Ernst Fuchs, Adventsansprache (1963): „Wo Gott wohnt, wird alles anders, da hat alles Zukunft, da gibt es keine Mietprobleme, da weicht die Finsternis, da ist Zu­kunft, da liebt die Liebe und spricht: ’siehe, ich mache alles neu!‘ Der Glaube macht das Warten zur Erwartung. Was erwarten wir von Gott? Der Glaube erwartet von Gott, daß sich Gott im Leben und Sterben durchsetzt. Und so tun wir alle gut daran, uns auch am Weihnachtsfest dieses so viel Trauriges bergenden Jahres dem Glauben hinzugeben.“

Adventsansprache (1963)

Von Ernst Fuchs

Wir versuchen, auf jenen Satz zu hören, den wir Joh 1,14 und 16 lasen:

„Und das Wort ward Fleisch
und nahm Wohnung bei uns,
und wir schauten seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des Einziggeborenen vom Vater,
voll Gnade und Wahrheit.“

Dazu:

„Denn von seiner Fülle haben wir alle genommen,
ja, Gnade über Gnade.“

Was wir da hören, sobald wir verstehen, ist ein Gesang, ein Lied, dem auch die Noten nicht fehlen, weil die Worte an die Stelle der Noten getreten sind. Als der Gesang, der es ist, schwingt sich dieses Lied in der Nacht der Welt empor und macht sie still.

Es sind für die Welt tote Menschen, die da singen, aber eben nicht tote Seelen. Sie bewegen sich wie in einem großen Zuge einer Mitte entgegen, dorthin, wo sie Jener grüßt, den sie gesehen haben, wie auf dem Fries in jener Theoderichs-Kathedrale in Ravenna. Da verstummt alles dumme, hastige, satte Getue, das die Gefahr unsres Daseins alltäglich so oft übertönt, verdrängt. Die hier das Evangelium singen, haben hinter sich, was den Menschen am Menschen stört. Eben deshalb vermögen sie auf Jenen hinzuweisen, der ihnen die Augen für Gottes Herrlichkeit geöffnet hat. Sie haben das Licht gesehen, Gottes Licht in Gottes Sohn. Weil der Gesang beginnt, ist alles schon entschieden: „Und das Wort ward Fleisch und es nahm Wohnung bei uns und wir sahen seine Herrlichkeit.“

I.

Gott unterscheidet sich vom Menschen. Sonst könnte das Evan­gelium an dieser Stelle nicht sein „Und“ sagen. Gott unterschei­det sich vom Menschen anders, als das der Mensch vermuten muß, solange er nur von sich aus den Versuch macht, an Gott zu denken. Gott unterscheidet sich vom Menschen so, daß Gott zu uns kommt, weil wir keinen Weg zu ihm fänden. Gott unter­scheidet sich von uns, indem er zu uns kommt, bei uns verweilt und sich sehen läßt. Gott wurde aber nicht einfach so Mensch, als hätte er sein Göttliches aufgegeben, sondern Gott wurde „anschaulich“. So haben wir dieses schwierige Wort „Fleisch“ zu verstehen versucht. Gott blieb und bleibt Gott, aber das gab Er uns kund, weil Gott das Wort gesprochen haben wollte, von dem wir leben, als Licht, das uns Gott anschaulich macht. Dieses Wort war das Wort, das unerschöpflich „Gnade“ schenkt. Denken wir bei dieser Wendung noch an die Sprache des Apostels Paulus, so wagt es der Evangelist und erinnert später durchaus auch an (Maria und) Joseph, zeigt, daß und wie sich Jesus, Er, „da, ja, der Mensch“ vom Menschen behaften, verhaften, kreu­zigen läßt und doch tut, was kein Mensch, sondern nur Gott tun kann, Wunder über Wunder, denn: „Ich bin das Licht der Welt“. Er erlitt das betrübte Unwesen der Herde, die ihren Hirten nicht mehr kennt, und liebte sie doch, sie Alle, bis zum Kreuz. So holt Er sich eine Gemeinde zusammen, die ihren Hir­ten wieder kennt, sagt den Verlorenen, daß sie in die Freiheit gerufen sind, läßt sie hören, wer sie ruft, indem er ruft.

