Die Opferung Isaaks (Gottesfinsternis)
Von Martin Buber
Das erste Buch Kierkegaards, des großen Erzprüfers der Christenheit im neunzehnten Jahrhundert, das ich als junger Mensch gelesen habe, war »Furcht und Zittern«, das sich ganz auf der biblischen Erzählung von der Opferung Isaaks aufbaut. Ich denke noch heute an jene Stunde zurück, weil ich damals den Anstoß erhielt, über das Verhältnis des Ethischen zum Religiösen nachzudenken.
In diesem Buch wird an dem Beispiel der Versuchung Abrahams dargelegt, es gebe eine »teleologische Suspension des Ethischen«, das heißt, die Gültigkeit der ethischen Verpflichtung könne jeweils durch ein Höheres, durch das Höchste dessen Absichten gemäß suspendiert werden. Wenn Gott einem gebietet, seinen Sohn zu morden, so ist für die Dauer dieser Situation die Unsittlichkeit des Unsittlichen aufgehoben, mehr noch: das sonst schlechthin Böse ist für die Dauer dieser Situation das schlechthin Gute, weil Gottgefällige geworden. An die Stelle des Allgemeinen und Allgemeingültigen tritt etwas, was ausschließlich in dem persönlichen Verhältnis zwischen Gott und dem Einzelnen gegründet ist. Eben damit aber wird das Allgemeine und Allgemeingültige, das Ethische relativiert; seine Werte und Gesetze werden aus dem Unbedingten in die Bedingtheit verwiesen; denn dem, was im Bereich des Ethischen Pflicht ist, kommt keine Absolutheit mehr zu, sowie es mit der absoluten Pflicht gegen Gott konfrontiert wird. »Aber was ist denn«, fragt Kierkegaard, »die Pflicht? Die Pflicht ist ja eben der Ausdruck für Gottes Willen!« Mit anderen Worten: Gott setzt die Ordnung von Gut und Böse – und durchbricht sie, wo er will, und zwar von Person zu Person.
Auf den tödlichen Ernst dieses »Von Person zu Person« hat Kierkegaard zwar mit dem äußersten Nachdruck hingewiesen. Aufs deutlichste erklärt er, nur einem, der würdig sei, Gottes Auserwählter genannt zu werden, werde solch eine Probe auferlegt; »wer aber«, fragt er, »ist ein solcher?« Insbesondere versichert er uns Mal um Mal, er selber habe diesen Mut des Glaubens nicht, der erforderlich sei, um sich mit geschlossenen Augen vertrauensvoll in das Absurde zu stürzen; es sei ihm unmöglich, die paradoxale Bewegung des Glaubens zu vollziehen, die Abraham vollzieht. Man muß jedoch daran denken, daß Kierkegaard auch erklärt, er habe darum gekämpft, im strengen Sinn »der Einzelne« zu werden, habe es aber nicht ergriffen, und daß er dennoch einmal im Sinne hatte, auf sein Grab die Worte »Jener Einzelne« setzen zu lassen. Es ist aus verschiedenen Zeichen zu entnehmen, daß ihm, als er beschrieb, wie Abraham seinen Sohn hergab und doch daran glaubte, er werde ihn nicht verlieren (so versteht Kierkegaard den Vorgang), die Erinnerung an den Tag in der Seele stand, da er selber, wenig mehr als ein Jahr vorher, den Bund mit der geliebten Braut löste und doch meinte, ihn in einer unfaßbaren Dimension bewahren zu können. Gegen diesen Bund, so deutete er es einmal, »lag ein göttlicher Protest vor«[1], dessen er freilich nicht dauernd sicher war, so wenig, daß er im Jahr der Veröffentlichung von »Furcht und Zittern« den Satz niederzuschreiben vermochte: »Hätte ich den Glauben gehabt, so wäre ich bei ihr geblieben.« Aus der Situation zwischen Abraham und Gott, der die von ihm selber gesetzte ethische Ordnung durchbricht, ist der Vorgang hier in eine Sphäre gerückt, in der es weit weniger eindeutig als in der biblischen Erzählung zugeht. »Was er unter Isaak zu verstehen hat«, sagt Kierkegaard, »kann der Einzelne nur mit sich selbst für sich selbst ausmachen«. Das bedeutet klar und präzis, daß er es von Gott nicht, jedenfalls nicht unmißverständlich, erfährt. Gott fordert das Opfer von ihm, aber welches Opfer, das bleibt offenbar dem Einzelnen zur Interpretation überlassen, die immerhin durch seine Lebensumstände in dieser Stunde bestimmt wird. Wie anders redet hier die biblische Stimme: »Deinen Sohn, deinen Einzigen, den du liebst, den Isaak.« Da ist nichts zu interpretieren, der hörende Mensch erfährt restlos, was von ihm gefordert wird; der Gott, der hier redet, gibt keine Rätsel auf.
