Martin Niemöller, Rundfunkpredigt zu Johannes 11,23-26 (1933): „Christus ist die Auferstehung und das Leben; und wenn er Glauben fordert, dann will er als der Herr unseren Dienst und unseren Gehorsam; dann will er selber in unserm Leben stehen als der, der unser Leben regiert, als der, der unser Leben ist! Der christlichen Mitläufer und Parteigänger gibt es viele;und es ist mit ihnen wie mit allen Mitläufern, dass sie sich auf ihre Überzeugung alles Mögliche zugutehalten; aber damit ist es nun einmal nicht getan: wer an Chris­tus glaubt, der muss sich seinem Anspruch beugen und sich für seinen Anspruch offenhalten.“

Rundfunkpredigt zu Johannes 11,23-26

Von Martin Niemöller

Jesus spricht zu Martha: Dein Bruder soll auferstehen! Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben! – Glaubst du das? – (Johannes 11,23-26)

»Ich glaube an eine Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben!« – Das ist der Osterton, in den unser altchristliches Glaubensbekenntnis triumphierend aus­klingt, und mit dem es der Christenheit den Weg der Hoffnung weist. Und es ist der gleiche hoffnungsfrohe Klang, der diese ganze nachösterliche Zeit beherrscht im Wort der Verkündigung wie im Lied der feiernden Gemeinde! – Der Kampf zwi­schen Leben und Tod ist entschieden; und was jetzt noch kommt, ist nur noch eine Frage der Zeit, eine Frage des Ausharrens, eine Frage der Geduld. Aber eine eigent­liche Herrschaft des Todes erkennen wir nicht mehr an; seine Macht gilt nur noch auf Zeit: wir müssen zwar hindurch; aber es ist auch wirklich nur ein Hindurchgehen, und hinter dem finstern Tal grüßt uns die Sonne eines neuen Tages: Auferste­hung des Fleisches und ein ewiges Leben! –

Merkwürdig, wie fest diese Überzeugung in unseren Herzen wurzelt! Merkwür­dig, wie dieser Glaube an Sterbebetten und Gräbern urplötzlich wieder Macht über die Seelen gewinnt, selbst dort, wo alles, was wir Glauben nennen, längst erstorben schien! – Es sieht in der Tat so aus, als hätten wir’s hier mit einer Anschauung zu tun, die irgendwie ihre Heimat in den letzten Tiefen des Menschseins hat. Da ruht sie unverlierbar und unzerstörbar: wohl einmal verschüttet, wohl oft vergessen; aber eben doch nicht tot – das Feuer glimmt unter der Asche und wartet nur auf den Luftzug, der es wieder zur Flamme entfacht! Und so lebt die Ewigkeitshoffnung – in manchen Formen zwar und in mancherlei verschiedener Gestalt – aber sie lebt überall, wo Menschen sich vor das Todesschicksal gestellt sehen! –

Freilich: das ist noch die Frage, ob wir uns dieser merkwürdigen Tatsache freuen dürfen, ob sie wirklich geeignet ist, unsere Hoffnung zu beleben?! Und da müssen wir uns ja wohl eingestehen, daß wir bei ehrlichem Nachdenken auch zu einer ganz entgegengesetzten Folgerung kommen können: Wenn wir schon ausnahmslos dem Tode entgegengehen, und wenn schon der Tod unser Leben mit all seinen Plänen und Zielen ständig bedroht, dann liegt es versucherisch nahe, daß wir uns so etwas wie eine Rückendeckung schaffen: Entweder wir gehen überhaupt dem Todesge­danken aus dem Wege, oder aber wir suchen ihm eine lichte Seite abzugewinnen, die es uns ›möglich macht‹, auch dann noch den Kopf oben zu behalten, wenn der Tod unausweichlich vor uns steht.

