Hermann Diem, Restauration oder Neuanfang in der Evangelischen Kirche? (1946): „Nur in der Einzelgemeinde kann der Anspruch des Evangeliums an alle Welt verantwortlich geltend gemacht werden, nur hier kann dem einzelnen Sünder konkret und persönlich die Vergebung seiner Sünden verkündigt und nur hier kann er für die Missachtung des Evangeliums verantwortlich gemacht werden. Nur hier kann sich das Geschehen der Verkündigung konkret ereig­nen und die Wahrheit und Kraft des Evangeliums sich bewähren.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte Hermann Diem, Pfarrer in Ebersbach/Fils, 1946 die Schrift „Restauration oder Neuanfang in der Evangelischen Kirche?“, die mit dem Entwurf einer Kirchenordnung (kommentiert von Paul Schempp) auf eine umfassende Reform der Evangelischen Landeskirche in Württemberg zielte:

HERMANN DIEM

RESTAURATION ODER NEUANFANG IN DER EVANGELISCHEN KIRCHE?

ZWEITE AUFLAGE

STUTTGART 1947

FRANZ MITTELBACH VERLAG

Hermann Diem, geb. am 2. 2.1900 in Stuttgart.

6.—10. Tausend 1947

Herausgegeben unter Lizenz Nr. US-W-21 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung

Druck der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart

Printed in Germany

I n h a l t s – Ü b e r s i c h t

Vorwort zur zweiten Auflage………………………………… ….                         6

Vortvort zur ersten Auflage………………………………….. ….                         7

Rückblick und Ausblick

Die Kirche im Wandel der politischen Verhältnisse …                                11

Die Frage nach der Autorität der Kirche……………………                              14

Die verlorene Vollmacht des Predigtamtes………………..                              16

Die Aufhebung des Unterschiedes von Kirche und Sekten                          18

Die Flucht in die unsichtbare Kirche…………………………                              20

Die Auslieferung der sichtbaren Kirche an das moderne Kirchenrecht       22

Ein peinliches Zwischenspiel…………………………………..                              26

Der Aufbruch der Bekennenden Kirche…………………….                              28

Die Rolle der lutherischen Landeskirchen………………….                              31

Das Ergebnis des Kirchenkampfes……………………………                              33

Die kirchliche Bürokratie…………………………………..                                    35

Das Versäumnis von 1918 und seine Folgen………………                              37

Die Klerikalisierung der Gesellschaft………………………..                              39

Die Sicherung des kirchlichen Bestandes………………..                                 41

Der falsche Offentlichkeitsanspruch der Kirche………….                              44

Das Schicksal der Winkelkirche……………………………….                              46

Der Mangel an Glauben…………………………………………..                              48

Die Entmündigung der Gemeinden…………………………..                              52

Der neue Weg………………………………………………………..                              55

Entwurf einer Ordnung für die Evangelische Landeskirche Württembergs

Die Voraussetzung………………………………………………….                              58

Die Bekenntnisgrundlage…………………………………………                              61

Einzelgemeinde und Gesamtkirche…………………………..                              65

Das Kirchenregiment………………………………………………                              68

Grundlinien für die konkrete Gestaltung des Kirchenregiments                  73

Das kirchliche Vermögen……………………………………….. ….                         75

Die Aufbringung der Gelder…………………………………….                              77

Staat und Kirche…………………………………………………….                              78

Richtlinien für eine kirchliche Wahlordnung…………                             81

Nachwort: Kirchenordnung und Demokratie………..                             87

Vorwort zur 2. Auflage

Die Schrift geht noch einmal unverändert hinaus, da die Dis­kussion, zu der sie beitragen wollte, erst langsam in Fluß kommt und noch kaum zu greifbaren Ergebnissen geführt hat. Nicht mehr zutreffend könnte höchstens die noch offene Frage im Titel der Schrift sein, da man sich weithin für die Restau­ration schon entschieden zu haben scheint. Aber es ist zum Glück ohne unser Zutun und gegen die uns anfechtende Resi­gnation dafür gesorgt, daß diese Frage immer offen bleiben wird.