Aber noch sind wir nicht bei der entscheidenden Problematik angelangt. Diese tut sich uns erst dann auf, als Kierkegaard seinen Abraham mit Agamemnon vergleicht, der sich anschickt, Iphigenie zu opfern. Agamemnon ist der tragische Held, der vom »Allgemeinen«, von dem Vorhaben seines Volkes angefordert wird, also »in den Grenzen der Ethik bleibt«, die Abraham, »der Ritter des Glaubens«, überschreitet. Alles kommt darauf an, daß er sie mit der paradoxalen Bewegung des Glaubens überschreitet; denn sonst ist alles eine »Anfechtung« gewesen, die Opferbereitschaft eine Mordbereitschaft, »Abraham ist verloren«. Auch das entscheidet sich in der »absoluten Isolation«. »Der Ritter des Glaubens«, sagt Kierkegaard, »ist einzig und allein auf sich selbst angewiesen, und darin liegt das Entsetzliche.« Das ist insofern richtig, als es niemanden auf Erden gibt, der ihm helfen könnte, die Entscheidung zu treffen und »die Bewegung der Unendlichkeit« zu vollziehen. Aber Kierkegaard setzt hier etwas voraus, was nicht einmal in der Welt Abrahams, geschweige denn in unserer Welt vorausgesetzt werden darf. Er beachtet nicht, daß der Problematik der Glaubensentscheidung eine Problematik des Hörens selber vorausgeht: Wer ist es, dessen Stimme man vernimmt?
Für Kierkegaard ist es von der christlichen Tradition aus, in der er aufgewachsen ist, selbstverständlich, daß der das Opfer Fordernde kein anderer als Gott ist. Für die Bibel, jedenfalls für das Alte Testament, ist das nicht ohne weiteres selbstverständlich; wird hier doch sogar eine bestimmte »Anstiftung« zu einer verbotenen Handlung an einer Stelle (II Samuel 24) Gott zugeschrieben und an einer anderen (I Chronik 21) dem Satan. Wohl hat Abraham die Stimme, die ihn einst aus der Heimat gehen hieß, und die er damals, ohne daß der Redende ihm sagte, wer er sei, als die Stimme Gottes erkannte, nie mehr mit einer andern zu verwechseln vermocht. Und wohl »versucht« Gott ihn nur, das heißt, er holt durch die äußerste Forderung die innerste Hingabe-Bereitschaft aus den Tiefen des Menschenwesens hervor und ermöglicht diesem, sie zur vollen Tat-Intention erwachsen zu lassen und sein Verhältnis zu ihm, Gott, ganz wirklich zu machen; dann jedoch, wenn nichts mehr hemmend zwischen der Intention und der Tat steht, läßt er sich an der so erfüllten Bereitschaft genügen und verhindert die Handlung. Aber es kann doch geschehen, daß ein sündiger Mensch ungewiß ist, ob er nicht zur Sühne Gott den, vielleicht auch sehr geliebten, Sohn zu opfern habe (Micha 5): der Moloch ahmt die Stimme Gottes nach, wogegen Gott selber (ebenda) von diesem Menschen – nicht von Abraham, seinem Auserwählten, wohl aber von dir und mir nichts weiter fordert als Gerechtigkeit und Liebe, und daß dieser Mensch mit ihm, mit Gott, »bescheiden umgehe«, mit anderen Worten, nicht viel mehr als das fundamental Ethische.
