Eberhard Jüngels Oinotheologie – Der Wein bahnt der Wahrheit den Weg (aus der RGG4)

glas-wein

Der Mitherausgeber der RGG4 Eberhard Jüngel hat es sich nicht nehmen lassen, einen oinotheologischen Beitrag „Wein und Wahrheit“ in der RGG4 zu veröffentlichen (neben Günter Figals oinophilosophischem Beitrag). Da steht dann allerdings ein anderer Mitherausgeber, Bernd Janowski, mit seinem bierernsten Beitrag Wein II. Biblisch, etwas dumm da:

Wein IV. Wein und Wahrheit

Was hat die →Wahrheit mit dem Wein zu tun? Was hat der Wein mit der Wahrheit gemein­sam? Beide, Wahrheit und Wein unterbrechen die →Wirklichkeit. Wein, wenn er denn getrunken wird, unterbricht den Zusammenhang des alltäglichen →Lebens, um dieses in eine ihm sonst nicht erschwingliche Höhe zu steigern, weshalb der Wein auch als →Rausch erzeugendes Getränk gilt. Im Rausch aber steigert sich der →Mensch zu großer Form, zu seiner Form (Heidegger). Schon Jesus Sirach (→Sirach/Sirachbuch) hat deshalb die Kraft des Weins der Lebenskraft gleich geachtet (Sir 31,27).

Wahrheit, wenn sie sich ereignet, also noch nicht auf den logischen Status einer bleichen Satzwahrheit (S-P) reduziert ist, unterbricht den Zusammenhang des →Seins, und zwar so, daß jene Lichtung entsteht, in der das menschliche Dasein (→Existenz) als →Subjekt« des Seienden als »Objekt« ansichtig wird, sich daraufhin zu diesem im Akt des Erkennens (→Erkenntnistheorie) in Beziehung setzt, der im Fall des Gelingens das »abkünftige« Verständnis von Wahrheit als »adaequatio rei et intellectus« (→Thomas von Aquin, De veritate, q. 1 a. 1; vgl. I.→Kant, B 92ff.) ermöglicht und schließlich zur Satzwahrheit (S-P) erbleicht.

Dieser dem W. und der Wahrheit eigene Unterbrechungscharakter dürfte schon früh zu der Auffassung geführt haben, daß »im Wein Wahrheit ist: in vino veritatem esse dicitur« (Plinius d.Ä., Naturalis historia, 14,141). Was bisher erfolgreich verborgen wurde, der Wein bringt es [1361] an den Tag. Wie der Narr einst bei Hofe auszusprechen wagte und vermoch­te, was eigentlich →tabu war, so bricht aus dem vom Wein Enthemmten unversehens die Wahrheit hervor. Der Wein bahnt der Wahrheit den Weg.

Puristen, Moralisten und Askeseideologen wollen freilich Wahrheit ohne Wein und denun­zieren dessen →Genuß zum Zweck der Wahrheitsfindung keck als Schuld (→Sünde/Schuld und Vergebung): »Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld!/Sie wird ihm nimmer­mehr erfreulich sein«, heißt es dann (F.v.→Schiller, Das verschleierte Bild zu Sais, 1795). Der syrische Über­setzer des Jesus Sirach hat denn auch, dessen Text unverfroren manipulie­rend, den Wein verwässert, als er aus dem hebräischen »dem Leben gleich zu achten ist der Wein« das syrische »dem Wasser gleich zu achten ist der Wein« machte Wasser so gut wie Wein – schlimmer kann man den Wein nicht kränken! Und auch die Wahrheit nicht, die wohl im Wein, aber niemals im Wasser sein kann: auch dann nicht, wenn es stimmen sollte, daß das Wasser das Beste ist:

áriston mén hýdōr (Pindar, 1. Olym­pische Ode, Strophe 1). Das Beste ist noch lange nicht das Wahre.

Der Wein enthemmt, die Wahrheit macht frei. Deshalb bilden Wein und Wahrheit eine Syzy­gie, ein Zwillingspaar (→Zwillinge). Und was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.

I. KANT, Kritik der reinen Vernunft, 21787 • M. HEIDEGGER, Nietzsche, Bd. 1, 1961, 109-145. Eberhard Jüngel

RGG4, Bd. 8 (2005), 1360f.

Hier der Text als pdf.

3 Kommentare

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s