Wenn ich recht sehe, hat der historische Rückblick im ersten Teil der Schrift doch nicht so viel Unbehagen verursacht, wie ich befürchtet hatte, sondern sogar da und dort entspannend auf die innerkirchliche Situation gewirkt. Erfreulicherweise scheint man auch allmählich einzusehen, daß jenes seltsame Mißtrauen der Kirchenleitungen gegen die Gemeinden nicht länger ein öffentliches Reden über diese Fragen verhindern darf.

Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, daß der den ein­zelnen Abschnitten der Kirchen­ordnung (S. 58—80) jeweils an­gefügte Kommentar, der besonders viel Beachtung und Zustim­mung gefunden hat, nicht von mir, sondern von Paul Schempp verfaßt ist.

Ebersbach/Fils, Anfang-Dezember 1946.

H. D.

Vorwort zur 1. Auflage

Das Hauptstück der vorliegenden Schrift, den Entwurf einer neuen Kirchenordnung, habe ich aus der Kriegsgefangenschaft mitgebracht. Er ist das Ergebnis einer Gemeinschaftsarbeit von Pfarrern und Kirchenältesten aus dem ganzen Reich, die sich im Lager in Livorno zusammen­fanden, unter denen besonders Kurt Scharf, der Präses der Brandenburgischen Bekenntnissynode zu nennen ist. Wir waren von der Heimat abgeschnitten und wußten nicht, in welcher Weise dort die Neuordnung der Kirche nach dem Zusammenbruch in Angriff genommen werden würde. Aber wir hatten die Erfahrungen des Kirchenkampfes hinter uns. Wir wußten, was wir dabei vertreten und im Namen des Drei­einigen Gottes bekannt haben, wofür von so Vielen gekämpft und gelitten worden ist. Wir kannten aber auch die Wider­stände aus den eigenen Reihen, die so oft das Handeln der Be­kennenden Kirche gelähmt und fragwürdig gemacht hatten, und mußten daher nach dem Verschwinden des nationalsozialisti­schen Drucks eine kirchliche Restauration befürchten. Neben so vielen tröstlichen Erfahrungen aus der Zeit, da Gott selbst sicht­bar und greifbar seine Kirche gegen den Ansturm seiner Feinde und gegen unser eigenes Versagen erhielt, hat auch diese Sorge unsere Arbeit bestimmt.

Nach meiner Rückkehr in die Heimat lag das Ergebnis der Kirchenkonferenz in Treysa vor, die als Neuanfang verheißungs­voll erscheint, weil es jetzt endlich gelungen war, die Kirchen, die bisher bei den staatlichen Konsistorien geblieben waren, mit den Kreisen der Bekennenden Kirche unter einer Leitung zusammenzuschließen, wodurch freilich auch die alte Gefahr aufs neue akut werden kann. Es ist bisher über diesen Anfang hin­aus noch nicht viel geschehen, so daß noch alle Möglichkeiten offen sind. Ich hielt es darum für angebracht, jetzt unseren Ent­wurf als Beitrag zu der nun allenthalben einsetzenden Diskus­sion um die rechte Neuordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland herauszugeben.

Da die Kirche nicht in der Abstraktion gebaut werden kann und ihre Ordnung einen konkreten Boden haben muß, habe ich dem Entwurf die Verhältnisse in der Evangelischen Landes­kirche Württembergs zugrunde gelegt. Für andere Landeskirchen wären manche Bestimmungen entsprechend abzuwandeln. Er wurde im Ausschuß der „Kirchlich-theologischen Sozietät in Württemberg” durchberaten und ergänzt. Paul Schempp schrieb einen Kommentar dazu, der den einzelnen Abschnitten jeweils im Kleindruck angefügt ist. Zur Einführung in die konkrete Problematik schicke ich einen „Rückblick und Ausblick” vor­aus. Aus meiner Mitarbeit an der Neugestaltung der Wahl­bestimmungen in der Württembergischen Landeskirche ergaben sich die „Richtlinien für eine kirchliche Wahlordnung“. Das Nachwort über „Kirchenordnung und Demokratie” schien mir um verschiedener, heute in der Luft liegender Mißverständnisse wil­len notwendig zu sein.