Wie sollen wir uns das alles erklären? Kaum ist Gottes Wort da und an sein Werk gegangen, so kommen auch schon die Ein­wände: Wiedergeburt, was soll das? Wahrheit, was ist das? Lieber Evangelist, läßt du uns träumen? Willst du unsre Welt­wirklichkeit ins gar zu Silberne ziehen? Darf man denn das Gött­liche so dicht machen, wie das hier in diesem überhellen Evan­gelium geschieht? Doch der Evangelist kann antworten. Er be­schönigt nichts. Er zeigt uns kein Zwielicht, läßt nichts ver­schwimmen, sondern macht unheimlich deutlich, was Gott in der Welt widerfährt, weil Gott der Welt widerfährt. Zuerst sieht es im Evangelium so aus, als sei Gott der Fremde, während uns die meisten Menschen, denen Gott begegnet, recht vertraut vor­kommen. Aber das Blatt wendet sich, und auch das von vorn­herein. Gott nimmt die Züge Dessen an, der unser Zutrauen er­wirbt, weil er alle kennt und versteht, während die Peiniger immer ferner rücken und endlich bloß noch in politischen Figuren wie schemenhaft am Rande stehen. Sie müssen sogar zu Werk­zeugen des Wortes Gottes werden. „Und das Licht scheint in der Finsternis.“ In dieser Finsternis sammelt sich die Herde um ihren Hirten, sammeln sich Gequälte in der Nacht um das Licht. Gott schafft sich Gehör. Gottes Wort ist die Stimme, die Keiner hört, ohne jene Herrlichkeit zu erfahren, wie sie nicht einer sündigen und deshalb dunkel gewordenen Welt, wohl aber Gott, ihrem Schöpfer, zu eigen ist. Göttlich ist die Stimme, weil sich Gott nicht anders bemerkbar macht als in seinem göttlichen Schaffen, in einem Licht, vor dem alle Finsternis verschwindet.

So also war das mit Jesus. Als er bei uns Wohnung nahm, sagen sie, da sahen wir nicht mehr auf die Herrlichkeit der Welt, nicht auf ihre Triumphe, sondern da sahen wir Gott in seinem Glanz, und der Glanz lag ganz und gar auf Ihm, dem Einzig­geborenen, dem Geliebten vom Vater. Der Evangelist bemerkt nicht einmal, daß Er Gottes Ebenbild war oder ist. Wir sollen uns sein Wesen nicht vorstellen, wir sollen es erfahren! Denn da gilt: wo der Sohn war, da ist auch der Vater. „Ich und der Vater sind eins.“ „Wer mich sieht, der hat den Vater gesehen.“ Warum das? Weil sich dieser Sohn ganz und gar an das hält, was der Vater ihm mitgibt: an den unermeßlichen, gnädigen, wunder­baren und doch kristallklaren Vorsprung Gottes vor allen Men- sehen, an die Fülle, die nicht aufhört, weil sie nicht aufhören kann, wenn sie einmal angefangen hat, auszugeben: an ihren unaufhaltsamen Gang — nicht einer nur um sich selbst kreisenden Weltgeschichte, auch nicht einer ihre Kräfte nur immer wieder umlegenden, neu verteilenden Natur, sondern viel einfacher: auf dem Weg der Liebe. Jawohl, Liebe ist das Stichwort des Evan­geliums von Gottes Wort. Warum? Darum, weil allein die Liebe göttlich ist, klar, hell, herrlich. Weil die Liebe das Wunder aller Wunder ist und tut. Weil sie den Tod vertreibt und das Leben bringt. Weil sie allein von der Angst in die Freude führt. Weil die Liebe, sie allein, jenes „Und“ zur Wahrheit macht, von dem es heißen muß: Gott und Mensch.

