
In der neuen Ausgabe der Zeitschrift CA – Confessio Augustana 1/2017 habe ich zur Frage „Wozu ist das Christentum gut?“ Folgendes geschrieben:
Wozu ist etwas gut? Eine Frage, die Gegebenes hinterfragt. Was bringt das, was leistet es, was kann man dem abgewinnen – ganz persönlich, aber auch gesellschaftlich? Auch dem Christentum wird diese Frage mitunter gestellt, sei es kritisch ablehnend oder aber positiv apologetisch. Wir Christen wünschen uns positive und inhaltsreiche Antworten in Sachen „Gutsein“ des Christentums. Denn dann können wir von uns sagen, wir haben das mit unserem Christsein persönlich richtig gemacht. Unsere christliche Religion ist gesellschaftlich „wohltuend“ – also Werbung in eigener Sache.
Biblischer Schlüsseltext hierzu sind die Worte des Apostels im ersten Brief des Petrus:
„Ihr Lieben, ich ermahne euch als Fremdlinge und Pilger: Enthaltet euch von fleischlichen Begierden, die gegen die Seele streiten, und führt ein rechtschaffenes Leben unter den Völkern, damit die, die euch als Übeltäter verleumden, eure guten Werke sehen und Gott preisen am Tag der Heimsuchung. Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen, es sei dem König als dem Obersten oder den Statthaltern als denen, die von ihm gesandt sind zur Bestrafung der Übeltäter und zum Lob derer, die Gutes tun. Denn das ist der Wille Gottes, dass ihr durch Tun des Guten den unwissenden und törichten Menschen das Maul stopft – als Freie und nicht als hättet ihr die Freiheit zum Deckmantel der Bosheit, sondern als Knechte Gottes. Ehrt jedermann, habt die Brüder und Schwestern lieb, fürchtet Gott, ehrt den König!“ (1Petr 2,11-17)
Wozu ist das Christentum gut? Es scheint Menschen zu anständigen Menschen zu machen, die sich sittsam, fleißig, häuslich und familientreu verhalten. Dazu finden sich im Neuen Testament die entsprechenden standesbezogenen Anweisungen, wie zum Beispiel im Brief des Paulus an Titus:
„Du aber rede, wie sich’s ziemt nach der heilsamen Lehre: Den alten Männern sage, dass sie nüchtern seien, ehrbar, besonnen, gesund im Glauben, in der Liebe, in der Geduld; desgleichen den alten Frauen, dass sie sich verhalten, wie es Heiligen ziemt, nicht verleumderisch, nicht dem Trunk ergeben, fähig, Gutes zu lehren, damit sie die jungen Frauen zur Besonnenheit anhalten, dass sie ihre Männer lieben, ihre Kinder lieben, verständig seien, keusch, häuslich, gütig und sich ihren Männern unterordnen, damit nicht das Wort Gottes gelästert werde. Desgleichen ermahne die jungen Männer, dass sie besonnen seien in allen Dingen. Dich selbst aber erweise als Vorbild guter Werke, ohne Falsch in der Lehre und ehrbar, mit heilsamem und untadeligem Wort, damit der Widersacher beschämt werde, weil er nichts Schlechtes über uns sagen kann. Die Sklaven ermahne, dass sie sich ihren Herren in allen Dingen unterordnen, ihnen gefällig seien, nicht widersprechen, nichts veruntreuen, sondern sich stets als gut und treu erweisen, damit sie in allem die Lehre Gottes, unseres Heilands, schmücken.“ (Tit 2,1-10)
So ließe sich Christsein als tugendsame Anständigkeitsreligion verstehen. In der Tat wird man auch heute noch positive Auswirkungen eines aktiven Christsein hinsichtlich der Familie und der Gesellschaft feststellen können, beispielsweise in Lateinamerika unter dem Einfluss der Pfingstbewegung. Der bisweilen ekstatische Enthusiasmus, wie er sich in den Gottesdiensten der brasilianischen Assembléias de Deus zeigt, wird im beruflichen und privaten Alltag von einer protestantischen Aszetik begleitet, die zu einer tiefgreifenden Veränderung männlicher Rollen führt. Bekehrung und Aufnahme in die Pfingstkirche bewirken eine Domestizierung („Verhäuslichung“) des Mannes und damit die Preisgabe eines familienfeindlichen und ökonomisch ruinösen Machismo, der sein Gegenstück in einem weiblichen „Marianismo“ (die ethische Orientierung an der Jungfrau Maria) findet.
