„Wenn euch der Sohn frei macht …“ – Eine Betrachtung von Hans Joachim Iwand zu Johannes 8,36: „Das ist der für uns alle gestor­bene und auferstandene Herr. Er ist unsere Freiheit. Der Sohn macht frei. Er weiß ganz genau, dass es gerade um jenen ersten Schritt geht: dass es darum geht, dass einer da ist, der mir wieder das Augenlicht schenkt, denn ich bin eben geblendet; dass einer da ist, der mir sagt: Lazarus komm heraus, denn ich liege bei den To­ten und rieche die Verwesung um mich her.“

Eine pathetische Freiheitsrede hatte Iwand 1956 gehalten, die zugleich Jesus als Befreier verkündet:

Eine Betrachtung zu Johannes 8,36

Wenn euch der Sohn frei macht, so werdet ihr in Wahrheit frei sein. (Johannes 8,26)

Wir spüren es heute alle, daß der Mensch ohne Freiheit nicht leben kann. Ohne Freiheit kann er höchstens vegetieren, aber er kann nicht Mensch, er kann nicht er selbst sein. Vegetieren, das heißt dann leben wie ein gefangenes Tier in seinem Käfig lebt, ohne daß es ins Freie schreiten, ohne daß es seine Flügel heben und sich ins Luftmeer schwingen kann. Zwischen dem Ziel, auf das hin ich geschaffen bin, und mir ist ein Gitter, eine Barriere aufgeschich­tet, die ich nicht überschreiten kann. Indem ich daran stoße, spüre ich, daß ich meine Freiheit ver­loren habe. Es wird schon so sein, Freiheit und Schöpfung werden irgendwie zusammen­hän­gen. Wo von Freiheit die Rede ist, da ist es so, daß die letzten und tiefsten Gründe unseres Daseins angerührt sind. Wir wissen uns daran er­innert, wie wir eigentlich gemeint sind, wie wir als Menschen von unserem Ziel, von Gott her bestimmt und geschaffen sind, aber in­dem wir daran erinnert werden, wissen wir doch zugleich, daß da­zwischen etwas geschehen, ein Verlust eingetreten ist, der endgültig ist. Ein Zurück zur Natur, das heißt doch wohl zurück in den Ur­stand der Schöpfung, in ihre Unschuld und Freiheit, kann es nie wieder geben. So ist aus der Natur des Menschen Geschichte ge­worden. Wir haben uns in einer Richtung bewegt, die uns nur im­mer weiter weg führen kann von dieser Freiheit. Eine Umkehr gibt es nicht, mögen wir sie noch so heiß ersehnen, mögen noch so viele Apostel und Propheten der Freiheit auftreten, die das Gegenteil versichern: Unser Gewordensein ist die einzige Wirklichkeit, die es für uns gibt.

II.

Und es sind ja nicht nur die Hindernisse von außen, die uns Not machen, es sind nicht die Verhältnisse, in denen wir uns vorfinden, [265] es ist ja auch nicht nur die Masse und alles, was damit zusammen­hängt, es ist nicht die bedenkliche Majestät dessen, was wir die öffent­liche Meinung nennen, mit der die Mächtigen dieser Welt buh­len müssen, wenn sie ihren Platz behalten wollen, nein, es sind Kräfte und Triebe, die von innen her wirksam werden und von innen her uns in die Tiefe reißen. Es ist so, als ob der Feind ins Innere der Burg sich Ein­gang verschafft hätte, von dort aus die freie Bewegung unser selbst lähmte, gerade die Tapfe­ren, die Star­ken, die durch nichts sonst zu Treffenden von hinten her überfiele. Wir alle haben unsere weiche Stelle, die kennt der Feind, dahin richtet er seine Angriffe. Da sind dann die Unbegreiflichkeiten, die ein Mensch begeht, die ihn zu Fall bringen, die es verhindern, daß sein Fuß das Land der Freiheit, der wirklichen echten Freiheit je betritt. Frei sein, das bedeutet uns, daß wir so sein dürfen, uns so zeigen und entfalten, so in Freude und Leid, so, wenn unser Weg empor geht und so auch, wenn unser Weg bergab geht, wie wir sind, wie wir von Gott her gemeint sind. Anstatt dessen bergen wir uns dann in irgendeiner Gewohnheit, nennen sie Sitte, Ord­nung, Gesetz, und wissen doch ganz genau, daß es Gitterstäbe sind, hinter die wir uns selbst gefangen gesetzt haben, die bürgerliche Gesellschaft nicht anders als die prole­tarische. Was man uns auch immer nennen mag, Beruf oder Familie, Staat oder Gesellschaft, selbst das Einzelgängertum, das einer wählt, um sich nirgends zu binden, alles kann unter der Hand für uns zur Fessel werden, zum Dokument verlorener Freiheit. Wir wissen nur zu genau, auch die, die sich frei dünken, sind’s nicht immer. Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten. Nein, es ist schon wahr, daß zwischen der Freiheit und uns Menschen ein Graben gezogen ist, ein breiter, garstiger Graben, daß, wer da wollte hinüber kommen, der kann es nicht und kann auch niemand von dort herüber kommen.

