Neues Testament und Rassenfrage. Stellungnahme von Professoren wider einen kirchlichen Arierparagraphen (September 1933): „Nach dem Neuen Testament ist die christliche Kirche eine Kirche aus ‚Juden und Heiden‘, die sich sichtbar in einer Gemeinde zusammen finden. Nach dem Neuen Testament sind für die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde allein der Glaube und die Taufe maßgebend; es können aber Juden und Heiden in gleicher Weise zum Glauben kommen und getauft werden. Nach dem Neuen Testament sind zu kirchlichen Amtsträgern Juden und Heiden in grundsätzlich gleicher Weise geeignet. Sie werden zu einem kirchlichen Amt allein nach dem Maßstab ihres Glaubens, ihres Wandels und ihrer persönlichen Eignung von der Kirche und nur von ihr berufen.“

Stellungnahme von Professoren wider einen kirchlichen Arierparagraphen (September 1933)

Neues Testament und Rassenfrage. Stellungnahme von Professoren wider einen kirchlichen Arierparagraphen (September 1933)

Aus dem Neuen Testament ist eine direkte Antwort auf die Rassenfrage nicht zu entnehmen, weil ihm die Rassenfrage und der Begriff der Rasse im modernen Sinne fremd sind. Auch der Antisemitismus, den es schon — freilich nicht durch den Begriff der Rasse bestimmt — in der da­maligen Welt gegeben hat, spielt im Neuen Testament keine Rolle.

Der Gegensatz „Jude—Grieche“ oder „Jude—Heide“ ist für das neutestamentliche Denken in der Erwählung des jüdischen Volkes durch Gott begründet. Er wird deshalb weder als ein Gegensatz natürlicher oder geistiger Volksindividualitäten verstanden, noch als ein Unterschied des Wertes nach menschlichen Maßstäben beurteilt.

Sind für jüdisch-christliches Denken der neutestamentlichen Zeit die „Heiden“ in Sünden ver­sunken, so wird diese Sündigkeit nicht als Folge der natürlichen Beschaffenheit der heidnischen Volkstümer, als Ergebnis erbbiologischer Faktoren verstanden, sondern sie wird als Schuld beurteilt, die in der Urschuld, nämlich in der Verleugnung des auch für die Heiden erkennbaren Einen Gottes, begründet ist.

Von Paulus wird aber der Gegensatz Juden—Heiden als ein Gegensatz ethischer Qualitäten überhaupt bestritten durch den Hinweis darauf, daß Juden wie Heiden in gleicher Weise vor Gott Sünder sind: (Röm. 3,22: „Denn einen Unterschied gibt es nicht; gesündigt haben sie alle“; vgl. überhaupt Röm. 1,18-3, 20). Diese Behauptung spricht nur deutlich aus, was in der prophetischen, an das jüdische Volk gerichteten Gerichtspredigt vom Alten Testament über den Täufer (vgl. Matth. 3,9) bis zu Jesus teils implizit enthalten, teils auch gelegentlich schon ausgesprochen war (Matth. 8,11 f.).

