Von Reinhold Schneider
Als Paulus und Silas im Gefängnis zu Philippi beteten und sangen, wurden die Mauern erschüttert, und alle Fesseln lösten sich. Aber die Apostel und Gefangenen verließen den Kerker nicht; sie trösteten den Gefängniswärter, der sich töten wollte, verkündeten ihm den Glauben und ließen sich von ihm herausführen und beherbergen. Sie wurden dem zum Heile, der sie in Fesseln gehalten hatte. So ist die ganze Apostelgeschichte, von der Herabkunft des himmlischen Feuers an, das unwiderlegliche Geschichtsdokument von der Wirkung des Geistes, seiner in das Weltgeschick einströmenden Macht, aber auch ein Zeugnis des Gehorsams gegen ihn. Die Apostel fragen und warten die Antworten ab; sie scheinen bei aller Entschiedenheit zagenden Schrittes zu gehen; da sie Phrygien und Galatien durchzogen hatten, wurden »sie gehindert vom Heiligen Geist zu verkünden das Wort in Asien«. Es ist eine weltgeschichtliche Entscheidung der rätselhaftesten Art, daß Paulus nicht nach Asien sollte und den großen Religonen und Lehren des Ostens nicht begegnet ist. Gehorsam war hier ein ungeheurer Verzicht.
Der Geist erweist sich auf Erden insofern als Macht, als er sich den Menschen unterwirft und der Mensch sich ihm unterwerfen will: das ist christliche Geschichte; nur wenn der Geist absolute Macht ist – und das heißt absolute Freiheit -, kann von christlicher Geschichte gesprochen werden. Aber dieses Bild bleibt bestimmend: die von der himmlischen Macht Befreiten warten in Kerkertrümmern auf den Diener der weltlichen Gewalt – einer offenbar im Unrecht stehenden Macht-, weil sie an ihn eine Sendung haben, weil der Geist ihnen befiehlt, ihm zu sagen: »Glaube an den Herrn Jesus!« Da sie dieses Wort sprechen, tragen sie noch die Striemen der Züchtigung am Leibe; sie sind das beglaubigende Zeugnis, Anteil an der Schmach Jesu Christi und zugleich an seiner Macht. Denn der Auferstandene hat ja die Male der Mißhandlung emporgenommen zum Vater; diese Male haben Bestand in der Ewigen Herrlichkeit; sie sind ein Siegel der göttlichen Majestät.
Das Geheimnis des Heiligen Geistes ist unergründlich; nur in sehr seltenen Fällen erkühnten sich christliche Künstler, den Geist auch als Person darzustellen. Wer könnte es wagen, die Vorstellung der dritten göttlichen Person wirklich zu vollziehen? Aber auch hier gilt, wie für das ganze Christentum, das Wort Gregors des Großen: »Beim Anhören der Gebote Gottes wurden sie nicht erleuchtet, als sie sie erfüllten, kam die Erleuchtung.« Und wenn, nach Bernhard von Clairvaux, die vollkommene Erkenntnis der hochheiligsten Dreifaltigkeit das ewige Leben selbst ist, so ist die unvollkommene Erkenntnis, die wir hier auf Erden erreichen können, der Anfang dieses Lebens, aber eben: als Leben, als der Versuch, die unerforschliche göttliche Wahrheit zu tun in unserer geschichtlichen Existenz. Dieses Wagnis wird unser Verhältnis bestimmen zu Macht, Schuld und Freiheit, deren Zusammenwirken und Gegeneinanderwirken das Drama unseres Daseins ist.