III.

Wirklich nicht? Darum geht es bei diesem unserem Text. Wenn es wirklich kein Herüber gäbe, weil es kein Hinüber gibt, dann wäre unser Textwort sinnlos. Aber dann wäre auch die ganze Bibel [266] sinnlos. Dann hätten die recht, die unser spotten, wenn wir an un­seren Ket­ten rütteln und uns dann und wann erheben und das Un­erträgliche unserer ganzen mensch­li­chen Lage empfinden und von uns abzuwerfen suchen. Dann hätten die recht, die hierzu lachen: Rüttelt nur an euren Ketten, sie sind euch viel zu stark; die hat noch keiner zerbro­chen, die goldenen und die eisernen Fesseln, die äußeren und inneren Ketten, die euch binden, könnt ihr nicht zer­brechen, nicht von euch abwerfen. Die hätten dann recht. Aber da­mit, daß wir nicht herüber können, ist noch nicht gesagt, daß da auch niemand von drüben her, aus dem Reiche der Freiheit, aus dem Reiche der ursprünglichen Schöpfung auf unsere Seite treten könnte. Unsere Unmöglichkeiten hier müssen nicht auch seine Be­grenztheiten dort sein. Das ist das Wunderbare an der Heiligen Schrift, daß sie diesen Trugschluß enthüllt, daß Got­tes Wirklich­keit und unsere Wirklichkeit einander jede nach ihrem eigenen Ge­setz gegen­übertreten, daß hier der Spott jener Spötter aufhört, daß hier unsere Sehnsucht nach Freiheit, unser Leiden an unserer Schwachheit ernst genommen wird. Hier weiß man von einem, der den glimmenden Docht nicht löschen und das geknickte Rohr nicht brechen wird. Hier geht ein großes Leuchten, ein Hoffen durch die dunkelsten Verließe und Gefängnisse, in denen die Menschen schmachten, hier weiß man von einem Tag, da die Gefangenen los sein werden, die Blinden sehend, die Gelähmten frei und sicher wandeln werden. Das weiß man. Als die klare, unzweideutige Magna Charta Gottes vom künftigen Tage unserer Befreiung steht die Bibel mitten drin in der Menschheitsgeschichte, als ein großer Trost und eine Verheißung für alle die, denen die Augen aufge­gangen sind für das Unechte und Unfreie ihres Lebens und Wir­kens. Als ob die Bibel uns einschärfen wollte: die auf den Herrn harren, werden doch eines Tages auffahren wie Adler, sie werden doch, nicht in ihrer aber in seiner Kraft laufen und nicht müde werden. Es wird doch einmal die Decke weggenommen von den Völkern und doch werden einmal die Tage kommen, da auch die schwersten und letzten gottlosen Bindun­gen und Ketten, mit denen euch dieses ganze Weltgebäude zwingt und unfrei macht, gebro­chen werden. Auch der Tod wird einmal nicht mehr sein. [267]

IV.

