Reinhold Schneider, Worte zu Pfingsten (1953): „Christus ist der gekreuzigte Geist; der Geist, der Fleisch und Blut ward, denn nur als solcher konnte er gekreuzigt werden. Aber nun ist das Kreuz Merkmal des Geistes, wie wir ihn al­lein erfahren können: des Geistes in geschichtlicher Verant­wortung, ausgegangen von Gott und mit der Berufung zur Heimkehr, zur Rechenschaft von ihm begnadet. Christus ist die Wahrheit am Kreuze, die Liebe am Kreuze, das Leben am Kreuze, die gekreuzigte Macht.“

Worte zu Pfingsten (1953)

Von Reinhold Schneider

Als Paulus und Silas im Gefängnis zu Philippi beteten und sangen, wurden die Mauern erschüttert, und alle Fesseln lösten sich. Aber die Apostel und Gefangenen verließen den Kerker nicht; sie trösteten den Gefängniswärter, der sich töten wollte, verkündeten ihm den Glauben und ließen sich von ihm herausführen und beherbergen. Sie wurden dem zum Heile, der sie in Fesseln gehalten hatte. So ist die ganze Apostelgeschich­te, von der Herabkunft des himmlischen Feuers an, das un­widerlegliche Geschichtsdokument von der Wirkung des Geistes, seiner in das Weltgeschick einströmenden Macht, aber auch ein Zeugnis des Gehorsams gegen ihn. Die Apostel fragen und warten die Antworten ab; sie scheinen bei aller Entschiedenheit zagenden Schrittes zu gehen; da sie Phrygien und Galatien durchzogen hatten, wurden »sie gehindert vom Heiligen Geist zu verkünden das Wort in Asien«. Es ist eine weltgeschichtliche Entscheidung der rätselhaftesten Art, daß Paulus nicht nach Asien sollte und den großen Religonen und Lehren des Ostens nicht begegnet ist. Gehorsam war hier ein ungeheurer Verzicht.

Der Geist erweist sich auf Erden insofern als Macht, als er sich den Menschen unterwirft und der Mensch sich ihm unter­werfen will: das ist christliche Geschichte; nur wenn der Geist absolute Macht ist – und das heißt absolute Freiheit -, kann von christlicher Geschichte gesprochen werden. Aber dieses Bild bleibt bestimmend: die von der himmlischen Macht Be­freiten warten in Kerkertrümmern auf den Diener der welt­lichen Gewalt – einer offenbar im Unrecht stehenden Macht-, weil sie an ihn eine Sendung haben, weil der Geist ihnen befiehlt, ihm zu sagen: »Glaube an den Herrn Jesus!« Da sie dieses Wort sprechen, tragen sie noch die Striemen der Züch­tigung am Leibe; sie sind das beglaubigende Zeugnis, Anteil an der Schmach Jesu Christi und zugleich an seiner Macht. Denn der Auferstandene hat ja die Male der Mißhandlung emporgenommen zum Vater; diese Male haben Bestand in der Ewigen Herrlichkeit; sie sind ein Siegel der göttlichen Maje­stät.

Das Geheimnis des Heiligen Geistes ist unergründlich; nur in sehr seltenen Fällen erkühnten sich christliche Künstler, den Geist auch als Person darzustellen. Wer könnte es wagen, die Vorstellung der dritten göttlichen Person wirklich zu voll­ziehen? Aber auch hier gilt, wie für das ganze Christentum, das Wort Gregors des Großen: »Beim Anhören der Gebote Gottes wurden sie nicht erleuchtet, als sie sie erfüllten, kam die Erleuchtung.« Und wenn, nach Bernhard von Clairvaux, die vollkommene Erkenntnis der hochheiligsten Dreifaltigkeit das ewige Leben selbst ist, so ist die unvollkommene Erkennt­nis, die wir hier auf Erden erreichen können, der Anfang die­ses Lebens, aber eben: als Leben, als der Versuch, die unerforschliche göttliche Wahrheit zu tun in unserer geschicht­lichen Existenz. Dieses Wagnis wird unser Verhältnis bestim­men zu Macht, Schuld und Freiheit, deren Zusammenwirken und Gegeneinanderwirken das Drama unseres Daseins ist.

