Gegenwart und Ewigkeit. Die Zeit im Buch Kohelet
Von Norbert Lohfink, Frankfurt
Man trifft wohl nur selten Menschen, die schon Jahre vor ihrem Tod über den eigenen Tod nachdenken und auch wie selbstverständlich mit anderen darüber sprechen. Ich habe einen solchen Menschen gekannt. Es war Karl Rahner, den im Jahr 1984 sein vielbedachter Tod erreicht hat.
Unser Sprechen über den Tod nahm zwischen ihm und mir vor einigen Jahren eine besondere Gestalt an. Ich hatte einen Kommentar zum Buch Kohelet geschrieben (Würzburg 1980). Weil ich wußte, daß Karl Rahner Kohelet liebte, hatte ich ihm ein Exemplar geschickt. Seitdem sind wir uns nie mehr begegnet, ohne daß er fast sofort und ohne Einleitung angefangen hätte, von Kohelet zu sprechen. Sein eigenes Nachdenken über die Zeit, den Tod und die Ewigkeit, ja das, was man seine mystische Erfahrung und Voraus-Erfahrung dieser Dinge nennen könnte, scheint in der seltsam zwischen Philosophie und Dichtung schwebenden Sprache Kohelets ein Medium gefunden zu haben, das sie bestätigte und mit Farben versah. Vielleicht waren ihm andere Teile der Bibel fast zu groß geworden in ihrer Welt- und Geschichtsfülle, im Übermaß ihrer sogar schon irdischen Verheißung der Gottesherrschaft, und Kohelet war für ihn dann in der Bibel etwas wie ein Trost für die dem Großen nicht mehr voll Gewachsenen, zu denen er sich in seiner Bescheidenheit zählte. Denn Kohelet war skeptisch allem Geschichtstriumphalismus gegenüber, so wie er selbst, und doch zugleich so sicher in der „Gottesfurcht“, wie er selbst es auch wieder war.
Ich kann Karl Rahner nicht aus dem Sinn verlieren, während ich diese Seiten über die „Zeit“ bei Kohelet niederschreibe. Karl Rahner wußte zutiefst, daß mit dem Tod die Zeit nicht weiterläuft. Genau hier verstand er Kohelet, gegen alle übliche christliche Jenseitsharmlosigkeit. Der Tod war für ihn das Ende. Und doch war er, wieder wie Kohelet, voll des Hungers nach Ewigkeit. Er besaß ein Gefühl, daß seine eigene Lebenszeit vertan war. Er hatte durchaus das Bewußtsein, der wohl größte Theologe seiner Generation zu sein. Trotzdem war er nie davon zu überzeugen, daß er ein „Werk“ geschaffen habe. Was er produziert hatte (es war unglaublich viel und füllte eine ganze Wand in seinem Arbeitszimmer), betrachtete er nur als lauter kleines Stückwerk, immer neu unter dem Druck des Augenblicks hervorgestoßene Einzelgedanken, eher pastoral als wissenschaftlich, die „Pflicht“ des jeweiligen und täglichen „Heute“. Und doch glaubte er, daß durch das Geheimnis Gottes gerade in diesen tausend kleinen Fragmenten seine persönliche Ewigkeit angelegt sei, und nicht etwa in einer Tat, die er erst noch in seiner Zukunft vollbringen müßte – obwohl er dann auch wieder davon sprechen konnte, daß der Tod auf seiner anderen, uns nicht zugänglichen Seite die letzte, eine und grundsätzliche Entscheidung des Menschen zu sich selbst und zu seinem Gott sei, in der ihm die Ewigkeit zuteil würde.
Vielleicht ist das Sprachspiel Kohelets noch radikaler. Er leugnet jede Möglichkeit, vom Tod aus noch geradlinig weiterzudenken. Er bindet alles, was er über die Ewigkeit zu sagen hat, an Gottes Gegenwart im jeweiligen und stets schon wieder entschwindenden Augenblick. Rahner war in seinem Denken versöhnlich. Er wollte auch die üblichen christlichen Sprachspiele, welche die Ewigkeit als das beschreiben, was nach dem Tode weiterläuft, umformend bewahren. Aber irgendwo bewunderte er diesen Kohelet, der solche Zugeständnisse offenbar nicht nötig hatte und dennoch in den Kanon der heiligen Schriften geraten war. So mag, was ihn an Kohelet faszinierte, doch wohl vor allem gewesen sein, daß dort auf radikalste Weise der vergängliche und uns immer schon wieder entgleitende Augenblick der einzige Ort ist, an dem wir Gott und die Ewigkeit berühren. Nur durch das jeweilige Jetzt wird uns daran Anteil geschenkt. Hier aber wird er uns geschenkt.
