Hans Joachim Iwands Predigt über 2. Korinther 5,19-21: „Gott stellt den Karfreitag mitten hinein in die Welt.“

Iwand mit Karl Barth 1956 auf der Jahrestagung der Evangelischen Gesellschaft in Wuppertal
Hans Joachim Iwand (2.v.l.) mit Karl Barth 1956 auf einer Tagung der Gesellschaft für evangelische Theologie in Wuppertal-Elberfeld

Versöhnung in Christo akademisch lehren ist das eine. Das Wort von der Versöhnung auf den Glauben hin in einer Predigt auszurichten das andere. Eine höchst anspruchsvolle Karfreitagspredigt findet sich bei Hans Joachim Iwand aus dem Jahr 1957:

„Gott stellt den Karfreitag mitten hinein in die Welt.“ Predigt über 2. Korinther 5,19-21

Von Hans Joachim Iwand

Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns auf­gerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Bot­schafter an Christi Statt, denn Gott vermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde ge­macht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.

Gott stellt den Karfreitag mitten hinein in die Welt. Es geht hier nicht um die Erlösung der Erlösten, oder um die Versöhnung der Versöhnten, es geht nicht etwa darum, nur bewußt zu machen, was wir je schon sind in der Hand unseres Gottes, sondern es han­delt sich um mehr, um eine Tat Gottes, die eine Weltenwende be­deutet. Es geht darum, daß Gott genau da, wo wir meinen, den Glauben an ihn zu verlieren, mitten in der verlorenen und gott­losen Welt das Zeichen seines Sieges, seiner Barmherzigkeit, sei­ner rettenden und richtenden Überlegenheit aufgerichtet hat. Wir alle rechnen in seinen Augen zu dieser verlorenen, gottfeindlichen, im Aufstand gegen ihn befindlichen Welt. Als Glieder dieser Welt, wie sie heute ist, wie wir sie alle kennengelernt haben, in den kur­zen oder langen Abläufen unseres Lebens, sollen wir es hören und glauben, daß der große Versöhnungstag Gottes mit dieser Welt wahrgeworden ist! Ließen wir ihn so gelten, wie er dasteht, dann müßten die Türen der Kirche heute ganz weit aufgehen, dann müßte in diesem Augenblick alles frei und offen vor uns liegen, was da draußen vor sich geht, dieses dunkle und schreckliche, die­ses grausame Menschen- und Weltenlos, dann dürften wir hin­schauen auf die Brandstätten des eben vergangenen Krieges, dann müßten wir es spüren bis in diesen Raum hinein, die schreckliche Atmosphäre des Hasses, der Verhetzung und der Propaganda, in der sich neues Unheil zusammenbraut, kaum daß das alte vorüber ist. Dann müßte alles vor unserem Auge stehen, was uns oft so viel Anfechtung bereitet, die erbarmungsvolle Oberflächlichkeit der Menschen, die nicht mehr wagen in die Tiefe zu gehen und einen Blick in sich selbst zu tun, die wohl oder übel ohne Vergangenheit und Zukunft leben in dem flüchtigen Moment der Arbeit und des Genusses und des eben wieder modern gewordenen Tanzes um das goldene Kalb. Und doch würden wir in demselben Augenblick wis­sen, daß das alles aufgehoben ist, daß das vor Gott nicht gilt und nicht wahr ist, so wenig wahr wie der letzte Versuch der Welt ge­lingen konnte, Gott in Christo zu widerstehen. Diese ganze weite, große, verlorene Welt hat sich eingezeichnet in die Gestalt des Ge­kreuzigten. Hier ist sie aufgehoben. Indem sie versucht, Gott los­zuwerden, ist er nun endgültig als der Sieger in ihre Mitte ge­treten.

Der Vorhang ist zerrissen, Gott ist herausgetreten aus seiner unend­lichen Verborgenheit und Tiefe