Christus hat uns den Geist verheißen, der ihn verkünden wird; nur in der Nachfolge Christi können wir es wagen, ihm zu nahen; nur in ihr werden wir – aber im Verhältnis zu un­serer Zeit und unserem Ort, zu den Gefahren und Gnaden des gegenwärtigen Augenblicks – die Wirklichkeit des ver­heißenen Geistes erfahren. Seine reine Macht hat sich auf ein­malige Weise ereignet, als er die Jungfrau überschattete. Der einzige Mensch, der von der Sünde ausgenommen war und ist, neigte sich ihm und wurde sein Gefäß: indem das Wort Fleisch ward, trat es in die Geschichte ein; kraft des verheiße­nen Geistes, kraft des Sakramentes und des Amtes wird es in ihr sein und herrschen bis zum Ende, sichtbar-unsichtbar, körperhaft und verhüllt, erkennbar als Zeichen, unerkennbar als die alles Sichtbare tragende Wahrheit. Ist alle Macht zusammengefaßt in Christus dem König der Welt, so kann Macht auf Erden nur verwaltet werden, nur echt sein, wenn ihr Träger »Christi Sinn« hat; wenn er eins ist mit dem Welt­herrscher, der ihn berief und belohnte. Sie muß unabänderlich auf Christus weisen: Magnetnadel eines von furchtbaren Stür­men gejagten Schiffes.

Aber der Mensch ist mächtig diesseits der Sünde; in sein gan­zes Sein und Trachten sickerte die Sünde ein; er kann nicht rein sein, und also gibt es auch keinen reinen, schuldlosen Staat. Aber der Mensch kann rein werden, wollen, daß Chri­stus zu ihm spricht: »Ich will, sei rein!« Mit dem Einbruch des Heiligen Geistes in der Stunde der Verkündigung hat Ge­schichte begonnen, wie wir sie kennen, und wie sie sein wird bis zum Ende: die Mächtigen der Erde gleichen den Kranken, die am See Bethesda liegen, angewiesen auf den Engel, ange­wiesen auf den Vorübergang des Herrn; darauf, daß sie ihn erkennen und die Kraft finden, ihn anzurufen, wenn sie die Kraft, in den Teich zu steigen, nicht mehr haben.

Rein ist einzig die Macht Gottes; aber Gott ist der Geist, der sich mit der Körperwelt vermählte, der unablässig die Schöp­fung einfordert und sie zu seinem Zeichen macht. Die über die Erde gebreitete Schönheit ist, als Abglanz der Vollkommen­heit, solches Zeichen; das Leben ist es als die eigentlich uner­gründliche Tatsache der sichtbaren Welt. Kann Geschichte im entscheidenden Sinne nur vom Glauben an Jesus Christus als ihren Herrn verstanden werden, so auch nur von diesem Glauben das furchtbare Leiden derer, denen Macht anver­traut ist. Der Ursprung ist rein, aber dieses Reine taucht in das trübende Element. Zu verwalten, zu beherrschen ist ech­ter Auftrag; wenn aber der Vollzug des Auftrags Dem wider­spricht, von dem er ausgegangen ist, so sind Seele und Welt in Gefahr, ist die Macht krank. Es ist kein christlicher Herrscher und Staatsmann denkbar, der nicht an dieser Erfahrung gelit­ten hat; diejenigen sollten uns am höchsten stehen, die daran gelitten haben bis zum Zerbrechen.

Christus, der Lebendige, hat ein einziges Gesetz gegeben: sein Leben in uns; das Gesetz des von Ihm durchdrungenen Ge­wissens. Was in dessen Bereich ausgetragen wird, wissen wir nicht; kein Geschichtsschreiber kann schildern, was ein christ­licher Staatsmann ausgekämpft hat zwischen Tat und Ver­zicht, Behauptung der Macht und Versuchung durch sie, zwi­schen Mißbrauch und Reinigung. Es ist das Grundthema christlicher Dichtung, sofern sie Geschichte, das christliche Dasein in ihr, vergegenwärtigt. Es ist die Sprache eines Kon­fliktes, eines Leidens, die sich nicht heilen lassen. Immer wer­den die Kranken am Ufer des vom Geheimnis aufgewühlten Sees liegen; ein einziges Mal geht an dem, der sein Leben lang sich vergeblich abgemüht hat, der Arzt der Welt vorüber, das Wort in Fleisch und Blut: das Wort, das in ihm leben, ihn zu sich hin verwandeln will.

