreibung, die sich auf die Intentionen der Verfasser der Gesangbuchlieder gar nicht einläßt. Immerhin werde, zum Bei­spiel in jenem fraglichen Reiselied, Christus als „der rechte Weg zum Himmel“ bekannt und nicht etwa Kontingenzbewältigungsbeihilfe geleistet.

Dieser Einwand ist aber buchstäblich konfus, das heißt, er konfundiert unterscheidungsbedürf­tige Ebenen der Betrachtung. Die These ist ja nicht, wir fänden im fraglichen Gesangbuch eine Anleitung zum Verständnis der Religion als einer Lebenspraxis, in der wir uns zur Un­verfügbarkeit unserer Daseinskontingenz in ein Verhältnis setzen. Regeln für den Gebrauch des Prädikators „Religion“ sind in keinem Gesangbuch zu finden, und nicht einmal das Wort „Religion“ kommt, wie man erwarten durfte, in einem Gesangbuch vor. Aber was besagt das? Es besagt, daß das Gesangbuch Texte religiöser Literatur enthält und seinem institutionellen Status nach landeskirchenoffiziell ist und eben nicht ein Werk mit Beiträgen zur Religions­theorie.

Wer vom Gesangbuch in intentio directa Gebrauch macht, dankt Gott, bringt Bitten vor ihn, klagt oder singt zum Pfingstfest. Die Auskunft aber, eben darum handele es sich doch – jeden­falls in unserer hiesigen Religion oder Konfession – und nicht um „Kontingenzbewälti­gung durch Anerkennung unserer schlechthinnigen Abhängigkeiten“, macht aus einem Reflexions­verhältnis eine windschiefe Alternative. Geschieht das, mit Blick auf den entsprechend erschlichenen Beifall der Frommen, absichtlich, so handelt es sich dabei um das, was Hegel ,,frommes Aufspreizen mit Christenthum“ nannte.

Hier der Text als pdf.

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