Es sind vier Worte, die sich am Anfang unseres Textes besonders auffällig und deutlich heraus­heben: «Gott war in Christo», d. h. in diesem leidenden und sterbenden Menschen Jesus da ist Gott der Handelnde, der uns allen Nahe. Gott ist also nicht etwas hinter dem Ganzen. Die Karfreitagsgeschichte ist nicht ein Drama, das sich auf der irdischen Bühne vor unseren Augen abspielt und hinter dem Gott als Regisseur steht oder von uns dazu zu denken wäre. Da ist kein Vorhang zwischen Gott und diesem Gekreuzigten. Der Vorhang ist zerrissen, Gott ist herausgetreten aus seiner unend­lichen Verborgenheit und Tiefe und hat mitten in dieser Welt, in der wir alle leben, und für diese Welt, die keinen Raum für ihn hat, in Christus ein für alle­mal sein letztes Wort gesprochen. Er hat das Tor zu sich wieder aufgetan und den großen Versöhnungstag her­aufgeführt, auf den wir alle, ob wir es wissen oder nicht, so sehn­süchtig warten. Wir alle warten darauf und müssen darauf warten, wenn anders wir je zu spüren bekamen, was Sünde und Schuld und Verfehlung bedeuten. Gott muß mitten unter uns treten, alles andere kann uns nicht helfen. Gott ist es, der das allein ändern kann. Aber eben Gott in Christus. Diese beiden sind eins, der Vater und der Sohn, der Vater im Himmel und dieser Mensch auf Er­den, und ist doch ein Werk und eine Tat, die beide tun im Sterben und im Leben, im Siegen und im Untergehn. Es ist nicht so, als ob sich in Christus in diesem Tod eine besondere Tiefe des Menschlichen offenbarte, als ob wir hier nur etwas zu sehen und zu hören bekommen, was aus unserer Welt und unseren Möglichkeiten stammt und was wir so verstehen können. Nein, der Apostel meint, ihr habt nicht eure, sondern ihr habt Gottes Möglichkeiten hier vor euch. In diesem Jesus Christus greift Gott selber ein. Er will die Welt davon überführen, daß die Gerechtigkeit und der Friede bei ihm liegt. Daß er sie sucht, auch wenn sie ihn längst vergessen hat. Daß er sie nicht losläßt, auch dann, wenn sie meint, sie sei ganz fern und ganz gottlos geworden. Und dasselbe gilt auch nach der anderen Seite hin. Man könnte ja meinen, diese Tat Gottes in Chri­stus gelte nur den Frommen, d. h. solche, die doch noch eine letzte Erinnerung an Gott bewahrt haben, und das sind, was man die religiös ange­legten Naturen nennt. Aber auch diese Gedanken müs­sen wir fern lassen, wenn wir hören und verstehen wollen, was un­ser Text uns sagt. An diesem großen Versöhnungstage geschieht nämlich wirklich, was Jesus Christus in seinen Gleichnissen immer nur angedeutet hatte: Die Türen des königlichen Saales sind weit geöffnet und die Boten werden ausgesandt, alle zu holen, die Guten und die Bösen, die Tauben und die Lahmen, die Ausgestoßenen und die Entfremdeten, nicht bloß die Idealisten, sondern auch die Materialisten, nicht nur die Gehorsa­men, die im Hause blieben, nein, auch die verlorenen Söhne, die ihr Vermögen vertan und ihr Leben verwüstet haben, — heute sind alle gerufen, ohne Unterschied! Das bedeutet: Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber, daß die Welt diese offene Tür bekommen hat, durch die alle einen freien Zugang haben von hier nach dort, nachdem Gott durch diese Tür eingetreten ist von dort nach hier. Gott und die Welt, die sonst nicht zueinan­der kommen können, begegnen sich hier und begegnen sich so, daß die Welt mit Gott ver­söhnt wird. Das ist das Große, das ist es, was Karfreitag bezeugt! Und wir alle sind immer wieder neu gefragt, ob wir das auch wirklich glauben, denn erst dann sind wir Christen! Es ist so leicht, an Gott zu glauben, wenn man die Augen schließt und die Welt nicht sieht, die Welt um uns und die Welt in uns. Und darum geschieht es dann so oft, daß wir diesen ungeprüften und eingebilde­ten Glau­ben verlieren, sobald wir die Augen auftun und sehen, was Welt heißt und bedeutet. Aber dieser weltabgewandte Glaube ist nicht der lebendige Glaube an Gott in Chri­stus, er ist der Glaube an einen gedachten, eingebildeten, selbstgemachten Menschengott, der Glaube an den Gott der Guten, der Gerechten und der Frommen, aber er ist nicht der Karfrei­tags­glaube. Und man muß den einen ablegen, wenn der andere in uns geboren werden soll. Denn der Karfreitagsglaube sieht zwar, wie es um die Welt steht, aber er glaubt nicht dem, den er da sieht, er glaubt allein das, was Gott in Christus getan hat.

