Über das verfehlte Reden von Opfern
Wenn gegenwärtig in unserer Gesellschaft von Opfern die Rede ist, wird in aller Regel nicht auf religiöse Opferhandlungen Bezug genommen, sondern auf verunfallte bzw. getötete Personen sowie auf auferlegte bzw. selbstgewählte Verzichtleistungen. Etymologisch betrachtet verweist das deutsche Wort „Opfer“ entweder auf das lateinische Verb operari (Infinitiv Präsens Passiv) in der Bedeutung „betrieben werden“ oder auf das Verb offere (Infinitiv Präsens Aktiv) in der Bedeutung „anbieten“ bzw. „darbringen“.
Aufschlussreich ist, wie sich in der Neuzeit eine Bedeutungsverschiebung hin zu einem geschichtlichen bzw. ethischen Kontext ergeben hat. Ausgangspunkt hierfür ist die christliche Rede vom sühnenden bzw. verdienstlichen (Selbst-)Opfer Jesu Christi am Kreuz. Der Sohn Gottes hat sich selbst für die Sünden hingegeben. Sein Todesopfer wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts auf andere Todeswiderfahrnisse hin säkularisiert, so beispielsweise in August von Kotzebues Schauspiel Der Opfer-Tod von 1796.
Schon vor den napoleonischen Befreiungskriegen spricht Thomas Abbt 1761 während des Siebenjährigen Kriegs in seinem Traktat Vom Tode für das Vaterlande von Opfern, die man dem Vaterland darzubringen habe[1]. Beginnend mit den Befreiungskriegen wird im 19. Jahrhundert unter nationalistischen Vorzeichen das soldatische Selbstopfer („Aufopferung“) beschworen. Es entwickelt sich eine eigene heroische Opferethik mit einem entsprechenden kultischen Gefallenengedenken.
So verkündet Eduard Spranger zur Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin am 18. Januar 1930 in seine Festrede Wohlfahrtsethik und Opferethik in den Weltentscheidungen der Gegenwart das säkularisierte „Opferevangelium“: „Wir huldigen dem Andenken derer, die im großen Kriege ihr Sein für uns hingegeben haben, Arbeiter und Akademiker vereint in derselben schlichten Größe. Ihre Opfer waren nicht vergebens. Weil sie zu sterben wussten, deshalb dürfen wir leben.“[2]. Das Heilsgut, das es durch das soldatische Selbstopfer im Krieg zu bewahren gilt, ist die eigene Nation: „Der Krieger, der das Dasein opfert, tut es nicht um des Krieges und des bloßen Opfers willen; sondern: ‚Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen‘ [Heinrich Lersch, „Soldatenabschied“ (1914)].“[3]
Nicht nur im Ersten, sondern auch im Zweiten Weltkrieg waren katholische wie auch evangelische Militärpfarrer nicht davor gefeit, ein völkisches Opferevangelium zu verkünden, so beispielsweise der katholische, badische Divisionspfarrer Johann Georg Schmutz (1908-2002) 1942/43:
„Und ihr ward getragen von den Lebenswerten Kraft, unbedingter Pflichterfüllung u. Gehorsam. Darum seid ihr alle nicht gleich verschossene Patronenhülsen, die am Wege der Kämpfe liegen bleiben. Ihr seid als Gewinn eingetragen in das Grundbuch des geistigen Volksvermögens. Ihr seid nicht tot, Euer Blut fließt gleichsam zurück zum Herzen des Volkes, läßt die Jugend froh u. tapfer werden, mahnt dann alle zur Treue u. Pflichterfüllung. Ja ihr sprecht ein gewichtiges Wort mit in der Weiterentwicklung unseres Volkes. Und ihr seid nicht tot, denn Leben kann nur verwandelt, nicht vernichtet werden. Ihr tragt Gottes Odem in eurer Brust. Er, der Euch schuf u. rief, wird Euch aufwecken in sein Reich. So wollen wir von Euch gehen, beherzigt u. mutig in ernster Pflichterfüllung. Eure Leiber ruhen hier, eure Leben sind vor Gott, euer Herz soll in uns allen mutig weiterschlagen. Wer so für Gott u. Vaterland gefallen, der lebt im Herzen seines Volkes fort. Der ringt sich aber in das ewige Leben u. geht ein in Gottes Herrlichkeit.“[4]