Der Gegensatz Juden—Heiden als ein Gegensatz völkisch verschiedener Gruppen wird aber als völlig irrelevant bezeichnet angesichts der von Gott in Christus gewirkten Heilstat, deren Sinn die Vergebung der Sünde und die Verleihung des Lebens an den ist, der sich im Glauben dem Urteil Gottes unterwirft, das in solcher Heilstat gesprochen ist. Von Paulus wird diese Irrelevanz mehrfach und deutlich ausgesprochen, Röm. 3,29: „Oder ist Gott nur Gott der Juden? nicht auch der Heiden? Ja wohl auch der Heiden! Wenn anders es Ein Gott ist, der gerecht sprechen wird die Beschnittenen aus Glauben und die Unbeschnittenen aus Glauben“. Röm. 10,12: „Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen. Ein und derselbe ist aller Herr, der da reich ist für alle, die ihn an­rufen“. (1. Kor. 12,13; Gal. 3, 28; Kol. 3,11). Solche Aussagen sind antithetisch motiviert. Der Konflikt zwischen Juden- und Heidenchristentum, aus dem die paulinischen Thesen erwachsen sind, hat seinen Grund nicht in der Frage nach Volkstum und Rasse, sondern in der Frage nach der Bedeutung des alttestamentlichen rituellen Gesetzes. So wenden sich freilich die paulinischen Sätze in ihrer damaligen Aktualität nicht gegen eine in Rassenbiologie begründete Weltanschauung, die ja überhaupt nicht im Gesichtskreis des Neuen Testaments lag; aber sie lehnen grundsätzlich und radikal die Ansicht ab, daß Unterschiede, die innerhalb der menschlichen Sphäre einen — wie immer begründeten — Sinn haben, vor Gott irgend eine Bedeutung haben. Das kommt besonders deutlich darin zu Tage, daß für Paulus die heilsgeschichtlichen Charakteristika „Volk Israel“ und „Abrahams Same“ aus ihrer ur­sprünglichen Bindung an das jüdische Volk in seinem empirischen, natürlich-geschichtlichen Bestände gelöst sind und als Charakteristika der aus jedem beliebigen Volkstum stammenden Gläubigen ge­braucht werden (Gal. 3,6-29; 4,21-31; 6,16; Phil. 3,3; Röm. 2,28f.).

Aus der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen vor Gott als Sünder oder — sofern ein Mensch „glaubt“ — als Geretteter folgt nun für das Neue Testament nicht ein wirtschaftliches oder politisches Programm, das den Gleichheitsgedanken zum Prinzip der Umgestaltung der innerweltlichen Verhältnisse macht. Vielmehr wird solche Möglichkeit ausdrücklich abgewiesen (1. Kor. 7,17-24; Philemon; Röm. 13). Aber es folgt daraus allerdings die völlige Gleichheit der Gläubigen innerhalb der Ge­meinde, die der „Leib Christi“ ist, und in die der Glaubende durch die Taufe ausgenommen wird. In ihr hören die weltlichen Unterschiede auf (1. Kor. 12,13: „Denn durch Einen Geist sind wir alle zu Einem Leibe getauft worden, Juden oder Griechen, Knechte oder Freie, und sind alle mit einem Geiste getränkt worden“; Gal. 3, 28: „Da — nämlich in der sichtbaren, durch die Taufe konstituierten Gemeinde — ist nicht Jude noch Grieche, nicht Knecht noch Freier, nicht Mann noch Weib; denn alle seid ihr Einer in Christus Jesus“). In Christus ist der Gläubige ein neues Geschöpf, und alle weltlich-fleischliche Bestimmtheit hat ihre Bedeutung verloren (2. Kor. 5,16 f.).

Jede Betätigung in der Gemeinde und für die Gemeinde wird nicht verstanden als Äußerung und Aktivierung natürlicher Anlagen des Menschen, sondern als Wirkung des Heiligen Geistes, der in der Taufe den Gläubigen geschenkt wird (1. Kor. 12-14). Der Gedanke, daß die Religion, als die „tiefste Kraft der Seele“, dazu da sei, die natürlichen Anlagen des Menschen zur Entfaltung zu bringen, liegt dem Neuen Testament ebenso fern wie die Reflexion auf die Nützlichkeit des christlichen Glaubens für die weltlichen, die natürlich-geschichtlichen Gemeinschaften, wie Familie und Volk, Gesell­schaft und Staat. Deshalb liegt auch der Gedanke ganz fern, daß eine amtliche Betätigung in der Gemeinde nach dem Gesichtspunkt völkisch-rassischer Zugehörigkeit zu regeln sei. Kann sich jeder Gläubige nach Maßgabe des in ihm wirkenden Geistes in der Gemeinde und für die Gemeinde be­tätigen (Röm. 12,3-8; 1. Kor. 12,4-11), so hängt die Übertragung eines Gemeindeamtes von der persönlichen Eignung des Betreffenden ab. Diese ist durch verschiedene Faktoren gegeben, durch Erfahrung und Alter, durch natürliche Begabung und wirtschaftliche Situation, vor allem durch den sittlichen Wandel. Spielt unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Anlage der Unterschied der Ge­schlechter eine Nolle — obwohl doch in Christus Mann und Weib vor Gott gleich sind —, so doch niemals der Unterschied völkisch rassischer Bestimmtheit. Wie wenig aber jene Rücksicht auf den Unter­schied der Geschlechter grundsätzliche Bedeutung hat, zeigt sich ja schon daran, daß der Gedanke nie aufkommen kann, etwa gesonderte Gemeinden einzurichten, die nur aus Frauen bestehen und von Frauen geleitet werden.

