Albrecht Goes, Die Kraft der Ohnmacht. Ein Wort zum Christfest 1961: „Wir haben – fern von dem unscheinbaren Jesus von Nazareth, aber verwirrenderweise auch in einer Art von selbsterdachtem Zusammenhang mit ihm – ein Tanzfest der Würden in Szene gesetzt, auf dem es hoch hergeht. Hinter welchem Pfeiler im Saal hat sich die wirkliche Würde – die Erinnerung an Adams Beseelung, uns zugut geschehen – versteckt, und auf welcher Vorplatztreppe kauert das große Erschrecken: ‚Herr, ich bin nicht würdig, dass Du unter mein Dach gehest?’“

Die Kraft der Ohnmacht. Ein Wort zum Christfest 1961

Von Albrecht Goes

Über die Schwäche der Macht haben wir in Jahr und Tag viel nachzudenken. Nicht gerne. Nicht gerne, weil es uns bedrückt, wahrzunehmen, wie es den Machthabers allen, den Gebietern über Arsenale des Lebens und des Todes, nicht gegeben ist, den Menschen, die ihnen anvertraut sind, drei Lebenswünsche zu erfüllen: den Wunsch, das ja und das Nein einer jeden Sache freimütig denken und bezeugen zu dürfen; den Wunsch, einen Baum pflanzen und in friedlicher Zuversicht dann (wofern nicht der Tod dazwischen spricht) seine Früchte erwarten zu können; den Wunsch, Gemeinschaft zu halten, gehend, kommend, mit Freunden und – wenn es so unserer Vielschichtigkeit gefällt – auch mit Fremden, ja mit Gegnern der eigenen Gedankenwelt.

Und nicht weniger bedrückt denken wir an die Ohnmacht der Ohnmächtigen, an unsere Ohnmacht also. An die geheime Grundangst, die uns in dreißig Jahren doch kaum je einmal einen Tag lang verlassen hat. Siehst du einen Mächtigen von heute – so fragt mich einer –, bei dem du das Vertrauen hast, daß das Deine in guten Händen ist, ich meine: dein Verlangen, Gott zu loben und deine Pläne zu entwickeln, einiges Nützliche zu tun und hoffentlich auch, spielweise, einiges Unnützliche? Und ich, zur Antwort aufgerufen, zögere mit jedem „Sieh hier“, „Sieh da“: Ich weiß nicht, bin ich illusionslos, wenn ich nichts antworten kann, oder bin ich lieb- und glaubenslos?

Ich nehme ja freilich wahr – und da bin ich dann, die erste Frage hinter mir lassend, mitten in der Geschichte von der Ohnmacht der Ohnmächtigen, daß es uns allen fast nie möglich ist, mehr als einem Teilbezirk des Lebens gerecht zu werden. Hat man ein Auge für eine Not – für die Juden im Güterwagen, 1943, für die Trecks aus Ostpreußen, zwei Jahre danach, für die Schrecken in Algier, für die einzelnen Lebensschicksale im zertrennten Vaterland, so hat man – das ist meine Erfahrung und nicht meine Erfahrung allein – fast nie auch zugleich einen unbefangenen Sinn für die andere Hälfte der Wirklichkeit.

Schlägt einem das Herz für die Verfolgten, so kann es wohl – Grenze unserer Kraft! – nicht zugleich für die Verfolger da sein… Aber wer sagt uns denn, ob nun nicht gerade sie dessen bedürfen, daß man sich alle Mühe gibt, die Dinge von ihrer Seite her zu sehen, ruhig und leidenschaftslos – oder leidenschaftlich auf die Gerechtigkeit bedacht? Wer viel zwischen Menschen steht und für viele ein Ohr haben muß, der lernt erkennen: daß es keine Mauer gibt, zwischen den einzelnen und zwischen den Völkern, zu der nicht beide Seiten in Übermut und Trotz den Mörtel geliefert haben.

So schlägt es sich vor uns auf, ein Kapitel aus dem Buch „Macht und Ohnmacht 1961“. Aber wenn wir nun die Jahreszahl schreiben und nach der Weise alter Kalender oder Tor-Inschrif­ten hinzufügen „Anno Domini“, so setzen wir mit der Zeitbestimmung zugleich das Datum der Weihnacht, das Datum eines Ereignisses, das auf deutliche und genau zu beschreibende Weise mit „Macht und Ohnmacht heute“ zu tun hat.