Alles hat seine Stunde
Wie überschwenglich kann Kohelet diesen dem Menschen immer wieder von neuem gegebenen und immer wieder von neuem entsinkenden Augenblick beschreiben! Es ist ja kein leerer Augenblick: Jeder Augenblick hat einen Inhalt, sei er gut oder böse. So können gerade die Oppositionen extremer Inhaltsmöglichkeiten die Fülle der dem Menschen geschenkten Zeit beschreiben. Und damit deutlich wird, daß die unendliche Vielfalt möglicher menschlicher Augenblicke zugleich einen geordneten „Kosmos“ darstellt, bringt Kohelet sie in seinem berühmten Gedicht „über die Zeit“ (3,2-8) auf eine Zahl von 28 (= 4 mal 7): sieben, die Zahl der Vollkommenheit, in die Zahl der vier Himmelsrichtungen hinein entfaltet…
Außerdem verschränkt er in den zwei ungleich langen Strophen (die erste hat sechs, die zweite acht Gegensatzpaare), wenn man so will, die gesellschaftlichen und die eher familiären und persönlichen Möglichkeiten der Zeit. Er beginnt mit dem Allerpersönlichsten:
Eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben. (3,2)
Der Augenblick also, in dem das In-der-Zeit-Sein anhebt, und der Augenblick, in dem es sein Ende erreicht. Das ist das Allerpersönlichste des einzelnen – doch von ihm aus springt das Gedicht nun in die Fülle der Möglichkeiten, die im Dorf, in der Stadt, in ganz Israel, also im Raum der „Gesellschaft“ ihre Füllung erhalten (oder zumindest: damals erhielten):
Eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen.
Eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen.
Eine Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen.
Eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen.
Eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz. (3,2-4)
Die zweite, längere Strophe geht eher auf die privat-persönlichen Möglichkeiten. Hier verstehen wir nicht mehr alles genau, was genannt wird. Es bleibt wohl zum Teil im Bild. Es ist möglich, daß viel mehr Gegensatzpaare von dem sprechen, was zwischen Mann und Frau vor sich geht, als uns auf den ersten Blick scheint. Ganz am Schluß wird die persönliche Zeit dann allerdings wieder in die sozial bestimmte Zeit hineinverschränkt. Geburt und Tod des Anfangs spiegeln sich in Krieg und Frieden am Ende.
Eine Zeit zum Steinewerfen / und eine Zeit zum Steinesammeln.
Eine Zeit zum Umarmen / und eine Zeit, die Umarmung zu lösen.
Eine Zeit zum Suchen / und eine Zeit, etwas verloren zu geben.
Eine Zeit zum Behalten / und eine Zeit zum Wegwerfen.
Eine Zeit zum Zerreißen / und eine Zeit zum Zusammennähen.
Eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum Reden.
Eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen.
Eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden. (3,5-8)
Eine Fülle von Möglichkeiten an Zeit. Eine Welt von Zeit. Wie anders also als bei uns, die wir uns über den Mangel an Zeit beklagen. Wir hätten diese Fülle so gerne – doch es ist immer so, als entzöge sie sich uns.