Christus hat uns den Geist verheißen, der ihn verkünden wird; nur in der Nachfolge Christi können wir es wagen, ihm zu nahen; nur in ihr werden wir – aber im Verhältnis zu unserer Zeit und unserem Ort, zu den Gefahren und Gnaden des gegenwärtigen Augenblicks – die Wirklichkeit des verheißenen Geistes erfahren. Seine reine Macht hat sich auf einmalige Weise ereignet, als er die Jungfrau überschattete. Der einzige Mensch, der von der Sünde ausgenommen war und ist, neigte sich ihm und wurde sein Gefäß: indem das Wort Fleisch ward, trat es in die Geschichte ein; kraft des verheißenen Geistes, kraft des Sakramentes und des Amtes wird es in ihr sein und herrschen bis zum Ende, sichtbar-unsichtbar, körperhaft und verhüllt, erkennbar als Zeichen, unerkennbar als die alles Sichtbare tragende Wahrheit. Ist alle Macht zusammengefaßt in Christus dem König der Welt, so kann Macht auf Erden nur verwaltet werden, nur echt sein, wenn ihr Träger »Christi Sinn« hat; wenn er eins ist mit dem Weltherrscher, der ihn berief und belohnte. Sie muß unabänderlich auf Christus weisen: Magnetnadel eines von furchtbaren Stürmen gejagten Schiffes.
Aber der Mensch ist mächtig diesseits der Sünde; in sein ganzes Sein und Trachten sickerte die Sünde ein; er kann nicht rein sein, und also gibt es auch keinen reinen, schuldlosen Staat. Aber der Mensch kann rein werden, wollen, daß Christus zu ihm spricht: »Ich will, sei rein!« Mit dem Einbruch des Heiligen Geistes in der Stunde der Verkündigung hat Geschichte begonnen, wie wir sie kennen, und wie sie sein wird bis zum Ende: die Mächtigen der Erde gleichen den Kranken, die am See Bethesda liegen, angewiesen auf den Engel, angewiesen auf den Vorübergang des Herrn; darauf, daß sie ihn erkennen und die Kraft finden, ihn anzurufen, wenn sie die Kraft, in den Teich zu steigen, nicht mehr haben.
Rein ist einzig die Macht Gottes; aber Gott ist der Geist, der sich mit der Körperwelt vermählte, der unablässig die Schöpfung einfordert und sie zu seinem Zeichen macht. Die über die Erde gebreitete Schönheit ist, als Abglanz der Vollkommenheit, solches Zeichen; das Leben ist es als die eigentlich unergründliche Tatsache der sichtbaren Welt. Kann Geschichte im entscheidenden Sinne nur vom Glauben an Jesus Christus als ihren Herrn verstanden werden, so auch nur von diesem Glauben das furchtbare Leiden derer, denen Macht anvertraut ist. Der Ursprung ist rein, aber dieses Reine taucht in das trübende Element. Zu verwalten, zu beherrschen ist echter Auftrag; wenn aber der Vollzug des Auftrags Dem widerspricht, von dem er ausgegangen ist, so sind Seele und Welt in Gefahr, ist die Macht krank. Es ist kein christlicher Herrscher und Staatsmann denkbar, der nicht an dieser Erfahrung gelitten hat; diejenigen sollten uns am höchsten stehen, die daran gelitten haben bis zum Zerbrechen.
Christus, der Lebendige, hat ein einziges Gesetz gegeben: sein Leben in uns; das Gesetz des von Ihm durchdrungenen Gewissens. Was in dessen Bereich ausgetragen wird, wissen wir nicht; kein Geschichtsschreiber kann schildern, was ein christlicher Staatsmann ausgekämpft hat zwischen Tat und Verzicht, Behauptung der Macht und Versuchung durch sie, zwischen Mißbrauch und Reinigung. Es ist das Grundthema christlicher Dichtung, sofern sie Geschichte, das christliche Dasein in ihr, vergegenwärtigt. Es ist die Sprache eines Konfliktes, eines Leidens, die sich nicht heilen lassen. Immer werden die Kranken am Ufer des vom Geheimnis aufgewühlten Sees liegen; ein einziges Mal geht an dem, der sein Leben lang sich vergeblich abgemüht hat, der Arzt der Welt vorüber, das Wort in Fleisch und Blut: das Wort, das in ihm leben, ihn zu sich hin verwandeln will.