Es ist niemandem verwehrt, das Ereignis der Weihnacht zuerst wahrzunehmen im Zeichen jener großen Schönheit, in der es zu jedem Christfest unseres Lebens von neuem gehört: im Text von Lukas zwei, in Rembrandts Weihnachtsbild aus der Eremitage, im „Incarnatus“ aus Mozarts c-Moll-Messe. Aber freilich: um Kinderträume und Fluchtwege des Gefühls geht es hier nicht. „Et incarnatus est“: die Botschaft ist verbindlich und genau, sie spricht von diesem einen Zuwachs an Wirklichkeit durch den Eintritt Jesu Christi in die Welt, von dem großen „Gott-für-uns“, von dem Interesse der Ewigen Liebe an dieser Welt, vor dem keine andere Antwort gelten mag als die aus einem alten Lied: „Des sich wundert alle Welt“.

Sich wundert – worüber? Darüber, daß dieses Ereignis mit allen Zeichen der Verhüllung in die Welt getreten ist, und diese Zeichen der Verhüllung, das Signum der Ohnmacht, bis auf diesen Tag nicht abgelegt hat. Und darüber: daß diese Ohnmacht, allem Augenschein entgegen, sich als Kraft erweist, mächtig vor den Mächtigen und den Ohnmächtigen dieser und jeder Zeit.

Das Signum der Ohnmacht: kein Zahlenglanz.Da er kam, hießen ihn die paar Leute, die auf den Bildern von der Heiligen Nacht zu sehen sind, willkommen. Da er ging, waren zwei oder drei oder fünf oder elf Menschen Zeugen seines Abschieds; dazwischen werden ein paar andere Zahlen genannt, zwölf und siebzig und einmal fünftausend: alles keine Zahlen, die unseren Reportern imponieren könnten. Später, in der Geschichte der Nachfolge dann, gab es die Faszination der Statistik, die Millionenzahlen aus fünf Erdteilen.

Aber die Männer und Frauen, die jetzt eben in Neu-Delhi auf der Weltkirchenkonferenz beisammen waren, die haben – in ihren besten Augenblicken, so denk’ ich – nicht mehr mit Prozenten gerechnet; und wenn der alte, weise Mann in Rom sein Vatikanisches Konzil eröffnet, dann wird auch ihn der farbige Glanz schwerlich blenden: Anders als Gregor VII. oder Bonifatius VIII. wird Papst Johannes XXIII. nicht auf Zahlen bauen, und wird gerade damit dann nicht nur der Wirklichkeit, sondern der Wahrheit Christi näher sein als seine Vorgänger. Denn es ist das Geheimnis jener Kraft der Ohnmacht, daß sie sich mit zwei Zahlen im Bündnis weiß: mit der Zahl 1 und mit der Zahl X.

Die Zahl 1 ist die Zahl der Verantwortung; sie meint das Ich, das Du, den einen, der angeredet wird und der dann begreift: ich bin gerufen. Die Zahl 1, die unansehnliche Zahl, steht in einem Weihnachtswort des Angelus Silesius, in den nicht die ganze Wahrheit, aber ein Stück doch von ihr ausgesprochen ist: „Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geborn / Und nicht in dir: du bleibst noch ewiglich verlorn.“

Die Zahl X aber, die Unbekannte: das ist die Zahl der Zuversicht, die Zahl der wunderbaren Möglichkeit. Um der Zahl X willen geht ein Mensch aus der Enttäuschung seines Heute in die Überraschung seines Morgen, getrost dessen gewiß, daß es die Herausgerufenen gibt in Hamburg, Leipzig und wo immer, und über ihnen ein erstes „Fürchtet euch nicht!“ und ein letztes „Ich weiß“.