Das scheinbar Negative ist das Allerpositivste in unserem Leben

Denn — und das ist das zweite und Wunderbare an diesem Ver­söhnungshandeln Gottes, daß wir nichts Positives über die Art aus­machen können, wie Gott und die Welt in Christus sind. Das ein­zige Ergebnis Gottes, das wir zu fassen bekommen, das einzige, was hier und überall durch die ganze Bibel hindurch verkündet wird, wenn die Rede auf das Kreuz Christi kommt, scheint etwas Negatives zu sein: Gott rechnet ihnen die Sünden nicht an. Mehr ist es nicht. Weil wir alle immer wieder darauf aus sind, wissen zu wollen, was Gott uns gibt, weil wir Gott immer nur als den geben­den Gott im Auge haben, können wir den vergebenden nicht fas­sen. Darum können wir auch nicht begreifen, daß das scheinbar Negative das Allerpositivste ist in unserem Leben, das Fundament, auf dem alles andere ruht, was wir an Glauben, Lieben und Hoffen kennen! Das wird in dem Augenblick anders, wenn wir im Ange­sicht der Versöh­nungstat Gottes begreifen lernen, was Verfehlungen bedeuten. «Ewig still steht die Vergan­gen­heit», sagt der Dichter, und er hat wohl recht damit, solange wir absehen von der Kar­frei­tagsbotschaft. Dann ist in der Tat das Vergangene wie ein Fels, den wir nicht wegwälzen kön­nen, denn in dem, was wir Vergan­genheit nennen, sind ja unsere eigenen Taten Ereignis ge­wor­den, die unabhängig von uns ihren Weg gehen und ihre Wirkung haben. Sie sind die großen Hindernisse auf unserem Weg nach vorn, die uns die Straße in die Zukunft versperren. Darum ist die ganze Weltgeschichte immer wieder ein verzweifelter Versuch, nach vorn durch­­zubrechen und dann ein schrecklicher Rückfall in die alte Schuld und in die alten Sünden. Es gibt Ereignisse, die so schwer sind, daß sie uns alle mit sich in die Tiefe ziehen, daß aller Mut zum Leben erlischt, alle Freude und alle Zuversicht, daß wir uns umdre­hen müssen und hinschauen auf das versunkene Sodom und Gomorrha, bis wir selbst zur Salzsäule werden! Es nützt uns dann gar nichts, daß wir übrig geblieben und mit dem Leben davon ge­kommen sind, denn wir sind gebannt an eine schreckliche Vergangenheit, die uns nicht losläßt und uns zerquält und zerfrißt mit der einen großen Frage: warum, warum? Wir hören die heimlichen An­klagen aus dem Abgrund hervorsteigen. Wir spüren, wie schwer die Gewichte sind, die sich an uns hängen, die unabänderlichen Ereignisse, die wir selbst herauf­beschwören. Dann erst, wenn man das Leben von dieser Seite aus sieht, wenn man begreift, wie die Men­schen unter solcher Last gleichgültig werden, wie sie freud- und hoffnungslos sich dahinschleppen, kann man verstehen, was für eine große Sache es ist, wenn Gott kommt und Gericht hält und das Ende und das Ergebnis darin besteht, daß es heißt: Er rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu! Wenn wir einen Blick darauf werfen, wie genau unter den Menschen selbst gerechnet wird, wie dort jeder vom anderen seine Schuld eintreibt, die einzelnen, die Völker, die Klassen, die Parteien, dann erst, wenn man dieses grausame Spiel begriffen und den Menschen einmal gesehen hat, wie er über sei­nesgleichen zu Gericht sitzt und alles anrechnet, was nur anzurechnen ist, dann kann man ermessen, daß wir hier in eine andere Welt tre­ten, eine Welt, über deren Portal eingemeißelt ist: Im Angesicht des Gekreuzigten «Gott rechnet ihnen ihre Sünden nicht zu».