Auch Kohelet allerdings, sosehr das Gedicht die Fülle möglicher Zeit zur Sprache bringt, will letztlich auf anderes hinaus. Nicht, daß es dies alles nicht gäbe. Wohl aber: es gibt diese oder jene „Zeit“ nicht aufgrund unseres eigenen Tuns. Wir können die Inhalte der Zeit nicht selbst bestimmen. Die Inhalte kommen je zu der ihnen eigenen Zeit, über die wir Menschen nicht verfügen. Das meint der Einleitungssatz, der in das Gedicht hineinführt:
Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. (3,1)
Und das meint wieder die rhetorische Frage, die sich an das Gedicht anschließt:
Wenn jemand etwas tut – welchen Vorteil hat er davon, daß er sich anstrengt? (3,9)
Hier wird eine Summe gezogen aus langen Reflexionen, die diesem Gedicht, das ja erst im 3. Kapitel des Buches steht, vorangingen und die der Leser im einzelnen nachzulesen gebeten ist. Kohelet entwirft da den besten denkbaren Fall: Er schlüpft in das Gewand eines Herrschers, dem weder Glück noch Intelligenz noch Tatkraft fehlen. Als solchem gelingt ihm ein Werk. Er gestaltet Welt. Er gewinnt für sein Leben das, was alle Menschen suchen: Glück (vgl. 2,1-10). Doch dann analysiert er diesen besten aller möglichen menschlichen Fälle. Auch ein solches voll gelingendes Leben entgeht am Ende nicht dem Tod (vgl. 2,13-17). Das Werk dieses Menschen gerät nach seinem Tod in die Hände anderer, und vielleicht sind das Toren (vgl. 2,18-20). Vielleicht gerät es sogar schon zu seinen Lebzeiten in andere Hände, und ihm selbst bleibt nur Dunkel und Unglück (vgl. 2,21-23). Und schließlich muß er sich noch sagen, daß selbst das Gelingen von Weltgestaltung in dem von ihm angenommenen idealen Fall nicht wirklich in der Hand dieses glücklichen Menschen gewesen war:
Nicht im Menschen selbst gründet das Glück, daß er essen und trinken und persönlich durch seinen Besitz das Glück kennenlernen kann. Ich habe vielmehr eingesehen, daß auch dies Gottes Gabe ist. Denn wer hat zu essen, wer weiß zu genießen, wenn nicht ich? Aber es gibt Menschen, denen Gott wohl will; das sind die, denen er Wissen, Können und Freude geschenkt hat. Und genauso gibt es Menschen, deren Leben verfehlt ist; es sind diejenigen, die er mit dem Geschäft beauftragt hat, zu sammeln und zu horten und dann alles denen zu geben, denen er wohl will. (2,24-26)
Nichts darf also geleugnet werden von des Menschen Möglichkeit, Welt zu gestalten, Werke zu schaffen, Glück zu produzieren. Und trotzdem zeigt das Denken, daß dies nur der Vordergrund ist. Im Hintergrund der Wirklichkeit hat ein anderer die Zeit in der Hand. Er allein schenkt jeden neuen Augenblick, und wenn er ihn schenkt, gibt er ihm einen Inhalt, den er allein bestimmt.
Genau an dieser Stelle setzt Kohelet das Gedicht über die Zeit ein, bei dem wir begonnen hatten. Es gibt für alles, was unter dem Himmel vor sich geht, eine Stunde, und diese ist nicht in des Menschen Hand. Der Mensch mag tätig werden, er muß es sogar. Aber welchen Vorteil hat er davon, daß er sich anstrengt? Vielleicht hat er einen Vorteil, vielleicht nicht. Und nicht er legt das fest, es ist Gottes Setzung.
Es gibt nichts Neues unter der Sonne
Wenn wir uns gehetzt fühlen und keine Zeit zu haben scheinen, dann sind wir meistens in Werk und Leistung verwickelt. Wir haben dann die Gegenwart vor einer angezielten Zukunft aus dem Blick verloren. Und wir ahnen darüber hinaus zugleich, daß wir der Zukunft gar nicht sicher sind – weil am Ende ein anderer darüber verfügt. So mag uns die Verzweiflung packen, von der auch Kohelet mitten in seiner Analyse spricht (vgl. 2,20).
Doch sagt er das unterwegs, und es ist nur im Durchgang des Denkens. Da, wo er das Gedicht über die Zeit einsetzt, ist schon das Wort „Gott“ gefallen, und die Füllung jedes Augenblicks ist als „Geschenk Gottes“ erkannt worden.
Um deutlicher zu sehen, was das impliziert, müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß Kohelet noch einen ganz anderen Zeitbegriff entwickelt als den des „Augenblicks“. Es ist der Begriff der „Ewigkeit“. Ihn präsentiert uns Kohelet in seinem Buch noch vor all den Überlegungen, denen wir bisher nachgegangen sind. Er stellt ihn in einem anderen Gedicht an den Anfang des Buches. Man könnte es das „Gedicht vom großen Kreislauf der Welt“ nennen: 1,4-11.