Ich möchte meinen, daß darum die Menschheit immer wieder gezögert hat, die Bibel wegzu­werfen, auch wenn sie sie nicht ver­stand oder wenn sie sich an ihr ärgerte — aber etwas von diesem Geheimnis ließ sie nicht los. Daß hier nicht über das gelacht wird, worüber sonst in der Welt nur ein Hohngelächter zu vernehmen ist, daß es hier nicht heißt: weil wir nicht her­über kommen, kann auch keiner von dort drüben zu uns kommen, weil wir in die Welt der Freiheit nicht einzutreten vermögen, kann auch keiner aus die­ser Welt zu uns kommen und unsere Fesseln lösen. Die Bibel hat unsere letzte Not begriffen, sie hat wirklich verstanden, wie groß der Schaden ist, an dem wir leiden. Die Bibel sagt uns, daß die Rede von der Freiheit nur Sinn hat, wenn es da, in dieser geheim­nisvollen Burg, die wir Gott nennen, eine Zug­brücke gibt, die eines Tages heruntergeht, jenen Graben überbrückt, der da klafft zwi­schen unserer Welt, der Welt des unfreien, gebundenen, vergitter­ten und verlorenen Menschen, mit denen etwas Besonderes gesche­hen ist, die in eine eigenartige Bewegung versetzt sind: Men­schen, die auf diesen Tag warten, Menschen, die immer wieder zu­rückgeworfen wurden, geschlagen und verspottet, weil sie nicht aufhörten, nach drüben auszuspähen, nach der Seite Gottes, nach den Bergen, von denen uns Hilfe kommt, die darum gegen ihre Zeit, gegen den König, gegen die Hohenpriester, gegen alles, was als Realität galt in Staat und Kirche, Stel­lung nehmen mußten, eben weil sie es wußten, daß die Freiheit kein leerer Wahn ist — solche Menschen machen die Bibel aus. Und die Bibel hat sie uns auf­bewahrt, ihre Klagen und ihre Schwachheiten, ihre Ketten und ihre Wunden, die Bibel hat uns ihr Gedächtnis und ihre Namen aufgehoben, weil sie recht bekommen haben — recht bekommen haben von Gott her und vor Gott, recht bekommen haben, tausend­mal Recht gegen alle ihre Spötter und Feinde, Recht noch im Tode und im Untergang gegen alle, die sich zufriedengaben mit ihren Ordnun­gen, ihren Gesetzen und Gewohnheiten, mit diesem fal­schen Frieden, mit all denen, die nicht mehr rochen, daß der Mensch wo anders her ist, daß diese arme Erde nicht seine Heimat ist. Und [268] der, in dem sie recht bekommen haben, heißt in der Bibel der Sohn! Darum heißt er der Sohn, weil er der ist, der von drüben, aus dem Reiche der Freiheit zu uns kommt, der so, ganz bezie­hungslos und ganz unmittelbar, ganz aus der Ewigkeit in die Zeit tretend unter uns steht. In ihm haben alle die recht bekommen, die je Nein gesagt haben zu den Fesseln und Ketten, in die wir ge­schlagen sind. Alle, die ihre Hoffnung auf Gott und sein Vermögen, seine Freiheit, seine Gegenwart mitten unter uns nicht aufgegeben haben. Das ist der Sohn! Darum heißt er der Sohn, weil alle Ver­heißungen in ihm wahr geworden sind, allen voran die der Freiheit. Sie ist eben doch kein leerer Wahn, sie ist kein Irrlicht, vor dem wir uns hüten, vor dem wir womöglich andere warnen sollten. Es gibt unechte Freiheit. Es gibt viele Ansätze und Aufbrüche, Revolu­tionen und Erhebungen, die die Freiheit proklamieren und sie doch nicht bringen. Das sind alles Griffe von hier nach dort, Signale, Schreie, Akte letzter Not. Gemeint ist in allem dieser Eine, dieser Sein Tag und dieses Sein: Ich aber sage euch! Der auf der anderen Seite steht, versteht, was damit gemeint ist! Er weiß, daß solche Ak­tionen ein Schrei nach ihm sind, nach dem, der Gott und Mensch zugleich ist, nach dem, der dort ist und hier zu uns kommt, nach dem, in dem dort hier ist!