Die Rede von nichtkriegerischen Todesopfern findet sich bereits in Texten aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, beispielsweise in Christian Friedrich Henricis Picanders bis anhero herausgegebene Ernst-Scherzhafte und Satyrische Gedichte: auf das neue übersehen, und in einer bessern Wahl und Ordnung an das Licht gestellet[5] sowie in Ludwig Friedrich Hudemanns, Der Grossmüthige Friederich der dritte, König zu Dännemark, etc. in einem Heldengedichte entworfen.[6] 1814 schreibt Georg Heinrich Keyser im Handbuch der Statistik des Königreichs Baiern über tödliche Unfälle im Tauerngebirge:
„Die meisten Todesopfer bringt hier der Winter. Oft lockt der reinste Wintermorgen den Wanderer zur Reise über den Tauern: aber noch hat er nicht das Thörl erreicht, so trübt sich die Luft, in schweren Flocken fallen die Wolken herab, er sieht nicht einen Schritt mehr vorwärts noch zurück, die Winde wehen den neu gefallenen Schnee zu Bergen um ihn, und rollt er nicht mit dem unter ihm einstürzenden Berge von Schnee hinab in den Abgrund, reißt ihn nicht eine Lauwine, die von den nahen Wänden herabbricht, fort mit sich und zerschmettert ihn an Felsen, oder begräbt ihn in ihrem kalten Grabe; so hat er doch die Bahn verloren, die die verschneiten Stangen ihm zeigten, und er erstarrt ermattet und kraftlos vom Steigen und Waden auf dem verlornen Pfade. — Kein Jahr, kein Winter ist hier ohne Todesopfer! Und doch wagt der Mensch so gern sein Leben, um sich die Mühseligkeiten einiger Tagreisen auf sicherem Pfade zu ersparen!“[7]
Die Rede von verunfallten Todesopfern außerhalb von Kriegshandlungen stellt in aller Regel keinen Zweck einer Hingabe heraus und zeigt sich als problematischer Euphemismus. Ist gar von „Verkehrsopfern“ die Rede, klingt dies danach, als würde der Verkehr als „Moloch“ eigene Menschenopfer erfordern . Bei soldatischen „Opfern“ wird hingegen ein säkularisiertes „Opferevangelium“ versucht. So wird der Spruch Jesu „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ (Johannes 15,13) auf den soldatischen Tod bezogen. Der in einer Gefechtshandlung Verstorbene habe sein Leben für sein Volk bzw. für sein Vaterland selbst hingegeben, ohne dass sich dabei ein konkreter, willentlicher Opfergang ausmachen lässt. Damit soll dem Lebensverlust eines Menschen einen höheren Sinn gegeben werden.
[1] Berlin: Friedrich Nicolai, S. 15.
[2] Volk, Staat, Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig: Quelle & Meyer, 1932 1932, S. 107–134, hier S. 133.
[3] A.a.O., S. 112.
[4] Zitiert nach Dagmar Pöpping, Passion und Vernichtung. Kriegspfarrer an der Ostfront 1941–1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, S. 113. Vgl. Heinrich Missalla, Die Kirchliche Kriegshilfe im Zweiten Weltkrieg. Eine Organisation des Deutschen Caritasverbandes. Neuedition des Buches „Für Volk und Vaterland“ (1978) im Auftrag der katholischen Friedensbewegung pax christi, digitalbibliothek kirche & Weltkrieg Nr. 8 (2021).
[5] Band 2, Leipzig: Dyck, 41748, S. 1240.
[6] Altona-Flensburg: Korte, 1750, S. 99. Siehe außerdem Michael Krammers Sammlung Heiliger Reden über wichtige Wahrheiten der sonntäglichen Evangelien auf das ganze Jahr, (Band 1, Ausgabe 1, Prag: Mangoldt, 1774, S. 471); sowie Friedrich Schiller in dessen Ballade Der Gang nach dem Eisenhammer von 1797.
[7] Band 1: Erlangen: Palm, 1814, S. 100.