
Kirche als Mutter des Glaubens
Ob Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an das Portal der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt hat, ist mehr als fragwürdig. Was er jedoch am 10. Dezember 1520 eigenhändig im Kreise seiner Studenten vor dem Wittenberger Elstertor getan hatte, davon schrieb er an seinen Mentor Johann von Staupitz: „Ich habe des Papstes Bücher und die Bulle verbrannt, zuerst zitternd und betend, aber jetzt freue ich mich darüber mehr als über irgendeine andere Tat meines ganzen Lebens, denn sie sind noch giftiger, als ich glaubte.“ Unter Berufung auf das Evangelium hatte Luther mit der Papstkirche in drastischer Weise gebrochen, indem er – der vermeintliche Ketzer – umgekehrt Papst Leo X. exkommunizierte, ihn also eigenmächtig aus der Kirche Jesu Christi ausschloss.
Die Reformation hat zur Infragestellung überkommener kirchlicher Ordnungen sowie zur Lossagung von der kirchlichen Hierarchie geführt. Die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben an Jesus Christus schließt aus, dass den Gläubigen Kirchengebote auferlegt werden können, um damit Gnade vor Gott zu verdienen. So heißt es in Artikel 15 des maßgeblichen Augsburger Bekenntnisses: „Darüber hinaus wird gelehrt, dass alle Satzungen und Traditionen, die von Menschen zu dem Zweck gemacht worden sind, dass man dadurch Gott versöhne und Gnade verdiene, dem Evangelium und der Lehre vom Glauben an Christus widersprechen. Deshalb sind Klostergelübde und andere Traditionen über Fastenspeisen, Fasttage usw., durch die man Gnade zu verdienen und für die Sünde Genugtuung zu leisten meint, nutzlos und gegen das Evangelium.“
Aber braucht es dann überhaupt Kirche? Kann man nicht auch ohne Kirche ein guter Christ sein? Da scheiden sich nun die Geister. Schließlich lehrt Martin Luther im Großen Katechismus, dass der Heilige Geist „uns zuerst in seine heilige Gemeinde führt und in den Schoß der Kirche legt, durch welche er uns predigt und zu Christus bringt. Denn weder du noch ich könnten jemals etwas von Christus wissen oder an ihn glauben und ihn zum Herrn bekommen, wenn es uns nicht vom Heiligen Geist durch die Predigt des Evangeliums angeboten und in den Busen geschenkt würde.“ Der Heilige Geist hat „eine besondere Gemeinde in der Welt, die die Mutter ist, die einen jeden Christen zeugt und trägt durch das Wort Gottes.“ Nach Luther kann also kein Mensch außerhalb der Kirche zu Jesus Christus kommen.

Aber was meint Luther denn mit Kirche? Zunächst einmal spricht er von einer „christlichen Gemeinde oder Versammlung“, die sich dort zusammenfindet, wo das Evangelium von Jesus Christus gepredigt wird. Kirche ist weder ein Gebäude noch eine Anstalt, sondern Gemeinschaft mit Jesus Christus. So spricht Luther seinen Glauben an die eine heilige christliche Kirche aus:
„Ich glaube, dass es ein heiliges Häuflein und eine heilige Gemeinde auf Erden gibt, aus lauter Heiligen unter einem Haupt, Christus, durch den Heiligen Geist zusammenberufen, in einem Glauben, Sinn und Verständnis; mit mancherlei Gaben, jedoch einträchtig in der Liebe, ohne Rotten und Spaltung. Von dieser Gemeinde bin ich auch ein Stück und Glied, aller Güter, die sie hat, bin ich teilhaftig und Mitgenosse. Durch den Heiligen Geist bin ich in sie gebracht und ihr einverleibt dadurch, dass ich Gottes Wort gehört habe und immer noch höre; damit nämlich muss es anfangen, wenn man hineinkommen will.“
Glaube ist nicht einfach religiöses Selbstbewusstsein, sondern Vertrauen in Jesus Christus. Damit sich dieses Vertrauen findet, muss Gottes Wort immer wieder neu in der Gemeinde zugesprochen und im Abendmahl mit unserem Leben leiblich verbunden werden. So gilt also die Kirche als Mutter unseres Glaubens.