Wie lebensnah von der Rechtfertigung des Sünders durch die Zueignung des stellvertretenden Sühnetods Christi im Glauben gesprochen werden kann, zeigt Oswald Bayer in folgendem Text:
Grundworte der Reformation: Rechtfertigung
Von Oswald Bayer
1. Grund und Mitte
Die Predigt der Rechtfertigung des Sünders ist der Grund und die Mitte der Kirche. Diese Predigt faßt sich zusammen in dem Satz: „Gott ist Liebe“ (1. Johannes 4,8 und 16). Gottes Liebe aber wird verharmlost, wenn sein Gericht verschwiegen wird. Es ist eine Riesenschuld der Predigt der Kirche, vom Frieden mit Gott zu reden, ohne deutlich zu machen, dass Feindschaft und Kampf vorausgehen (Römer 5,10). Die Liebe Gott ist keine Selbstverständlichkeit. Denn in seiner Liebe spricht Gott gegen sich selbst, gegen den Gott, der im Gesetz mich verurteilt.
Im Gesetz tritt mir Gott mit unausweichlichen, harten Fragen gegenüber: Adam, Eva! Wo bist du (1. Mose 3,9)? Wo ist dein Bruder (1. Mose 4,9)? Solche Fragen überführen mich. Was mir nicht bewusst ist, meine „unerkannte“ Sünde (Psalm 90,8), kommt ans Licht. Ja, ich werde überhaupt erst entdeckt: „Du bist der Mann!“ – des Todes (2. Samuel 12,7 und 5). Das kann ich mir nicht selbst sagen. Das muss mir von außen, von einem anderen gesagt werden. Gleichwohl werde ich so überführt, dass ich, wie David vor Nathan, dem Propheten Gottes, mir selbst das Urteil spreche. Das mir von außen widerfahrende Gesetz überführt mich zugleich von innen heraus.
Anders als im Gesetz, in dem Gott gegen mich spricht, spricht er im Evangelium für mich. Dieses „für mich“ ist Jesus Christus selber, in dem der dreieine Gott sich mit der Taufe und dem Abendmahl sowie mit jeder tauf- und abendmahlsgemäßen Predigt im „leiblichen Wort“ (Augsburger Bekenntnis, Artikel 5) zuspricht und gibt. In solchem Widerfahrnis des Zuspruchs der Sündenvergebung wird der durch das Gesetz zum Tod verdammte Sünder neu geschaffen. Seine Identität hat er bleibend außerhalb seiner selbst. Er hat sie in einem anderen: in dem, der in einem wundersamen Wechsel und Tausch menschlicher Sünde und göttlicher Gerechtigkeit an seine Stelle getreten ist und für ihn spricht. Mit diesem Ereignis des stellvertretenden Sühnetodes Jesu Christi und seiner leiblichen Selbstzueignung in Predigt, Abendmahl und Taufe – „für dich!“ – ist das Kriterium der Wahrheit gegeben, das in der Kirche gilt.
Dieses Kriterium aber verblasst, wenn Gottes Liebe, die dem Sünder gilt, ihre Unerhörtheit verliert und zu etwas Selbstverständlichem wird. Dem entspricht die Verkennung von Gottes Gericht. Verkannt wird zugleich die Erfahrung des Sich-rechtfertigen-Müssens, die jeder täglich macht. Einer klagt den andern an, setzt ihn unter den Druck, sich zu rechtfertigen: seine Existenzberechtigung nachzuweisen und zu zeigen, was er zu leisten imstande ist, was er sich leisten kann, was er aus sich macht, um etwas zu sein und zu gelten und auf diese Weise sich selbst zu rechtfertigen. Auch wo von Gottes Gericht geschwiegen und nur noch diffus allgemein von Gottes Liebe geredet wird, bleiben die Zusammenhänge der Schuldzuweisung und Anklage bestehen. Sie werden nur anonymer, gestaltloser, unkultivierter, lassen sich jedenfalls nicht mehr in der Sprache der Kirche artikulieren. So ist es auf der einen Seite durch die Schuld auch der Kirche zu dem – an sich richtigen – Satz gekommen „Gott liebt alle“, der in seiner diffusen Allgemeinheit aber eine völlige Verharmlosung der Liebe Gottes darstellt. Auf der anderen Seite bleiben die Rechtfertigungszwänge und Gesetzeserfahrungen des alltäglichen Lebens theologisch unbegriffen.