Angesichts der heute die Diskussion bewegenden Fragen erklären wir Professoren und Dozenten der Theologie, denen von Amts oder Be­rufs wegen die Sorge um die Auslegung des Neuen Testaments anver­traut ist, Folgendes:

  1. Nach dem Neuen Testament ist die christliche Kirche eine Kirche aus „Juden und Heiden“, die sich sichtbar in einer Gemeinde zusammen finden (vgl. außer den oben genannten Stellen: Röm. 9—11; Eph. 2, 14 ff.; Gal. 2,11 ff.; Act. 2, 1 ff.; 10, 34 f.).
  2. Nach dem Neuen Testament sind für die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde allein der Glaube und die Taufe maßgebend; es können aber Juden und Heiden in gleicher Weise zum Glauben kommen und getauft werden (Matth. 28,18 ff.; Mark. 16,15 ff.; 1. Kor. 12,12 ff.).
  3. Nach dem Neuen Testament sind zu kirchlichen Amtsträgern Juden und Heiden in grundsätzlich gleicher Weise geeignet. Sie werden zu einem kirchlichen Amt allein nach dem Maßstab ihres Glaubens, ihres Wandels und ihrer persönlichen Eignung von der Kirche und nur von ihr berufen (1. Tim. 3, 2-4; Tit. 1, 6 ff.; 2. Tim. 2,24; 1. Pt. 5, 2f.; Act. 20,28).
  4. Diese Haltung gründet darin, daß nach dem Neuen Testament die Kirche ihr Dasein in der Welt allein dem Heiligen Geist verdankt. Es ist Gott, der durch das hörbare Wort der Verkündigung und das sichtbare Zeichen der Taufe die Menschen aller Rassen und Völker in die eine gemeinsame Kirche ruft, deren Gläubige der sichtbare Leib des unsichtbaren Hauptes, Christus, und daher in der sichtbaren Gemeinde als seine Glieder miteinander verbunden sind (vgl. außer den oben genannten Stellen Eph. 4, 4f.; Joh. 1,12f.; 10,16).
  5. Wir sind daher der Meinung, daß eine christliche Kirche in ihrer Lehre und in ihrem Handeln diesen Standpunkt grundsätzlich nicht aufgeben darf.

Den 23. September 1933

Brandt-Bethel, Bultmann-Marburg, Deißmann-Berlin, Deißner-Greifswald, Fitzer-Breslau, Heim-Tübingen, Jeremias-Greifswald, Jülicher-Marburg, Lietzmann-Berlin, Lohmeyer-Breslau, Lueken-Frankfurt, Lütgert-Berlin, Oepke-Leipzig, Schlier-Marburg, K. L. Schmidt-Bonn, Schmitz-Münster, Schniewind-Königsberg, von Soden-Marburg, Windisch-Kiel. Bauer-Göttingen, Juncker-Königsberg, J. Schneider-Berlin.

(Es konnten wegen der Kürze der verfügbaren Zeit nicht alle Antworten der befragten Fachgenossen abgewartet werden.)

Hier der Text als pdf.

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