Das zweite Signum der Ohnmacht heißt: kein Triumph der Gewalt. Da Christus durch Galiläa und Judäa zog, war dies sogleich gegenwärtig: die Vollmacht einer Stimme, in der ein unmittelbares Hier und Heute gegen alle Erstarrung des Gestern stritt, eine Leidenschaft, die zornig werden konnte für das Haus des Vaters und sein lebenschaffendes Wort, der heilige Mut in der Begegnung mit den Mächten der Tiefe und mit den Mächtigen des Tages. Aber vor dem Bündnis der Finsternisse verstummte diese Stimme, und die Hoheit der Liebe, die „bis ans Ende liebte“, gab sich geschlagen in der Stunde, da „die Sonne ihren Schein verlor“.

Später dann stellte er sich ein, der Triumph der Gewalt, und berief sich, Mißverständnis über Mißverständnis, auf eben diesen Herrn: Kreuzzüge gab es, peinliche Befragung, Vertreibung, geistlichungeistliche Tyrannei. Aber zwischen allem verstörenden Geröll der Welt- und Kirchengeschichte blieb das Element selbst rein. Unverdunkelt blieb, daß in Kraft der heiligen Ohnmacht eines gemeint war: „Dieser nimmt die Sünder an und isset mit ihnen.“ Das umfassende, unbefangene Ja der Zuflucht für Gefährdete, Gestrauchelte, Geringe, für Schutz- und Wehrlose. Und so ist von denen, die diese Stimme hören, nicht ein großes Allerlei, sondern – in Ja und Nein – eines gefordert: das Wagnis einer Liebe, die sich nicht erbittern läßt, der allem Fanatismus abgekehrte Blick der Geduld, der Läßlichkeit; die redliche Aufmerksamkeit auf das Fremde und den Fremden; die Entschlossenheit, mit dem Stückwerk, im Kompromiß zu leben; das Lächeln der Versöhnlichkeit, ein Stück Weltfreundschaft, ein Stück Humor.

Und das dritte Signum der Ohnmacht: keine Würdenschau. „Rabbi, wo bist du zur Herberge“ konnten sie ihn fragen, irgendwo unterwegs. Hatte er dann ein Dach für die Nacht und den Tag: „Kommt und sehet!“ oder hatte er „nicht, da er sein Haupt hinlege“ – gleichviel, das Lied aus der Weihnacht bedenkt und deutet es wohl: „Gott hat den Himmelsthron verlassen / Und muß reisen auf der Straßen. / Groß, groß, groß / Die Lieb’ ist übergroß.

Wir haben – fern von dem unscheinbaren Jesus von Nazareth, aber verwirrenderweise auch in einer Art von selbsterdachtem Zusammenhang mit ihm – ein Tanzfest der Würden in Szene gesetzt, auf dem es hoch hergeht. Hinter welchem Pfeiler im Saal hat sich die wirkliche Würde – die Erinnerung an Adams Beseelung, uns zugut geschehen – versteckt, und auf welcher Vorplatztreppe kauert das große Erschrecken: „Herr, ich bin nicht würdig, daß Du unter mein Dach gehest?“

Der Herr der Weihnacht ist nicht auf diesem Fest. Er, „nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene“ hat die, die seinem Ruf vertrauen, nicht da- und dorthin, sondern einfältig in den Dienst gerufen. Aber die Geschenke, die zum Geheimnis seines eigenen Dienstes gehört haben, gehören den Dienstleuten mit. Das Geschenk jener Unabhängigkeit, die, den nichtigen Wichtigkeiten entnommen, einer, der höchsten Instanz allein, sich verpflichtet weiß, da es für alle Bereiche gilt: ich bin im Dienst, ein namenloser Streiter wider den Schlaf der Welt.

Zuletzt, zuerst: das Geschenk der Freude. Es ist ein Weg der Strenge und der Klarheit, den einer vor sich sieht, der unterwegs sein möchte von der Weihnacht des Gemüts zum Christtag des Gewissens. Aber dem Aufbruch der Boten zuvorkommen mußte die Botschaft selbst, großes Licht und große Freude: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Und wohin nun auch Mühe und Sorge die Boten begleiten, in welche Schluchten wohl, Wüsten und Weltgetümmel – sie, die Boten selbst, können nicht vergessen, daß, wie bei Matthäus im Fünfundzwanzigsten zu lesen steht, verheißen ist die Stunde einer letzten Erhellung, in welcher der größte Bruder mit dem geringsten das Antlitz tauscht.

DIE ZEIT Nr. 52/1961, 22. Dezember 1961.

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