Die Welt lebt nun einmal davon, daß ihre Rech­nungen beglichen werden

Das ist es, was wir nicht fassen können. Darum erdichten wir uns immer wieder ein Dahinter, einen nach Menschenart rechnenden, verklagenden, die Schuld eintreibenden Gott. Dieser Wahn müßte heute endgültig fallen, wenn es auch für uns Karfreitag werden soll. Heute müß­ten wir begreifen, daß Gott uns in Jesus nahe ist, und daß es hier kein Dahinter gibt. Daß die­ses Sein Gottes in Christo unser Sein ist, das allernächste und vertrauteste in unserem Leben, näher als alles Gewesene und als alles Kommende, näher als alle Tiefen und näher als alle Höhen, näher als die Dämonen, und zwar die guten wie die bösen, so daß uns nichts davon scheiden kann, und wir nichts anderes sehen und nichts anderes hören als dieses Wort Gottes: Er rechnet ihnen ihre Sünden nicht zu! Das heißt also, daß alle Seile zerrissen werden, mit denen die Last der Vergangenheit unser Schiff in die Tiefe ziehen möchte, daß ein Schluß­strich gesetzt wird, unter alle Verfehlungen, damit wir neu anfangen können, so neu, als finge unser Leben mit diesem Gottes­tage selber überhaupt erst an. Aber auch das ist noch viel zu wenig gesagt, um die Fülle zu fassen, die das Neue mit sich bringt, denn wahr­schein­lich würden wir gar bald wieder unseren alten Fehler ma­chen und wenn nicht die glei­chen, dann andere, die ebenso schwer sind, und so bliebe doch die Angst vor den Abgrün­den und das Wissen um die Schwächen, die nun einmal den Menschen angeboren sind. Aber, nicht wahr, dieses Mißverständnis erklärt sich daraus, daß wir schon wieder etwas Positives in der Hand halten möchten, daß wir uns nicht genügen lassen an Gottes Gnade, an dem einen: Er rechnet ihnen ihre Sünde nicht zu. Alles Positive ist in diesem Falle weniger als dieses Negati­ve, alles Sein ist weniger als das Nicht-Sein, alles Haben weniger als das Nicht-Haben. Und weil der Karfreitag uns in der Tat nicht mehr sagt, sagt er mehr als alle anderen Tage und ist er wirklich Gottes Tag in unserem Leben! Er sagt nur dies eine: Gott war in Christo und rech­nete ihnen ihre Sünden nicht zu. Und hier dürfen sie alle kommen, die Menschen dieser Welt, und einsetzen, was sie wollen, was jeden bedrückt, es mögen Berge von Schuld sein oder Ab­gründe von Versuchungen, es mag all das sein, was die vom Zweifel Angefochtenen erle­ben und erleiden, all die Blasphemie, die sie gedacht, all die Leugnun­gen Gottes, die sie gelehrt haben. Die Ungerechtigkeiten dieser Welt, wenn sie Ereignis geworden sind in dem Erleiden der Kinder und der Frauen, die Grausamkeiten des Krieges, die Hartherzig­keit der Geldmen­schen, alles das soll nicht gerechnet werden. Wenn wir Menschen so etwas täten, wo kämen wir dann hin, wo bliebe das Recht und die Gesellschaft, wo bliebe der Staat und die Polizei? Hin und wieder möchten wir es ja so haben, hin und wieder ver­suchen wir es selbst und machen Ansätze dahin, aber wir scheitern, wir müssen erkennen, daß wir die Ordnung unter­graben, von der wir alle leben, denn die Welt lebt nun einmal davon, daß ihre Rech­nungen beglichen werden. Aber Gott ist darum Gott und nicht ein Mensch. Und der Himmel ist darum nicht die Erde und der Karfreitag ist darum nicht ein Tag, wie alle anderen Tage, weil hier nichts anderes gilt, als Gottes freie, vergebende, bedingungs­lose Gnade. So tief ist das Geheimnis des Karfreitags, es ist das Geheimnis Gottes selbst! Und wenn es diesen Tag nicht gäbe, dann könnte niemand von uns wissen, wie es um Gott steht und wie wir zu ihm stehen. Und weil es das Geheimnis Gottes ist, was immer noch sein Geheimnis bleibt, auch wenn unsere Augen das Kreuz sehen, und wenn unsere Ohren die Geschichte des Kreu­zes hören, darum braucht Gott einen besonderen Dienst, der diese neue Li­nie, diese himmli­sche, göttli­che, gnadenvolle Linie mitten in der Welt und in der Zeit vertritt und unbeirrbar durchhält, mag das auch heute so wenig von der Welt verstanden werden, wie es da­mals der Fall war.