Die Macht wird nicht rein: Der Christ weiß, daß Satans Reich sich ausbreiten, daß der Herr das Unkraut nicht ausreißen wird vor der Ernte. Der Christ kämpft mit versagender Kraft, mit sterbender Hoffnung. Alles liegt an der fortwährenden Entsühnung der sich fortwährend verschuldenden Macht. In Christus ist Freiheit: in dem einzigen Augenblick, da er, an uns vorüberschreitend, uns anrührt, sind wir frei; aber hinter der Lichtgestalt schließt sich die Finsternis um uns wie ein Fels. Und doch ist der Herr in dieser Finsternis verborgen: »Moses trat hinzu zur Finsternis, in der war Gott.« Das heißt: Christus kann nur unter uns sein als der Gekreuzigte. Wir können dem christlichen Staatsmann nicht sagen, was er tun, was er lassen soll, Schuld kann beides sein: das Wuchern mit der Macht wie der Verzicht auf sie, das Tun wie das Lassen. Da Satans Herrschaft in der Zeit vor der Ernte — und das ist die Geschichtszeit – nicht aufgehoben wird so wird er unablässig die Macht des Menschen mit seiner Macht sättigen wollen; indem er dem Mächtigen den Blitz des Sieges, des Ruhmes, der Erkenntnis in die Augen schießt, vertauscht er die Macht unter seinen Händen: die Macht wird satanisches Werkzeug, sei es nun die Macht des Geistes, oder der Waffen, oder des Geldes.
Aber wie die große Teresa dem sie bedrängenden Satan das Kreuz entgegenhielt, so hat auch der christliche Staatsmann keine andere entscheidende Waffe: es ist das gelebte Kreuz, seine zwischen Ja und Nein, Verteidigung und Opfer, im Bewußtsein untragbarer, dennoch nicht abzuwerfender Verantwortung gekreuzigte Seele. Er wird den Satan nicht aus der Welt schlagen, die Reinigung der Macht nicht vollziehen; aber kraft des gelebten Kreuzes kann es doch geschehen, daß die ihm überantwortete Macht nicht in die Tiefe gerissen wird.
Christus ist der gekreuzigte Geist; der Geist, der Fleisch und Blut ward, denn nur als solcher konnte er gekreuzigt werden. Aber nun ist das Kreuz Merkmal des Geistes, wie wir ihn allein erfahren können: des Geistes in geschichtlicher Verantwortung, ausgegangen von Gott und mit der Berufung zur Heimkehr, zur Rechenschaft von ihm begnadet. Christus ist die Wahrheit am Kreuze, die Liebe am Kreuze, das Leben am Kreuze, die gekreuzigte Macht. Er ist die Freiheit auf unvergleichliche Weise gerade in dem Augenblick, da die Nägel seine Hände und Füße an die Balken schließen. Denn er hat die Freiheit wie die Macht, die Knechte zu zerschmettern, die ihn kreuzigende Welt aufzuheben: aber er opfert sich ihr. Nun ist die Macht in ihrer höchsten Gestalt erschienen: in dem, der alle Macht selber ist und sich aller Macht begibt. Indem die dem Menschen überantwortete Macht zum Bilde dieses Mysteriums wird, kann sie vielleicht bestehen: nicht aus sich selbst, sondern allein aus der Gnade des ohne Rückhalt erfahrenen Kreuzes. Das bedeutet die Unbesieglichkeit der Besiegten, die Einheit von Passion und Triumph. Nur wo sie sich vereinen, ist Hoffnung, daß die Mauern fallen, die eigentliche Freiheit anbricht und gelebt wird, nur dann ist Hoffnung auf die letzte Entscheidung: darauf, daß die Welt erschüttert werde und glaube.
24. 4. 1953
Quelle: Reinhold Schneider, Gesammelte Werke, Bd. 9: Das Unzerstörbare. Religiöse Schriften, Frankfurt a.M.: Insel, 1978, S. 414-419.