Darum, darum allein kommt und geht, kam und ging Jesus vom Vater – zu uns. Als er vom Vater kam, brachte er das Licht der Liebe zum Scheinen. Als er zum Vater ging, ging er in das Licht, das er in den Seinen zum Scheinen bringt. Das ist die „Kehre“ in seinem Kommen und Gehen: wo vorher Finsternis alles, was Gott tut, verdunkelte, da macht jetzt das Licht der Liebe alles hell, weil Jesus in uns lebt. Die Liebe selbst ist ihr Licht, in welchem wir dieses Vollbrachte, Gnade und Wahrheit, behalten, das Licht, das für immer dieses Eine anschaulich macht: Gott und Mensch! Wer Gott sagt, soll fortan wissen, daß Gott Liebe ist. Wer als Mensch lebt, soll wissen, daß er fortan zu allem, was in sein Dasein gehört, dieses Eine Wort: „Liebe“ hin­zufügen muß, Liebe, die alles umkehrt, was vorher verkehrt war, Liebe, welche zum Menschen Ja sagen will und Ja gesagt hat: Ich und du! Du, o Mensch, sollst ebenfalls zu mir, deinem Gott, Ja sagen können und mich allezeit anrufen dürfen, weil auch du bei mir zu Hause und von mir, deinem Gott, besucht bist. Diese, meine, Liebe, die wahre Liebe, überstrahlt nicht nur alle Finster­nis, sondern streift sie auch von dir ab, weil ich, ein Vater, auch dir: dein Vater, alles, was dir ins Leben hilft, selber schicke, selber tue und selber vollende. Da ist Fülle. Die Liebe bereitet sich ihren Ort selbst. Kommt sie in die Welt, so hat sie bereits den Raum geschaffen, den sie erfüllt. Dieser Raum legt sich nach den Maßen der ihn füllenden Liebe aus, macht auf ungeteilte Wirklichkeit Anspruch und gibt sich deshalb lauter und rein zu erkennen, zerteilt alle Schleier. Die Liebe ist nicht gegen die Natur, aber sie ist anders als die Natur und erhebt sich über sie, wenn eine dunkle Welt in die Natur absinkt.

II.

Das Wort Liebe ist ein heikles Wort. Es fügt schon in der Natur zusammen, was sonst bis zur äußersten Bitterkeit getrennt sein und sich so schmerzhaft entgegenstehen kann: Eros und Opfer. Allerdings: Ein ins Sterben gehendes Opfer verzehrt den Eros, indem es zur Liebe verklärt. Das Widerspiel, der andere opfernde Eros, zehrt sich auf. Daß es nie beim Eros bleibt, ist ein Glück. Der Eros ist Übergang, so wie die Jugend Übergang ist. Der Eros ist natürlich. Weil wir allezeit als sterbliche Menschen mit der Natur verbunden, an sie gebunden sind, werden wir den Eros nicht los. Wir sollen ihn auch gar nicht loswerden! Das ist ja gerade einer der Maßstäbe, wie sie uns von Gott gegeben sind, weil wir sie brauchen, um uns selber beurteilen zu können. Wir fragen mit Recht, wozu wir eigentlich Lust haben. Ist es dies oder das? Oder hoffentlich ein Leben, wie es nur zwischen Menschen, zwischen Personen, aber nicht zwischen Mensch und Tier, nicht zwischen Mensch und Pflanze gelebt werden kann? Darauf ant­wortet der Eros. Er antwortet, weil wir den Eros auch in der Natur, abseits vom Menschen finden. Ist der Eros in der Natur geregelt, so ist er bei uns Menschen Aufgabe. Wir sollen den Eros in sein Wesen zurückbringen. Das Wesen des Eros, dem er bei uns zu dienen hat, ist: Liebe. Die Liebe besteht aus Eros und Opfer. Die Liebe freilich zählt’s nicht zusammen, sie lebt nur im Licht, nur als Licht, das alles erhellt, was zwischen Menschen vor sich geht, auch wenn Menschen sich hassen. Klafften Eros und Opfer auseinander, dann schreibt die Geschichte der Welt Bücher des Verzagens. Dagegen schreibt die Liebe Jesu Christi ihr Wort im Evangelium auf, nicht weil sie unsre Seufzer überhört, sondern weil sie uns in ihr Reich göttlicher Freude geleiten will. Gottes Freude ist Freude an der Liebe.

Die Freude hat also schon ein „Woran“. Die Freude freut sich an der Liebe. Deshalb ist wahre Freude selbstlos. Sie vertreibt: den Neid. Das kann sie, weil die Liebe alle Furcht austreibt.