Dieses Gedicht mißverstehen wir neuzeitlichen, ganz vom Gedanken des Fortschritts und der Evolution geprägten Menschen fast notwendigerweise. Einmal, weil der Gedanke des kosmischen Kreislaufs und der Wiederkehr des immer Gleichen (trotz Friedrich Nietzsche) so fremd geworden ist. Zum anderen, weil ein zentraler Satz des Gedichtes bei uns ganz falsche Konnotationen erzeugt.
Der Satz, um den es geht, ist bei uns sprichwörtlich geworden. Er lautet: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ „Leider, leider“ – so kommentieren wir ihn. Und wir zitieren ihn, wenn uns wieder einmal etwas als neu oder als Fortschritt präsentiert worden war und wir dann – leider – feststellen mußten, daß es gar nicht neu ist, sondern längst schon einmal da war. Wie schön wäre es gewesen, wenn das Versprechen der Neuheit sich erfüllt hätte. Denn etwas Neues, das hätten wir gewünscht… So setzt unser Gebrauch des Zitats das Bild einer evolutiven Welt voraus, in der die Zukunft die Vergangenheit übersteigen soll. „Neu“ ist ein positiver Wertbegriff, und was für einer! Doch das ist bei Kohelet anders. Etwas „Neues“ und damit „anderes“ könnte für ihn nur Verfall sein. Wertvoll ist, was den Glanz des Alten und des Anfangs an sich trägt. Die bange Frage der Menschen ist, ob das Anfängliche seinen Glanz behalten und Dauer gewinnen kann. Eine ökologisch denkende jüngere Generation mag vielleicht wieder einen Sinn für eine solche Sicht entwickeln: Wie gern würde sie auf immer neue Plastikprodukte verzichten, wenn man ihr nur versichern könnte, daß die großen alten Wälder nicht am sauren Regen zugrunde gehen. Wenn im antiken Kontext der Satz erklingt: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne!“, dann ist das eine philosophische Siegesfanfare. Dieser Satz erklärt zum Beispiel die Lehre von den vier Weltzeitaltern (unter denen ja nur das erste ein goldenes gewesen sein soll) als irrig. Er ist die jubelnde Feststellung, daß in der Schöpfung Gottes – gegen mancherlei Anschein – die Qualität des Anfangs sich durchhält und daß die ständig nagende Zeit die Kraft der Seienden weder abnutzt noch aufbraucht. So haftet diesem Satz nichts Melancholisches an. Es ist ein Freudenschrei: weil hinter dem versinkenden Augenblick ewige Dauer aufleuchtet.
Dafür plädiert das ganze Gedicht von Koh 1,4-11. Es beginnt mit einem Bild fehlender Dauer: den einander ablösenden menschlichen Generationen. Doch wir können diese Urerfahrung menschlicher Vergänglichkeit ja nur machen, weil es eine bleibende Bühne des Wechselspiels gibt: unsere Erde. Sie hat Dauer:
Eine Generation geht, eine andere kommt.
Die Erde steht in Ewigkeit. (1,4)
Aber bestimmen nicht trotz der festgegründeten Erde wenigstens im Kosmos Werden und Vergehen das Bild? Die anderen Urelemente – neben der Erde das Feuer, die Luft und das Wasser – scheinen nicht an der Dauer der Erde zu partizipieren. Auch sie unterliegen der Zeit. Doch der Schein trügt. Jede Bewegung, die Anfang und Ende zu haben scheint, erweist sich bei näherem Zusehen als Kreislauf, also als Wiederkehr des immer Gleichen:
Die Sonne, die aufging und wieder unterging,
atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht.
Er weht nach Süden, dreht nach Norden,
dreht, dreht, weht, der Wind.
Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind.
Alle Flüsse fließen ins Meer,
das Meer wird nicht voll.
Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen,
kehren sie zurück, um wieder zu entspringen. (1,5-7)
Der Kosmos ist also, obwohl er voll von Werden und Vergehen zu sein scheint, in einem Kreislauf begriffen, durch den er an der Ewigkeit teilhat. Dieses Geschehen ist so übermächtig, daß die Sprache und die Sinne des Menschen seiner Fülle überhaupt nicht gewachsen sind. Sie kommen damit nie an ein Ende (vgl. 18). Und trotzdem gilt:
Was geschehen ist, wird wieder geschehen. (1,9)
Wenn das aber wahr ist, dann ist der Schluß „a maiore ad minus.” er¬laubt: vom ganzen Kosmos auf seinen kleinen Bewohner, den Menschen. Von ihm gilt daher der sprachlich genau entsprechende Satz:
Was man getan hat, wird man wieder tun. (1,9)
Daher kann zusammengefaßt werden:
Es gibt nichts Neues unter der Sonne. (1,9)
Wenn die menschliche Erfahrung das nicht zu bestätigen scheint, ist das ein Irrtum, der sich erklären läßt. Dadurch, daß immer neue Generationen einander ablösen, gibt es kein sich durchhaltendes menschliches Gedächtnis. Niemand übersieht das Ganze. Wirklicher Einblick in die umspannende Schönheit ist wegen des ständigen Zerfalls unseres Erinnerungsvermögens keinem Sterblichen gewährt. Mit diesen Betrachtungen schließt das Gedicht ab (vgl. 1,10f).
Jedes Geschehen hat in sich Ewigkeit
Kehren wir zurück zum 3. Kapitel, das mit dem Gedicht über die „bestimmte Zeit für alle Dinge unter dem Himmel“ begann. Da stand am Ende die Frage: „Wenn jemand etwas tut – welchen Vorteil hat er davon, daß er sich anstrengt?“ (3,9) Letztlich ist es allein Gottes Setzung, daß jetzt dieses und nicht jenes geschieht. Konfrontiert mit der anderen Tatsache, daß alles menschliche Handeln zugleich an der ewigen Wiederkehr und damit an der Ewigkeit teilhat, sieht das „mühsame Geschäft, für das jeder Mensch durch Gottes Auftrag sich abmüht“ (3,10), nun allerdings anders aus. Im Sinne Kohelets können wir formulieren:
Gott tut das alles. Er tut es vollkommen. Er tut es jeweils in seinem Augenblick. Doch über den Augenblick hinaus gibt er allem Geschehen einen Ewigkeitsbezug ins Herz – wenn der Mensch auch das Geschehen, insofern es Tun Gottes ist, nicht in seiner ganzen Erstreckung von Anfang bis Ende erkennen kann. (vgl 3,11)
Man sieht an diesen nicht leicht zu übersetzenden Aussagen, wie Kohelet jeden menschlichen Augenblick auf jenes Geheimnis hin zu öffnen versucht, das die mittelalterliche Theologie später als den „concursus divinus“ bezeichnen wird. Ein und dasselbe Geschehen hat seine eine, nur als fragmentarisch und fremdbestimmt erfahrbare menschliche und zugleich seine andere, in Gottes Ewigkeit und Schönheit hineinreichende Dimension. Da alles menschliche Tun zugleich göttliches Tun ist, gilt von ihm der Satz:
Alles, was Gott tut, hat ewige Dauer. (3,14)
Und Kohelet verdeutlicht es am Ende des ganzen Abschnitts nochmals mit dem Kreislauf alles kosmischen Geschehens:
Was auch immer geschehen ist, es war schon vorher da.
Was auch immer geschehen ist, auch das hat es schon gegeben.
Gott ist immer dabei, das Verjagte zu suchen. (3,15)
Natürlich wird hier die Lehre von der Ewigkeit hinter unserer zerfallenen Zeit eng mit einer bestimmten antiken Kosmologie verbunden, die wir nicht mehr ohne weiteres nachvollziehen können. Der Kosmos ist hier dem Göttlichen verwandter, als die Naturwissenschaften es zu sagen erlauben. Aber es kommt ja auf das an, was Kohelet eigentlich meint: den Ewigkeitsbezug in jedem unserer anscheinend so unwiderruflich versunkenen Augenblicke. Auch ohne die Kreislaufkosmologie gilt: Das Fragmentarische, das wir in Händen halten und das uns überdies noch ständig entgleitet, ist nur die eine Seite. Die andere, die unserer Erfahrung entzogen ist, heißt Anteil an Dauer und Vollkommenheit.