Die Macht wird nicht rein: Der Christ weiß, daß Satans Reich sich ausbreiten, daß der Herr das Unkraut nicht ausreißen wird vor der Ernte. Der Christ kämpft mit versagender Kraft, mit sterbender Hoffnung. Alles liegt an der fortwäh­renden Entsühnung der sich fortwährend verschuldenden Macht. In Christus ist Freiheit: in dem einzigen Augenblick, da er, an uns vorüberschreitend, uns anrührt, sind wir frei; aber hinter der Lichtgestalt schließt sich die Finsternis um uns wie ein Fels. Und doch ist der Herr in dieser Finsternis verbor­gen: »Moses trat hinzu zur Finsternis, in der war Gott.« Das heißt: Christus kann nur unter uns sein als der Gekreu­zigte. Wir können dem christlichen Staatsmann nicht sagen, was er tun, was er lassen soll, Schuld kann beides sein: das Wuchern mit der Macht wie der Verzicht auf sie, das Tun wie das Lassen. Da Satans Herrschaft in der Zeit vor der Ernte — und das ist die Geschichtszeit – nicht aufgehoben wird so wird er unablässig die Macht des Menschen mit seiner Macht sättigen wollen; indem er dem Mächtigen den Blitz des Sieges, des Ruhmes, der Erkenntnis in die Augen schießt, vertauscht er die Macht unter seinen Händen: die Macht wird satani­sches Werkzeug, sei es nun die Macht des Geistes, oder der Waffen, oder des Geldes.

Aber wie die große Teresa dem sie bedrängenden Satan das Kreuz entgegenhielt, so hat auch der christliche Staatsmann keine andere entscheidende Waffe: es ist das gelebte Kreuz, seine zwischen Ja und Nein, Verteidigung und Opfer, im Bewußtsein untragbarer, dennoch nicht abzuwerfender Verant­wortung gekreuzigte Seele. Er wird den Satan nicht aus der Welt schlagen, die Reinigung der Macht nicht vollziehen; aber kraft des gelebten Kreuzes kann es doch geschehen, daß die ihm überantwortete Macht nicht in die Tiefe gerissen wird.

Christus ist der gekreuzigte Geist; der Geist, der Fleisch und Blut ward, denn nur als solcher konnte er gekreuzigt werden. Aber nun ist das Kreuz Merkmal des Geistes, wie wir ihn al­lein erfahren können: des Geistes in geschichtlicher Verant­wortung, ausgegangen von Gott und mit der Berufung zur Heimkehr, zur Rechenschaft von ihm begnadet. Christus ist die Wahrheit am Kreuze, die Liebe am Kreuze, das Leben am Kreuze, die gekreuzigte Macht. Er ist die Freiheit auf unver­gleichliche Weise gerade in dem Augenblick, da die Nägel seine Hände und Füße an die Balken schließen. Denn er hat die Freiheit wie die Macht, die Knechte zu zerschmettern, die ihn kreuzigende Welt aufzuheben: aber er opfert sich ihr. Nun ist die Macht in ihrer höchsten Gestalt erschienen: in dem, der alle Macht selber ist und sich aller Macht begibt. In­dem die dem Menschen überantwortete Macht zum Bilde die­ses Mysteriums wird, kann sie vielleicht bestehen: nicht aus sich selbst, sondern allein aus der Gnade des ohne Rückhalt erfahrenen Kreuzes. Das bedeutet die Unbesieglichkeit der Besiegten, die Einheit von Passion und Triumph. Nur wo sie sich vereinen, ist Hoffnung, daß die Mauern fallen, die ei­gentliche Freiheit anbricht und gelebt wird, nur dann ist Hoffnung auf die letzte Entscheidung: darauf, daß die Welt erschüttert werde und glaube.

24. 4. 1953

Quelle: Reinhold Schneider, Gesammelte Werke, Bd. 9: Das Unzerstörbare. Religiöse Schriften, Frankfurt a.M.: Insel, 1978, S. 414-419.

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