Der Tod von Jesus von Nazareth riecht nach Leben und er hat gar nichts Abstoßendes und gar nichts Schreckliches

Daraus ergibt sich das dritte, was unser Text sagt: Daß Gott nicht nur nicht anrechnet, sondern daß er einen Botendienst einrichtet von dieser Stätte des großen Versöhnungstages her, der in alle Welt hinausgeht und überall hin die Freudenbotschaft bringt. Ein alter Meister unter den Theologen hat ein eindrückliches Bild für dies Geschehen geprägt. Er vergleicht Gott mit einem König und die Welt vergleicht er mit einem Volk, das sich gegen diesen König empört hat. Durch diese Empörung, so sagt er, seien alle Glieder des Volkes schuldig geworden, denn sie haben sich aufgelehnt ge­gen ihren angestammten Herrn; aber der König setzt einen Ge­richts­tag fest in seinem Palast und unterzeichnet eine Urkunde, durch die seinem Volk die Schuld vergeben wird, die auf allen lastet. Da­mit aber jedermann in diesem Reiche wissen kann, daß er hinfort unter der Vergebung lebt, sendet der König Boten aus bis in die fernsten Winkel und Enden seines Landes, die jedermann die Bot­schaft überbringen sollen, daß der König den großen Versöhnungs­tag für alle gemacht hat. Und wenn wir uns die ersten Christen ansehen und wissen wollen, was eigentlich solch ein Apostel ist, wie hier der Apostel Paulus, der zu uns redet, dann werden wir be­merken, daß dieser Apostel sich nicht anders fühlt als solch ein Bote, und die ersten Christen sich nicht anders verstehen als solche Menschen, denen diese Botschaft gebracht worden ist. «Als Bot­schafter an Christi Statt» möchte der Apostel angesehen werden, und so sollten sich alle ansehen, die zu den Menschen von Gott re­den, denn alles andere Reden von Gott ist nutzlos und leer. Wir sollen diese Botschaft Gottes hinaustragen bis in die letzten Hütten und Dörfer, bis in die fernsten Winkel seines großen, weiten Kö­nigreiches, zu allen, die sich fürchten, die Angst haben, die zusam­men­schrecken, wenn der Name des Königs genannt wird. Eigentlich müßte, wenn wir den Apostel recht verstehen, der Karfreitag der große Freudentag der Welt sein, wir dürfen uns gar nicht versam­meln hinter verschlossenen Türen, sondern müßten selbst hinaus­gehen und alle herein­holen, damit sie es auch hören und verneh­men, daß heute Friede ist, Friede in Gottes großem, weitem König­reich, Freude auf der ganzen Erde! Friede gerade im Zeichen und Angesicht des einen Menschen, des Menschen Jesus Christus, der da am Kreuz hängt. Überall sonst ist der Tod etwas Schreckliches und überall, wo das Leben auf den Tod stößt, flieht es, denn es merkt, daß es selbst bedroht ist. Es riecht nach Sterben, nach Untergang und Ende. Aber der Tod von Jesus von Nazareth riecht nach Leben und er hat gar nichts Abstoßendes und gar nichts Schreckliches. Denn jeder Mensch, der sein Auge dahin erhebt und der diese Bot­schaft annimmt, hört hier, daß wir leben sollen. Der Tod ist zu einem Mittel geworden in der Hand Gottes, um uns alle froh und gewiß zu machen! Es ist so wie damals, als die Israeliten in der Wüste die eherne Schlange errichteten. Jedermann, der seine Augen dahin erhob, war gerettet, das Gift der Schlange schadete ihm nicht mehr, der Tod konnte ihm nichts mehr anhaben.

Es ist schrecklich, wenn die Kirche meint, mit Institutionen und Gesetzen den Menschen zu dem Letzten und Höchsten helfen zu können