Ja, das Entscheidende ist noch hinzuzufügen: Genau in diesem Zusammenhang erreicht uns die personale Zuwendung Gottes. Mitten zwischen den zitierten Sätzen lesen wir, bezogen auf den unverfügbaren Augenblick:
Man kann nichts hinzufügen und nichts abschneiden: Gott ist am Werk, damit Gottesfurcht in den Menschen entsteht. (3,14)
Gott gibt Antwort in der Freude des Herzens
Gott zu „fürchten“, das ist die altorientalische Formel für das, was wir „Religion“, ja sogar „Gottesglauben“ und „Gottesliebe“ zu nennen pflegen. In Israel verband sich die „Gottesfurcht“ sehr eng mit der Treue zu den Gesetzen Gottes. Doch Kohelet hat dem Begriff einen eigenen Inhalt gegeben. Er hat die „Gottesfurcht“ ganz in den Zusammenhang hineingeholt, in dem er das Rätsel der menschlichen Zeit analysiert.
Wer die menschliche Situation akzeptiert und den jeweiligen Augenblick, wie er auch immer aussehen mag, als Gottes jetzige Zuwendung und als die einzige, aber auch hinreichende Möglichkeit, die eigene Existenz mit Gottes Ewigkeit zu verbinden, anerkennt: der ist „gottesfürchtig“. Die „Gottesfurcht“ ist die größte menschliche Möglichkeit. Nichts kommt ihr gleich.
Kann es, wenn man sich auf solche „Gottesfurcht“ hin orientiert, überhaupt so etwas geben wie „Mangel an Zeit“? Wie ein Augenblick auch gefüllt sein mag – er kann immer zum Ort der „Gottesfurcht“ werden. Diese besteht ja gerade darin, daß man sich nicht aus dem gegebenen Augenblick hinaus- und in einen anderen hineinwünscht, sondern die jetzt von Gott geschenkte Zeit als den Anfang der Dauer erkennt.
Kohelet ist sich voll bewußt, daß es gute und böse „Zeiten“ gibt und daß sie unberechenbar verteilt sind. So ist es auch klar, daß die Gottesfurcht je nach dem Inhalt der gerade waltenden Stunde verschiedene Farben annimmt. Am wünschenswertesten ist es natürlich, sie verbindet sich mit der Farbe des Glücks. Bis an das große Gedicht, mit dem er sein Buch beschließt (vgl. 11,9-12,7), hört Kohelet nicht auf, den zu preisen, dem Gott die Freude gewährt.
Er mahnt dazu, die Freude, wenn sie geschenkt ist, auch anzunehmen, nicht zu zaudern, nichts auf später zu verschieben. Zugleich macht er darauf aufmerksam, worin der eigentliche Wert von Glück und Freude liegt:
Immer, wenn Gott einem Menschen Reichtum und Wohlstand geschenkt hat und ihn ermächtigt hat, davon zu essen und seinen Anteil fortzutragen und durch seinen Besitz Freude zu gewinnen, besteht das eigentliche Geschenk Gottes darin, daß dieser Mensch sich nicht so oft daran erinnern muß, wie wenige Tage sein Leben zählt, weil Gott ihm durch die Freude seines Herzens Antwort gibt. (5,18f)
In anderen Lebenslagen kann der Mensch nur durch den Gedanken an den Tod und die Kürze der Lebenszeit dazu kommen, den jeweiligen Augenblick ernstzunehmen und so zum Akt der Gottesfurcht zu machen. Die Freude dagegen ist Ekstase. Gott läßt den Menschen alles vergessen, selbst seinen Tod und die Kürze seines Lebens. Er gibt auf alle Fragen des Menschen in der Freude die Antwort. So ist Freude Offenbarung. Freude ist vom Schöpfer aus die Eröffnung des Dialogs mit dem Geschöpf. In ihr bricht die jenseitige Dimension jedes Augenblicks schon ins Diesseits durch. Dies scheint mir eine der tiefsten Aussagen Kohelets zu sein, die leider nur selten wahrgenommen wird.
Wer über Zeitmangel klagt, nimmt sich oft auch gerade nicht die Zeit zur Freude. Weiß er, was er tut? Weiß er, daß er dann vielleicht das Höchste von sich schiebt, was dem Menschen „in den Tagen seiner Vergänglichkeit“ geschenkt sein kann?