2. Sein dürfen
Gerade auf diese Rechtfertigungszwänge und Gesetzeserfahrungen des alltäglichen Lebens aber bezieht sich Gottes rechtfertigende Liebe. Sie strahlt überall dort, wo wir von uns selbst Abstand gewinnen – besonders kräftig, wenn wir über uns selbst lachen können. Sie strahlt auch in selbstvergessener Arbeit, in der wir ganz bei der Sache sind, und in einem Gespräch, in dem wir ganz beim andern sind. Sie wirkt nicht zuletzt, wenn es uns gegeben ist, inmitten schreiend unfertiger Arbeit – einzuschlafen, unverdient einzuschlafen, „ohn all mein Verdienst und Würdigkeit“. „Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzt“ – am Schreibtisch etwa – „und esst euer Brot mit Sorgen; denn seinen Freunden gibt er’s schlafend“ (Psalm 127,2).
Aber nicht nur im Genuss der Ruhe der Nacht erfahren wir den Segen eines Lebens im Glanz der Rechtfertigung, sondern auch im gefeierten Sonntag: wenn wir in unserer durchaus notwendigen und von Gott gewollten Arbeit innehalten und staunen, dass diese Welt ist – noch ist –, alle Morgen neu, staunen, dass wir sind – noch sind – und es nicht aus ist mit uns, staunen darüber, dass wir nicht uns selber ausgeliefert sein müssen.
Unser Herz muss sich nicht verkrampfen und verschließen in seinem Trotz und seiner Verzagtheit. Du darfst vielmehr aus deinem Schneckenhaus herausgehen.
Diesem Ruf, aus uns herauszugehen, folgen wir von selbst, wenn wir auf Gottes Werk der Rechtfertigung schauen: Wir haben uns nicht selber zur Welt gebracht; wir wurden geboren. Wir schaffen die Luft und den Atem nicht, von dem wir leben; Luft und Atem werden uns gewährt – jeden Augenblick neu. Wir leben in einer bereiteten Welt, in gewährter Zeit, wir leben von der Liebe des andern Menschen, die wir nicht verdienen oder gar erzwingen können; sie geschieht, wenn sie geschieht, frei – wie auch die Vergebung, wenn sie geschieht, frei geschieht.
3. Bekehrung zur Welt
Die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben war Luthers entscheidende Entdeckung bei seiner Suche nach dem gnädigen Gott. Doch scheint diese Besonderheit reformatorischer Theologie dem modernen Menschen nicht mehr verständlich zu sein. Luthers Frage: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ scheint niemanden mehr oder nur noch wenige zu berühren. Der moderne Mensch fragt vermeintlich radikaler: „Existiert Gott?“ und glaubt auf der Suche nach Freiheit die Antwort in seinem Selbst zu finden. Er übersieht, dass er gerade dabei immer tiefer in den Zwang der Selbstrechtfertigung gerät.
Er übersieht, dass er in seinem Drang zur Selbstfindung und Selbstgründung scheitert, in einen Abgrund stürzt, weil er sich nicht ergründen kann. Die Verzweiflung bei solcher Höllenfahrt der Selbsterkenntnis deckt sich mit der Erfahrung Luthers vor seinem reformatorischen Durchbruch.
Dieser Durchbruch ist die Rechtfertigung durch das Wort vom Kreuz, das die Befreiung bringt: Hineingenommen in den wundersamen Wechsel und Tausch, in dem Gott an meine Stelle tritt, bin ich frei, wegzusehen von mir. Ich kann aus dem Zusammenhang der Schuldzuweisung und Anklage und aus dem Kampf um gegenseitige Anerkennung heraustreten und mich Gott und der ganzen Kreatur zuwenden. Die durch die Rechtfertigung des Sünders geschehende Neuschöpfung betrifft die ganze Schöpfung. Sie stiftet einen neuen Zugang zur Welt, die Bekehrung zur Welt.
Quelle: Evangelische Sammlung in Württemberg, Rundbrief 60, März 2013, Seiten 5-7.