Aber eines muß man freilich bei dieser Sache beachten, und dar­auf legt der Apostel den größ­ten Wert: diese Boten dürfen, weil sie Boten Gottes sind, nicht befehlen, sie dürfen nur bitten, so, als ob Jesus Christus, der hingeopferte Königssohn, selbst bäte: sonst wären sie nicht Boten des Gnadenreiches und könnten die Men­schen nicht zum Glauben rufen, sie könnten sich nicht aus der Kraft des Geistes für die Gnadenbotschaft entscheiden. Laßt mich hier noch etwas Besonderes sagen: Es war kurz nach dem Ende des letz­ten Krieges. Zum erstenmal waren wir in einer zerstörten, mittel­deutschen Stadt wieder zusammen, viele Freunde und Brüder der Bekennenden Kirche, viele von ihnen, die nicht mehr geglaubt hatten, daß sie sich jemals wiedersehen würden. Da war Martin Nie­möller, der solange im KZ von uns getrennt war, da waren Brü­der, die aus den Gefängnissen Berlins kamen, in denen sie hart am Tode vorbeigingen, da war auch der Mann unter uns, der durch die Absperrung Deutschlands solange von uns getrennt war, Karl Barth, dessen Wort uns in den Jahren der Entscheidung so viel be­deutet hatte. Und als wir dann zum Abendmahl gingen, zum ersten Abendmahl nach all den Jahren der Trennung und des Grauens, stand dieses Wort aus dem 2. Korinther-Brief über uns, und wir ha­ben uns gelobt, unser Dienst soll von nun an nichts anderes sein, als dieses Bitten: So bitten wir euch nun an Christi Statt, lasset euch versöhnen mit Gott! Es ist nämlich schrecklich, wenn die Kirche mehr sein möchte, wenn sie glaubt, die Menschen zum Glauben zwingen zu können, wenn sie meint, mit Institutionen und Gesetzen den Menschen zu dem Letzten und Höchsten helfen zu können. Mit sol­chen Mitteln, die die Staaten und vielleicht auch die Gesellschaft und vielleicht auch die Parteien gebrauchen, um ihre Untertanen und Anhänger zusammenzuhalten, gewinnt man nur die Leiber, aber niemals die Herzen. Die Herzen gewinnen überhaupt nie wir, sondern die Herzen gewinnt nur Christus selbst. Wir müssen ab­nehmen und er muß wachsen! Er, der für uns dahingegebene Sohn Gottes, muß mitten unter unserem Bitten so groß werden, daß durch ihn geschieht, was an diesem Tage geschehen soll und kann. Sonst wäre ja dieser Versöhnungstag Gottes eben doch nicht der Tag aller Tage, sonst wäre er nicht der Tag der großen Freiheit, sonst würden die Menschen sich ja doch wieder nur auf Menschen verlas­sen. Bitten heißt ja, darauf angewiesen sein, daß der, den wir bitten, es tut. Haben wir nicht erfahren in den Zeiten, da unsere ganze kirchliche und geistige Herrlichkeit zusammenbrach, daß viele Men­schen, die sich Christen nannten, eben doch nicht zu Christus ge­hörten, daß sie sich noch niemals freiwillig, noch niemals aus freien Stücken Gott ganz übergeben hatten? Es gehört Glaube dazu, Glau­be an Gott und Glaube an das Wunder des Glaubens, das Gottes Geist an uns Menschen tun kann, wenn man diese Grenze innehält. Ein Glaube, der mehr verlangt als etwa nur, daß wir an das Gute im Menschen glauben sollen, nein, wir können und dürfen und sollen glauben, daß der Mensch sich versöhnen läßt, wenn Gott in Christus ihn bittet, daß er sich in innerer Freiheit versöhnen läßt, einfach darum, weil es ihm von Gott her aufgeht, daß die Feind­schaft zu Ende ist und darum auch bei uns zu Ende sein muß.

Auf die­sem einen Jesus Christus liegt die ganze Nacht

Denn wir gehören ja nun auf die andere Seite. Auf ihm, auf die­sem einen Jesus Christus, liegt die ganze Nacht — und auf uns, auf allen, die nicht Jesus Christus sind: «Durch seine Wun­den sind wir geheilt.» Wir sind — oder wir könnten jedenfalls sein — Gottes Gerechtigkeit! Also gerade das, was wir bisher nie sein konnten. Denn bisher konnten wir ja nur unsere eigene, fatale, abstoßende, Heuchler und Pharisäer zeitigende Gerechtigkeit sein. Bisher wa­ren wir im besten Falle so gerecht, daß immer wieder ein fataler Geruch von dieser Gerechtig­keit ausging, der jene Grenzen und Grä­ben schuf, die uns alle gegeneinander mit dem tiefen Mißtrauen er­füllen. Gottes Gerechtigkeit ist diese uns unsere Sünden nicht an­rechnende Gerechtigkeit, ist seine souveräne Tat — durch die aus dem größten Elend die größte Freude, aus dem Unabänderlichen das Werden des neuen Lebens wird! Das ist gemeint mit dem Satz, mit dem unser Text schließt: «denn Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir würden die Gerech­tigkeit, die vor Gott gilt». Wenn wir einmal erkannt haben, daß wir mit unserer bedenklichen eigenen Gerechtigkeit nicht bestehen kön­nen, weil wir in Jesus Christus gerichtet sind, dann werden wir uns nicht mehr der neuen Gerechtigkeit schämen, die am großen Ver­söhnungstage vor aller Welt von Gott proklamiert wurde und der zu dienen bis heute das Predigtamt berufen ist.

Gehalten in Bonn am 20. April 1957 (Karfreitag).

Quelle: Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke, Bd. 3: Ausgewählte Predigten, München: Chr. Kaiser Verlag 1963, Seiten 278-287.

Hier die Predigt als pdf.

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