Er denke an die dunkelsten Tage
Wenn ich Kohelet recht verstanden habe, dann gehört die „Gottesfurcht“ zu jedem Augenblick der menschlichen Existenz, nicht nur in die Stunde der Freude. Doch die Freude ist vielleicht am ehesten der Ort, wo man die „Gottesfurcht“ lernen kann. Im Moment des Glücks kann man leichter akzeptieren, daß einem als Mensch immer nur ein dahingleitender Augenblick gegeben ist und daß man noch nicht einmal dessen Inhalt in der eigenen Hand hat. Aus der Tradition der Weisheitslehrer Israels, zu denen Kohelet trotz aller Unterschiede doch gehörte, mußte er ja auf jeden Fall zur „Gottesfurcht“ erziehen. So, wie er die „Gottesfurcht“ verstand, war es für ihn naheliegend, einfach zum ungequälten Genuß der möglichen Freude aufzufordern.
In diesem pädagogischen Zusammenhang möchte ich auch sein großes Schlußgedicht sehen. Es richtet sich ausdrücklich an junge Menschen und ruft sie dazu auf, dann, wenn sie noch keine Krankheit plagt und wenn ihr Haar noch schwarz ist, heiteren Herzens zu sein – und zwar gerade im Gedanken an die späteren Jahre, wenn Alter und Krankheit kommen, das Leben sich verdunkelt und schließlich der Tod alles beendet. Kohelet scheint kein Schullehrer gewesen zu sein. Eher hat er Menschen, die den normalen Bildungsgang schon absolviert hatten, um sich versammelt und ihnen noch einmal neu die Augen zu öffnen versucht. Aber selbst das waren offenbar noch junge Menschen. Sie waren noch nicht in Lebensleistungen verbissen und hatten noch nicht vor lauter Sorgen den interessenfreien Blick verloren. Sie waren auch noch in dem Sinne jung, daß sie vor der Gegenwart die Zukunft vergessen konnten. Ihnen gibt Kohelet in diesem Schlußgedicht die ihrem Alter angemessene Weisung, wie sie die „Gottesfurcht“ einüben können. Die in der Hingabe an die geschenkte Freude gelernte „Gottesfurcht“ wird sich, so mag sein Gedanke gewesen sein, auch dann weiter durchhalten können, wenn härtere und dunklere Zeiten des Lebens heraufziehen.
Das Schlußgedicht hat eine eigentümliche Gestalt. Es endet anders, als sein Anfang erwarten läßt. Ist das schriftstellerisches Ungeschick, oder ist das vielleicht gerade poetisch gewollt? Nach den Worten des Anfangs sollen Krankheit und Tod zwar geschildert werden, aber nur, weil der Blick auf sie den jungen Leser motivieren kann, sich jetzt in der Jugend des Lebens zu freuen. Doch diese Schilderung löst sich dann von ihrem Zusammenhang und macht sich selbständig – selbst auf der Ebene der Form und des Satzbaus bekommt man diesen Vorgang zu fassen. Das Thema kippt unterwegs gewissermaßen um. Das Gedicht begann als Ermahnung an die Jugend. Am Ende ist die Jugend vergessen. Alles ist verwandelt in ein ergreifendes Lied über Krankheit, Alter und Tod. Diese dunklen Wirklichkeiten ruhen nun in sich. Sie erstehen vor dem Leser in einer Sprache voll zarter Poesie, und in der allerletzten Zeile ist dann von Gott die Rede.
Ich glaube, die Schönheit dieser letzten Verse im Buch Kohelet, die leuchtende Sprache, mit der hier über so böse Dinge wie Alter und Tod gesprochen wird, ist noch einmal, in letzter Verhaltenheit und ohne daß eine reflexe Aussage nötig wäre, Kohelets Botschaft selbst: In jedem, auch dem dunkelsten Augenblick der menschlichen Existenz gibt es nur eine ganz schmale Wand, die unsere brüchige und oft so bittere Erfahrung trennt von des gleichen Augenblickes anderer Dimension: der ewigen und göttlich-seligen Dauer.
So ähnlich, scheint mir, muß zumindest ein Mensch wie Karl Rahner diese Zeilen verstanden haben, die er auch in seinen letzten, von ihm durchaus als dunkel empfundenen Jahren immer wieder gelesen hat.
Quelle: Geist und Leben 60 (1987), S. 2-12.