Und seht, das ist Jesus. So will Jesus, daß man ihn sieht. So zeichnet ihn die ganze Bibel, im Alten und im Neuen Testament. Er steigt herab ganz in unsere Tiefe, in diese schmutzige Tie­fe, wo der zähflüssige Strom, den wir fälschlich das Leben nennen und der doch ein Todes­strom ist, die Menschen mit sich fort treibt, er ist herunter gestiegen bis dahin, wo unser Gefängnis ist, er geht hindurch durch all die Kerker und Verließe, wo immer Menschen schmachten. Es gibt ein Eingekerkertsein, das uns gar nicht auffällt. Aber Jesus sieht, wer unfrei ist. Jesus sieht diese unsere ganze, un­sere totale Unfreiheit, unser Unfreisein in unseren Vorurteilen, in unseren Sorgen und in unseren Wünschen, in unserer Gier und in unserer Satt­heit, in unserer Gerechtigkeit und in unseren Über­tretungen. Er sieht wie angeschlossen an lauter Fesseln sich der Mensch dahinbewegt. Wo Jesus kommt, da fallen diese Fesseln. Mag der Palast, in dem wir schmachten, mag die Burg des dunklen [269] und grausamen Herrn, dem wir da alle untertan sein müssen, noch so gut bewacht sein, der Name Jesus bricht alle Schlösser auf. Das liegt daran, daß er der Sohn ist. Gott ist mit ihm.

V.

Aber wie kommt uns Gottes Freiheit nahe? Wenn sie uns in Jesus Christus nahekommt, dann kommt sie uns immer in einer bestimm­ten, in einer von allen anderen Befreiungsaktionen unterschiedenen Weise nahe. «Wen der Sohn freimacht» heißt es, wen also dieser von dort nach hier, aus der Höhe in die Tiefe, aus dem Reich gött­licher Gerechtigkeit in den Bereich menschlicher Ungerechtigkeit, aus dem Leben in die Todeswelt gekommene Sohn freimacht, der ist in Wahrheit frei. Nicht, wer nur die Parole vernimmt: befreit euch! Das ist freilich das letzte, was wir Menschen einander und füreinander tun können, daß wir uns zurufen: Zer­brecht eure Ket­ten! Steht auf und stürzt eure Gewalthaber! Wir kennen das ja zur Genüge. Nicht nur von den großen Momenten der Revolutionen aus und den entscheidenden Augen­blicken der Politik, wenn jemand den Feuerbrand der Freiheit in ein altes Gemäuer wirft, nein, wir kennen diesen Ruf noch von einer ganz anderen Sicht her: wenn wir ihn scheinbar mit göttlicher Autorität an uns herangetragen se­hen: Steh auf und beginne ein neues Leben! Wirf ab, was dich lähmt! Steh auf und nimm deine Lagerstatt und gehe heim! Und wir dann nur hinweisen können auf die schreckliche Tatsache, daß die erste Voraussetzung in diesen star­ken Sätzen fehlt: wenn man blind ist, kann man eben nicht sehen, und wenn man gelähmt ist, kann man sich nicht erheben. Was nützt dann der Ruf zur Frei­heit! Wer kann mich denn sehend machen? Darauf käme es doch wohl an, daß einer da wäre, der mehr kann als nur die Parole aus­geben: Befreiet euch, — der mich frei macht.

Das ist Jesus. Das ist der Sohn. Das ist der für uns alle gestor­bene und auferstandene Herr. Er ist unsere Freiheit. Der Sohn macht frei. Er weiß ganz genau, daß es gerade um jenen ersten Schritt geht: daß es darum geht, daß einer da ist, der mir wieder [270] das Augenlicht schenkt, denn ich bin eben geblendet; daß einer da ist, der mir sagt: Lazarus komm heraus, denn ich liege bei den To­ten und rieche die Verwesung um mich her. Diesen ersten entschei­denden Schritt gerade können wir nicht tun, um den ersten Schritt geht es bei der Freiheit. Der erste Schritt — das ist die Freiheit! Der kann nicht von uns ausgehen, sondern muß auf uns zu getan werden. Es muß unter uns Menschen einer frei sein, damit wir ande­ren alle frei werden. Einer muß der Freie sein unter all den Un­freien, und weil das ist, weil Jesus da ist, Jesus Chri­stus der Sohn des lebendigen Gottes, darum kann aus Sehnsucht Erfüllung wer­den, darum ist der erste Schritt getan, darum können wir auch den zweiten und dritten und alle weiteren tun. Wen der Sohn frei macht, der ist wahrhaftig frei.

Geschrieben 1956.

Quelle: Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke, Bd. 3: Ausgewählte Predigten, München: Chr. Kaiser Verlag 1963, Seiten 264-270.

Hier der Text als pdf.

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