Ich fürchte: unsere landläufige Ewigkeitshoffnung ist nichts anderes als solch ein menschliches Angstprodukt, dazu bestimmt, uns über den Ernst unserer Lage hin­wegzuhelfen. Und so pflegt sie denn auch in erster Linie der Trost derer zu sein, die an einem Sterbebett Zurückbleiben, und weniger der Trost dessen, den es gerade trifft, und der sich wohl oder übel in sein Schicksal finden muß! – Jedenfalls gewin­nen wir von hier aus keine Gewißheit, auf die wirklich Verlaß wäre, und die uns im entscheidenden Augenblick nicht im Stiche ließe! –

Ja: wenn wir mit dieser allgemein menschlichen Ewigkeitserwartung Ernst ma­chen, dann wird die Sache insofern tatsächlich ernst, als wir dann nicht mehr an der Gottesfrage vorbeikommen! – Soll der Glaube an ein Leben jenseits des To­des mehr sein als eine gelegentliche Ausflucht, soll er als wirkliche Überzeugung in uns leben, dann ist er immer zugleich Glaube an den lebendigen Gott, der über uns steht als der unbedingte Herr und der uns auch mit dem Tode nicht aus unserer Verantwortung entläßt: Ewiges Leben und jüngstes Gericht gehören zusammen! – Das heißt aber: Wir können aus diesem Glauben niemals ernsthaft eine Rückende­ckung machen; denn die Stellung, auf die wir uns da zurückziehen wollen, ist schon umgangen. Wir wollen dem Begriff des Todes entgehen und machen dabei die Ent­deckung, daß wir nur einem anderen in die Arme laufen, vor dem es kein weiteres Entrinnen mehr gibt. Denn wenn wir »Gott« denken und »Gott« sagen, dann sind wir mit unserer Weisheit und mit unseren Künsten am Ende; dann gibt es nur noch die Möglichkeit, und diese eine Möglichkeit ist einfach ein Müssen, eben, weil es keine andere Möglichkeit mehr gibt: Wir müssen uns ergeben auf Gnade und Un­gnade. Wir sagen: Der Tod ist nicht das Letzte! – nun, so heißt das: Gott ist das Letzte! – und wieder stehen wir vor einem undurchdringlichen Dunkel und nicht vor einer lebendigen Hoffnung!

Es entspricht durchaus dem, was in der Seele jener Martha von Bethanien vorging, wenn wir aus ihren Worten eine tiefe Resignation heraushören: »Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am jüngsten Tage!« – Das ist nicht ein Wort des Zweifel; das will nicht sagen: ich weiß wohl etwas von einem jüngsten Tage, aber ich glaube nicht recht daran! Hier schwingt etwas von dem, was wir alle kennen, wenn wir jemals mit wundem Herzen an einem offenen Grab gestanden haben: was dies Leben ist, das wissen wir zwar nicht, aber wir kennen es und wir hängen daran; denn bei allem Leid und bei allem Weh spüren wir ja doch die Wärme dieses Lebens, die Wärme, die uns erfüllt und die uns umgibt! –

Und überall, wo es »Sterben« heißt, da kommt etwas Feindseliges auf uns zu, da berührt uns ein kalter Hauch; und alles, was uns dann trösten soll, alles, was wir dann an Hoffnungen zusammensuchen, ist doch nur wie ein fernes Licht, das keine rechte Wärme hat: Das Frösteln bleibt! – »Auferstehung am jüngsten Tage«, ja, das ist solch ein ferner Hoffnungsschimmer und das auch nur, wenn alles gut geht, nur, wenn wir dort im letzten Gericht einen gnädigen Richter finden -, was wir vielleicht wünschen, was wir vielleicht mit größerer oder geringerer Zuversicht erwarten, weil wir ja auch eine Vergebung der Sünden glauben, weil uns noch dieses oder jenes Wort von der Barmherzigkeit Gottes in der Seele klingt! – Aber, was ändert das alles an jenem Müssen, an dem wir nun einmal nicht vorbeikommen? Das bleibt! – Da mögen wir allenfalls von frommer Resignation, da mögen wir wohl auch von christlicher Ergebung sprechen – und das ist immerhin noch etwas, was sich unter uns Menschen nicht gar zu selten findet; doch das, was in unsern Osterliedern jubelt, das, was den Namen Hoffnung wirklich verdient, ist offenbar ein wesentlich Ande­res: da bricht ja eine Glut hervor, die stärker ist als der kalte Hauch des Todes; da lebt ein Glaube, der mehr ist als alles, was sich Wissen oder Überzeugung nennt! – Das ist kein Fragen und Suchen nach Trost; das ist ein Gefundenhaben und Be­sitzen! – Nein: das ist ein Gefundensein und ein Besessensein! Da ist warmes heißes Leben, das des Todes spottet und ihn in der Tat nur noch als einen schon überwun­denen Feind kennt!