Daran möchte sich unser Weihnachtsfest beteiligen. An Weih­nachten soll sich niemand fürchten: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude!“ An Weihnachten soll aller Streit ruhen. Die öffentliche Welt sagt: seid guten Willens! Auch dieser Imperativ ist nicht wertlos. Aber er reicht selten dorthin, wo uns Jesus Christus zum Stellvertreter des Glaubens wird. Denn der Glaube glaubt, daß Gott die Welt geliebt hat. Der Glaube reicht in die Liebe. Er ist der Anfang ihrer Freude. Denn aller Anfang beginnt im Reich der Liebe mit einem „Schon“: im Anfang war das Wort. Und so ist der Glaube selber die Ansage seiner Zeit: der Glaube glaubt, daß die Zeit der Liebe gekommen ist. Der Glaube kennt die innere Uhr der Liebe, die Freude an der Liebe. Das gilt ja bereits für den Eros. Es gilt weit tiefer noch für die Liebe selbst. Und so geschah’s, daß die Liebe aus ihrer Freude im Glauben das Wort entband, das aus der Liebe kommt und in die Liebe führt, das Wort, das Glauben gewährt, Freude macht, weil es das Wort der Liebe ist; das die Liebe an­bietet und verbreitet, weil es selber Liebe ist. Dieses Wort heißt Ja. Es ist das Jawort und es bleibt das Jawort, mit welchem Gott den Menschen als den von ihm geliebten Menschen angenommen hat, annimmt und annehmen wird, obwohl wir das nicht ver­dienen und auch wissen, daß wir es nicht verdienen. Lieben heißt, zu seinem Nächsten Ja sagen, ihn nicht bloß ertragen, sondern auch tragen können und wollen, so, wie man Kinder trägt und in der Nacht auch erträgt.

III.

An Weihnachten also fehlt meist nicht das Wollen – daher bedient sich weltliche und kirchliche Politik dieses Worts -, aber leider manchmal einfach das Können. Der Mangel im Können liegt nicht dort, wo wir arm sind, weil wir nichts Rechtes zu geben wissen. Wir können uns schon mancherlei einfallen lassen. Als noch Stricknadeln klapperten, war unsre Welt dem Bereich einer weihnächtlichen Gemeinde eben doch nähergerückt. Unser Leben ist zwar äußerlich schon wieder auf geblüht, in Wahrheit aber doch illusionsloser geworden. Kann die Liebe diese Härte bestehen? Eben das ist die an uns gerichtete Frage. Verspieltheit oder Tändelei wird gegen Maschinenpistolen nichts ausrichten. Was uns helfen soll, muß kräftiger sein. Das Evangelium des Wortes der Liebe führt ans Kreuz. Schweigt Gott?

Es ist wahr: auch Schweigen kann sein Wort sein. Und doch ist es kein Zufall, daß an Weihnachten die Lieder der Gemeinde besonders hell klingen. Die Melodien sagen da manchmal mehr als die Texte. (Man braucht sich nur eine Blockflöte vorzuneh­men, um das sofort zu merken.) Was dann? Nun, an Weih­nachten sollte die Predigt und ihr einmaliger Text allerdings das Wichtigste sein. Die Predigt ruft zum Glauben. Das heißt doch, daß gerade unser Raum und Ort hier, in der Welt, Gottes Haus und Wohnung werden soll, die Heimstätte der Wunder der Liebe, wo auch unser Wort wieder zum Wort der Liebe wird; wo Gottes Familie wohnt. Sicher, wir können das oft genug nicht zusammenreimen, weil eben so viel davon fehlt. Aber eben des­halb will Er unsern Glauben haben. Im Glauben wohnt er uns bei. Wo Gott wohnt, wird alles anders, da hat alles Zukunft, da gibt es keine Mietprobleme, da weicht die Finsternis, da ist Zu­kunft, da liebt die Liebe und spricht: „siehe, ich mache alles neu“! Der Glaube macht das Warten zur Erwartung. Was erwarten wir von Gott? Der Glaube erwartet von Gott, daß sich Gott im Leben und Sterben durchsetzt. Und so tun wir alle gut daran, uns auch am Weihnachtsfest dieses so viel Trauriges bergenden Jahres dem Glauben hinzugeben.

Gehalten in der Vorlesung über das Johannesevangelium, 20. Dezember 1963.

Quelle: Ernst Fuchs, Glaube und Erfahrung. Zum christologischen Problem im Neuen Testament, Tübingen: J.C.B. Mohr, S. 480-486.

Hier der Text als pdf.

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