Wo es um die »Suspension« des Ethischen geht, ist also die Frage der Fragen, die den Vortritt vor jeder anderen hat: ob du wirklich vom Absoluten angesprochen wirst oder von einem seiner Affen. Wobei zu beachten ist, daß, wie die Bibel zu berichten weiß, die göttliche Stimme, die zum Einzelnen spricht, die Stimme eines »verschwebenden Schweigens« ist (I Könige 19), die Stimmen der Moloche hingegen zumeist ein großmächtiges Gebrüll vorziehen. Dennoch scheint es, insbesondere in unserem Zeitalter, schwer zu sein, sie von jener zu unterscheiden.
Es ist ein Zeitalter, in dem die Suspension des Ethischen in einer karikaturhaften Gestalt die Menschenwelt erfüllt. Wohl haben sich immer schon die Affen des Absoluten auf Erden getummelt, immer und immer wieder sind Menschen aus dem Dunkel angeheischt worden, ihren Isaak herzugeben, und hier gilt es: »Was er unter Isaak zu verstehen hat, kann der Einzelne nur mit sich selbst für sich selbst ausmachen.« Aber in all jenen Zeiten gab es auch, den Herzkammern der Menschen eingetan, Bilder des Absoluten, teils blasse, teils krasse, allesamt untreu und doch richtig, vergänglich wie ein Traumbild und doch in der Ewigkeit beglaubigt. Wie unzulänglich auch diese Präsenz war, dennoch brauchte einer, sofern er sie konkret im Sinne trug, nur an sie zu appellieren, um dem Trug der Stimmen nicht erliegen zu müssen. Das ist anders geworden, seit, nach Nietzsches Wort, »Gott tot ist«, das heißt, realistisch gesprochen, seit die Bildkraft des menschlichen Herzens im Absterben ist, – seit die geistige Pupille die Erscheinung des Absoluten nicht mehr auffängt. Die falschen Absoluta gebieten über die Seele, die nicht mehr fähig ist, sie durch das Bild des wahren Absoluten in die Flucht zu schlagen. Überall, über die ganze Fläche der Menschenwelt hin, im Osten und im Westen, von Links und von Rechts, durchstoßen sie unbehindert die Schicht des Ethischen und fordern von dir »das Opfer«. Immer wieder, wenn ich wohlbeschaffene junge Seelen befrage: »Warum gibst du dein Teuerstes, die Echtheit der Person hin?«, wird mir erwidert: »Dies eben, dieses schwerste Opfer ist es, das gebracht werden muß, damit …« – gleichviel, »damit die Gleichheit komme« oder »damit die Freiheit komme« oder wie immer. Und sie bringen das Opfer zuverlässig: im Bereich des Moloch lügen die Aufrichtigen und foltern die Barmherzigen. Und meinen wirklich und wahrhaftig, der Brudermord werde der Brüderlichkeit den Weg bereiten! Es scheint vor dem übelsten aller Götzendienste kein Entrinnen zu geben.
Es gibt vor ihm kein Entrinnen, bis das neue Gewissen des Menschen erstanden ist, das ihn aufruft, sich mit der Urgewalt seiner Seele der Verwechslung von Bedingtem mit dem Unbedingten zu erwehren, den Schein zu durchstoßen und zu überführen. Je und je mit dem unbestechlich prüfenden Blick in das falsche Absolute eindringen, bis man dessen Grenzhaftigkeit entdeckt hat, – vielleicht gibt es heute keinen anderen Weg mehr, um jene Kräfte der Pupille wiederzuerwecken, die die nie verschwindende Erscheinung des Absoluten auffängt.
Quelle: Martin Buber, Werke, Bd. 1: Schriften zur Philosophie, Heidelberg: Lambert Schneider, 1962, S. 589-593.
[1] Auch sie selber äußerte einmal, viel später, er habe sie Gott geopfert.