
Warum Martin Luther kein Mystiker ist
Man mag sich bei Martin Luther – wie Volker Leppin in seinem Buch „Die fremde Reformation – Luthers mystische Wurzeln“ – auf die mystische Spurensuche begeben und kann dabei fündig werden. Schließlich ist ja das erste Buch, das Luther 1516 zum Druck gebracht hat, die Theologia deutsch, eine deutschsprachige mystische Schrift des 14. Jahrhunderts. Aber dennoch vermag sich seine theologia crucis in keine mystische Einung fügen. So schreibt Martin Luther in seiner Auslegung zu Psalm 4 (aus den Operationes in Psalmos):
„Was ist nämlich der Glaube anderes als jene Bewegung des Herzens, die ‹credere› (glauben) genannt wird, Hoffnung anderes als die Bewegung, die ‹sperare› (hoffen), Caritas anderes als die Bewegung, die ‹lieben› (diligere) genannt wird? Ich halte das für menschliche Trugbilder, Zustand und Akt zu unterscheiden, besonders bei den göttlichen Tugenden, in denen nichts anderes ist als: Leiden, Mitgerissenwerden, Bewegung, wodurch die Seele (anima) durch das Wort Gottes bewegt, geformt, gereinigt, geprägt wird, so dass überhaupt die Aufgabe dieser Tugenden nichts anderes ist als die Reinigung des Palmbaumes, wie Christus sagt [vgl. Joh 15,2 nach der Vulgata], wodurch der gereinigte Baum mehr Frucht bringen solle […] Es ist wohl ein steiler und enger Weg, alles Sichtbare zurückzulassen, alles Sinnliche abzulegen, aus allen Gewohnheiten herauszutreten — und zuletzt dies: Sterben und in die Hölle fahren […] Dies nennen die mystischen Theologen: ins Dunkel gehen, über das Sein und Nicht-Sein hinaussteigen. Wahrlich, ich weiß nicht, ob sie sich wirklich selbst verstehen, wenn sie das, was sie sagen, bestimmten erregten Akten [des Glaubens] zuschreiben. Richtiger wäre es, wenn sie daran glaubten, dass die Leiden des Kreuzes, des Todes und der Hölle damit bezeichnet werden. Das KREUZ allein ist unsere Theologie.“ (WA 5, 176, 9-33, Übers. Hans Joachim Iwand)