Predigt zum Bußgebet Daniels (9,15-18) vom 16. November 1938 (Auszug)
Von Erhard Mueller
Das Bekenntnis der Schuld als der Wurzel alles Übels ist geradezu Beruf und Aufgabe der Kirche. Es ist umgekehrt das Kennzeichen der Welt, daß sie die Schuld leugnet, indem sie versucht, entweder die Schuldfrage ganz zu vertuschen oder aber, wo sie aufgerollt wird, sie über den anderen zu rollen. Der biblische Schuldbegriff soll ausgemerzt werden in unserem Volk, ja diese radikale Ausmerzung des biblischen Schuldbegriffs nennt sich noch ausdrücklich »positives Christentum«, so sehr kommt der Wolf im Schafpelz daher. In dieser Lage unserer Tage ist es um so unabweislicher, daß die Kirche mit dem Propheten Daniel laut und deutlich feststellt, was bereits als Landesverrat bestraft zu werden beginnt: »Wir«, wir – und nicht die anderen! – und zwar unsere »Könige, unsere Fürsten und unsere Väter« (cf. V. 8), haben gesündigt! Nicht etwa das unterscheidet die Kirche von der Welt, daß in ihr weniger Schuld vorhanden wäre, sondern dies, daß die Kirche unter Gottes Wort diese Schuld erkennt und bekennt. Die Welt erkennt sie nicht, ja sie leugnet sie radikal und rechtfertigt sich mit einem Apparat lügnerischer Propaganda. Wie sollte sie auch anders handeln?! […]
Wo das Schuldbekenntnis verstummt, wo man sich durch Stillschweigen oder Zusehen gleichschaltet mit der Lüge der Welt, da ist nicht mehr Kirche Jesu Christi. Weh der Kirche, die das unerbittlich kommende Gericht Gottes über allen Abfall und gesetzliche Gewalttat dem Volke verschweigt und es dadurch bestärkt in seiner eitlen, gottlosen Selbstsicherheit. Gott wird die Seele des Gottlosen von ihr fordern! Weh einer Kirche, die der Masse der Getauften in unserem Volk nicht mehr zu sagen wagt, daß die 10 Gebote unter allen Umständen in Geltung stehen. Gott läßt sich von einer ängstlichen, vor offenem oder heimlichem Terror zurückweichenden Kirche nicht seinen Zorn verdecken. […]
Aller Antisemitismus, sofern er der Ausdruck stolzer Selbstgerechtigkeit ist und er gibt sich heute so – ist eine Verachtung der Vergebung am Kreuz, ein Trotzen auf eigene Gerechtigkeit. Hier, an dieser Stelle gilt es radikal umzukehren, Buße zu tun! Weh der Kirche, die hier schweigend beiseite steht, die hier nicht vielmehr in die Kniee bricht vor ihrem ganzen Volk, wie Daniel es vor der Gemeinde tut: »Wir liegen vor dir nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit«!«
Gehalten in Wermelskirchen nach der Reichspogromnacht.
Quelle: Wolfgang Scherffig, Junge Theologen im ‚Dritten Reich‘. Dokumente, Briefe, Erfahrungen, Band 3: Keiner blieb ohne Schuld 1938-1945, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1994, S. 122.