
Ausgerechnet im Flagschiff theologischer Seriosität, der RGG4, wird im achten Band die enzyklopädische Gelehrsamkeit auf die Schippe genommen, wenn Günter Figal, Philosophieprofessor aus Freiburg, sich dem Wein oinophilosophisch annähert. Besondere Beachtung verdient dabei die angegebene Literatur:
Die Philosophie hat zum Wein ein nüchternes Verhältnis. Das zeigt sich schon beim berühmtesten Trinkgelage der abendländischen Literatur. Allein der teilnehmende Philosoph verläßt die eingeschlafene Gesellschaft auf sicheren Füßen und mit klarem Kopf, um sich ins Lykeion zu begeben und dort den Tag wie gewöhnlich, also ohne irgendwelche Spätfolgen, zu verbringen (Plato, Symposion, 223d). Sokrates scheint beherzigt zu haben, was in der einzigen wirklich ausgearbeiteten Philosophie des Weintrinkens festgehalten ist: Das Weintrinken ist die beste zivile Übung der Tapferkeit (→Tugenden), es ist eine Gymnastik der →Selbstbeherrschung (Plato, Nomoi, 646a-650b). Nur wenn man die eigenen Grenzen erkundet, weiß man, wo sie sind und kann sich in ihnen halten.
Die philosophische Tradition nach Plato hat ihr Verhältnis zum Wein im allgemeinen auf das Private (→Privatsphäre) beschränkt. Das Getränk verlor seine die Philosophie herausfordernde dionysische Macht (→Dionysos/Bacchus) und wandelte sich unter christl. Vorzeichen zu einer Essenz von christologischer Bedeutung. Diese blieb zwar philosophisch nicht folgenlos, doch das Erdhaftspirituale, Leibgeistige verdünnte sich in der Philosophie zur →Logik des →Begriffs. Als es nicht mehr um »Urtheil und Seyn«, sondern um »Brod und Wein« ging, wich F.→Hölderlin deshalb vom Deutschen →Idealismus ab und ins Gedicht aus.
Es war dem Pastorensohn und Abstinenzler F.→Nietzsche vorbehalten, das Dionysische für die Philosophie wiederzuentdecken. Allerdings zeigt seine Rehabilitation des Dionysischen in der »Geburt der Tragödie« (1872), daß Kräutertee und →Wasser keineswegs immer zu einem klaren Blick verhelfen. Ausgerechnet der aufgeklärte Dionysiker Sokrates sollte hier als Verkörperung eines blutleeren →Rationalismus herhalten, während der Sachse R.→Wagner, trotz der wäßrigen Qualität der elbtäler Provenienzen, als eigentlicher Repräsentant des Dionysos erscheint. Man kann nur mutmaßen, wie die »Geburt der Tragödie« unter dem Einfluß eines ordentlichen →Bur-[1360]gunders geschrieben worden wäre. Hier wurde eine Chance vertan.
Die Wirkung des Weins auf die Philosophie, also das Verhältnis von →Geist und Weingeist, ist weitgehend unerforscht. Zu sortenspezifischen Fragen drang man erst recht nicht vor. Die wenigen Monographien, die als Pionierleistungen gelten dürfen, blieben in der philosophischen Forschung so gut wie unbeachtet. Im Zusammenhang eines erst zu etablierenden Forschungsgebiets wäre als erstes der Unterschied von weingeistigen Philosophien zu solchen zu bedenken, die entweder ganz und gar nüchtern sind oder ohne die Wirkung anderer Pharmaka nicht möglich gewesen wären wie z.B. die →Phänomenologie des Kaffeetrinkers und Zigarren- und Pfeifenrauchers E.→Husserl. Welchen Einfluß also hatte die halbe Flasche täglich zum Mittagessen auf den Gedankenbau der »Kritik der reinen Vernunft« oder, was noch näher liegt, auf die Geschmackslehre der »Kritik der Urteilskraft«? Was haben Trollinger und spekulative Dialektik nach Hegelscher (G.W.F.→Hegel) Bauart gemäß der Logik des Wesens miteinander zu tun? Gibt es eine innere Nähe von Gelassenheitsdenken und Gutedel, von philosophischer →Hermeneutik (:IV.) und Riesling aus der →Pfalz? Gehört zur Oxford Armchair Philosophy (→analytische Philosophie) ein guter Port oder steht ihr der schottische Whisky, am Ende gar der Earl Grey näher? Es ist zu hoffen, daß diese Fragen philosophische Antworten finden, ohne durch methodologische Skrupel verwässert zu werden.
JACQUES SAUVIGNON, Voltaire et le vin, Paris 1842 • KARL V. JOHNER, Oinos und Eunomie. Studien zur liquiden Spiritualität abendländischen Denkens, Bischoffingen (Kaiserstuhl) 1954 • SCOTT J. DENNIS, Thinking and Drinking. A Phenomenology of Going Beyond the Limits, Boalsburg PA 1958 • JONATHAN E. WIMSEY, The Concept of Wine, Oxford 1961 • BEAT DÖRFLINGER, Die oinologische Differenz im Seinsdenken Fritz und Martin Heideggers, Basel 1981.
Günter Figal
Quelle: RGG4, Bd. 8, Sp. 1359f.
Auch der Verlagsort des Johner-Buchs ist bezeichnend: mein Großvater hatte einen Kriegskameraden aus Bischoffingen; in den 50er und 60er Jahren fuhr er immer dort hin zum Wein holen; auf der Rückfahrt durfte dann der Beifahrer (Oma, Onkel oder der Schwiegersohn, mein Vater) dem Fahrer vom Ruländer (Pinot gris) einschenken – der Mercedes Diesel (erst 170, dann 180, dann 190 immer noch Ponton, dann 190 Flosse, 200 Flosse) kannte wohl den Weg.
siehe auch dieser alte ZEIT-Artikel
http://www.zeit.de/1975/06/man-muss-immer-trunken-sein/komplettansicht
Schönen Sonntag!
Gruß Schrade