Der Machismo steht nämlich für eine öffentliche Rolle des Mannes, in der sich die eigene „Männlichkeit“ auf der Suche nach Bestätigung in übertriebener Aggressivität bis hin zu Gewalttätigkeit gegenüber anderen Männern sowie in Arroganz bzw. sexueller Gewalt und Promiskuität im Hinblick auf Frauen zeigt. Derartige außerhäusliche Aktivitäten, Alkoholmissbrauch eingeschlossen, wirken sich destabilisierend auf die jeweilige Familie aus und gehen zu Lasten des Haushaltsbudgets. Die Bekehrung des Mannes hingegen führt diesen nicht nur in die Kirche, sondern auch in die eigene Familie ein. Er wird durch die evangelikale Lehre – die Aggression, Gewalt, Stolz und Genuss als sündhaft verdammt – befähigt, Verantwortung für die eigene Kernfamilie und die Erziehung der Kinder zu übernehmen sowie eheliche Treue zu zeigen. Das Verhalten eines „bekehrten” Mannes als Ehemann entspricht damit den familienbezogenen Erwartungen von Frauen und erhöht nicht zuletzt das jeweilige Haushaltsbudget nachhaltig.
Wenn es um positive Veränderungen für eine ökonomisch benachteiligte Unter- und untere Mittelschicht in der südlichen Hemisphäre geht, ist der Einfluss einer christlichen Heiligungslehre, die das menschliche Sündersein angeht, nicht zu unterschätzen. Eine christlich motivierte Disziplinierung von Männern wird sich produktiv als „Industrialisierung“ („Befleißigung“) innerhalb der jeweiligen Gesellschaft aus. Die protestantische Aszetik in Kombination mit einer verbindlichen Gemeinde als sozialem Netzwerk wird zum Katalysator für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung.
Was innerhalb der südlichen Hemisphäre weithin als gesellschaftsförderlich anerkannt ist, wird in Europa gegenwärtig anders gesehen. Aufklärung, Wohlfahrtsstaat und Pluralisierung der Lebensgestaltung scheinen dem Christentum in einer spätmodernen bürgerlichen Gesellschaft keine besondere gesellschaftliche Relevanz zuzuerkennen. Allenfalls christliche Werte stehen noch im Raum. Für das Zeugnis des Evangeliums bzw. für die Glaubwürdigkeit des Christseins ist es jedoch kontraproduktiv, wenn man kirchlicherseits in und für die Gesellschaft christliche Werte geltend machen will. Wer von christlichen Werten spricht, ist sich in der Regel nicht bewusst, dass sich die Rede von gesellschaftlichen bzw. sittlichen Werten einer Wertephilosophie aus dem 19. Jahrhundert verdankt. Weder in der Bibel noch bei den Kirchenvätern oder Reformatoren ist von irgendwelchen ethischen Werten die Rede, mit gutem Grund. Der Wertbegriff hat seinen Ursprung in der Ökonomie und steht letztlich für eine Basar-Ethik: Da sich die Dinge unterschiedlich bewerten lassen, muss man um gesellschaftliche Werte feilschen.
Was für Christen gilt, sind weder subjektive noch kollektive Wertschätzungen, sondern göttliche Gebote. Mit dem Propheten Micha gesprochen: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6,8) Christen brauchen sich nicht auf gesellschaftliche Wertediskussionen einlassen. Da man für abstrakte Werte nicht persönlich einstehen kann, ist die Rede von christlichen Werten letztendlich unverantwortlich. Anders verhält es sich hingegen mit Tugenden, die personengebunden sind. Christen wissen für sich selbst, dass die von ihnen gelebten Tugenden auch der Gesellschaft zugutekommen.
Sobald man jedoch von besonderen christlichen Werten in der Gesellschaft spricht, werden sowohl das Evangelium wie auch die Kirche funktionalisiert. Als könne die Botschaft von Kreuz und Auferstehung Christi als gesellschaftliches Wertereservoir dienen, als habe die Gemeinschaft der Gläubigen für eine bürgerliche Gesellschaft als Wertevermittler tätig zu sein. Die Rede von christlichen Werten ist für Christen auf Dauer irreführend. Sie lässt diese sich mit einer scheinbar christlichen Gesellschaft identifizieren, deren „Christlichkeit“ unaufhörlich abnimmt. Man beklagt einen „Werteverlust“, orakelt über einen gesellschaftlichen Niedergang und redet in all dem sich selbst die Verheißung des Evangeliums aus: „Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.“ (2Petr 3,13). Die Ermahnungen im Neuen Testament gelten nicht etwa Menschen, die an Nationalstaaten, nachfolgende Generationen und irdisches Eigentum glauben, sondern den „Fremdlingen und Pilgern“ (1Petr 2,11), deren Lebensgeschick durch die Taufe mit dem Tod und der Auferstehung Christi verbunden ist. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebr 13,14) So kann der Apostel Paulus die Gemeinde auf das himmlische Bürgerrecht (Phil 3,20) hin herausfordern:
„Ich ermahne euch nun, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“ (Römer 12,1-2)
„Christen sind Fremdbürger“, so lautet der Titel eines höchst anregenden Buchs von Stanley Hauerwas und William Willimon, das letztes Jahr auf Deutsch bei Fontis (Basel) erschienen ist. Der Untertitel ist eine richtungsweisende Ansage: „Wie wir wieder werden, wer wir sind: Abenteurer der Nachfolge in einer nachchristlichen Gesellschaft“. Christen haben nichts zu verlieren, was nicht schon längst in Christus gewonnen ist.
Mein Artikel „Wozu ist das Christentum gut?“ findet sich hier als pdf.