Jene kühle Hoffnung, von der wir hörten, läßt uns in Wahrheit kalt. Da muß jeder sehen, wie er zurechtkommt; das sind Ansichtssachen; und was liegt schon daran, ob der eine so denkt und der andere anders: das Endergebnis ist ja doch für uns alle das gleiche und heißt: Ergebung in das Unabänderliche! – Hier aber taucht eine Frage auf, die eine Entscheidung für uns bedeutet und eine Entscheidung von uns fordert; und diese Frage ist nicht damit beantwortet, daß wir uns zu einer Mei­nung bekennen!

Zunächst mag es wohl so aussehen, als könnte das genügen, als wäre auch der Glaube, den Jesus will, der christliche Glaube, nicht mehr als eine Ansichtssache; und gewiß läßt er sich in die Form einer Lehre bringen, die wir dann als solche annehmen oder ablehnen können! – Jesus stellte ja der Martha eine ganz nüchtern-sachliche Frage: »Glaubst du das?« Ja oder Nein? – Aber, wer dazu Ja sagt, der muß weiter; denn er sagt Ja zu dem, der von sich selber spricht: »Ich bin die Auferstehung und das Leben!« Der sagt Ja zu dem, der für sich selber Glauben fordert: »Wer an mich glaubet, der wird leben; wer an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben!« – Da wird das Ja-sagen im selben Augenblick zum Nein, wo es beim Ja-sagen sein Bewenden hat, wo das Ja nicht zum Hören und Gehorchen, wo das Ja nicht zum Tun und zum Leben wird, wo das Bekenntnis zu dem Auferstandenen und Leben­digen eben nichts weiter ist als eine formale Anerkennung.

Wir können gut und gern über die Ohnmacht und Unzulänglichkeit unseres Christenglaubens klagen; wir können darüber jammern, daß auch das Christentum uns vor den Fragen und Zweifeln des Sterbens im Stich läßt, – wenn, ja: wenn wir meinen, die Frage des Glaubens sei damit gelöst, daß wir uns eine Ansicht gebildet haben.

So geht es nicht! Christus ist die Auferstehung und das Leben; und wenn er Glauben fordert, dann will er als der Herr unseren Dienst und unseren Gehorsam; dann will er selber in unserm Leben stehen als der, der unser Leben regiert, als der, der unser Leben ist! Der christlichen Mitläufer und Parteigänger gibt es viele;und es ist mit ihnen wie mit allen Mitläufern, daß sie sich auf ihre Überzeugung alles Mögliche zugutehalten; aber damit ist es nun einmal nicht getan: wer an Chris­tus glaubt, der muß sich seinem Anspruch beugen und sich für seinen Anspruch offenhalten; der soll leben als einer, der horcht und fragt: »Herr, was willst du, daß ich tun soll?« (Apg 9,6)

Im Grunde gibt es keine Theorie vom christlichen Glauben; es gibt keinen Weg, der uns die Gewißheit verschaffen kann, daß dieser Christus das ist, was er für sich in Anspruch nimmt; daß er uns das hält, was er verspricht; wir müssen es schon wagen: »Wer an mich glaubt, der wird leben; wer an mich glaubt, der wird nimmer­mehr sterben!« – Und zu diesem Wagnis des Glaubens, der ein Gehorchen und Leben ist, der nicht ohne tägliches Hören und Beten sein kann, will uns alles das Mut machen, was uns aus der Botschaft des Neuen Testaments, aus dem Bekenntnis der Kirche, aus den Liedern unserer Väter als wahrhaft lebendige Hoffnung entge­genklingt! – Nur da ist die Herrschaft des Todes wirklich gebrochen – das ist das einhellige Zeugnis, das wir da zu hören bekommen –, wo die Herrschaft des lebendigen Christus aufgerichtet ist. Die Herrschaft des Todes ist nun einmal eine grauenvolle Wirklichkeit: Gedanken und Meinungen und Ansichten helfen dagegen nicht. Dagegen hilft nur das Eine, daß die Herrschaft des Christus als die stärkere Wirklichkeit in unser Leben hineintritt, als die Wirklichkeit des Glaubens, der Ge­horsam ist und Leben! –

»Hilf aus den Gedanken ins Leben hinein, ganz ohne Wanken dein eigen zu sein!« (Martin Kähler)
Amen.

Gehalten am 30. April 1933 in Berlin.

Quelle: Martin Niemöller, Dahlemer Predigten. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Michael Heymel, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2011, S. 120-124.

Hier der Text als pdf.

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