Wegen der Konkretheit der Ausführungen war es geboten, zur Illustration auch solche Dinge anzuführen, die wir alle heute lieber nicht mehr wahrhaben möchten. Es ging leider nicht anders, wenn ich mich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, Be­hauptungen aufzustellen, die ich nicht begründen könne. Das durfte ich mir um der Dringlichkeit der Sache willen nicht lei- sten. Es könnte aber dadurch der Eindruck entstehen, daß die Verhältnisse gerade in der Württembergischen Landeskirche, auf die ich naturgemäß vor allem abhebe, bedenklicher gewesen wären und seien als in anderen Landeskirchen.

Das wäre ein Irrtum. Es ließen sich aus allen anderen Landes­kirchen, und gerade aus denen, die auf ihre Gebundenheit an das lutherische Bekenntnis besonders stolz sind, Beispiele an­führen, die mindestens nicht weniger belastend wären. Dagegen könnte man von ihnen nicht, wie von der Württembergischen Landeskirche zu ihrem Lob sagen, daß sie ihre Leitung einem Mann anvertraut hatten wie Herrn Landesbischof D. Wurm, der durch alle Schwierigkeiten einer traditionsgebundenen und traditionsbelasteten Kirchenpolitik hindurch das Ziel der Be­kennenden Kirche trotz aller Irrungen und Wirrungen nie aus den Augen verlor. Ich hoffe, daß man in dieser Feststellung nicht eine Äußerung des uns Schwaben so gerne nachgesagten Lokalpatriotismus sehen wird. Das Handeln und die Persön­lichkeit des im Inland und Ausland gleicherweise verehrten Vor­sitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland ist nicht nur für uns in der Württembergischen Landeskirche eines der hoffnungsvollen Zeichen dafür, daß wir uns nicht umsonst um die Neuordnung der Kirche bemühen werden.

Während der Drucklegung der Schrift bekam ich Karl Barths Vortrag: „Die Evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zu­sammenbruch des Dritten Reiches“ und war überrascht und er­freut über die weitgehende Übereinstimmung in der Sicht der uns heute gestellten Aufgaben und Probleme. Ich habe mich während der äußeren Trennung der letzten zehn Jahre manch­mal besorgt gefragt, wie wir uns einmal gerade mit ihm wieder verständigen werden, ohne dessen entscheidende theologische Hilfe der deutsche Kirchenkampf nicht zu denken ist. Es ging nicht nur darum, wie wir mit unserem Handeln vor dem Urteil des verehrten Lehrers und Freundes bestehen können; vielmehr war die Frage, ob der gemeinsame theologische Ansatz sich in dieser schweren Belastung so bewähren würde, daß unsere Ge­meinschaft in der einen Kirche fesu Christi sichtbar bliebe. Diese Sorge brauchen wir heute nicht mehr zu haben. Und wenn die evangelische Christenheit in Deutschland heute vor allem dafür dankbar wäre, daß die Grenzen zwischen den Völkern diese Gemeinschaft nicht aufheben konnten, was doch wahrhaftig nicht selbstverständlich ist, dann müßte endlich auch jenes unwürdige Verhalten aufhören, das sich zwar von Karl Barth allen Freun­desdienst für unser Volk gern gefallen läßt, sich zugleich aber andauernd gegen ihn mit der Begründung wehrt, daß er eben von jenseits der Grenze rede. Ich freue mich jedenfalls sehr, zur Frage der Neuordnung unserer Kirche diesseits der Grenze etwa ebenso geredet zu haben.

Ebersbach/Fils, 2. Februar 1946.

Hermann Diem

Rückblick und Ausblick

Die Kirche im Wandel der politischen Verhältnisse

Es scheint das Schicksal der evangelischen Kirche zu sein, daß sie durch jede politische Umwälzung gezwungen ist, auch ihre eigene Ordnung zu ändern. Die Erhebung Württembergs zum Königreich im Jahre 1806, verbunden mit der Eingliederung großer katholischer Gebietsteile bedeutete für die evangelische Landeskirche das Ende ihrer seit der Reformation innegehabten Rechtsstellung als einer Größe eigenen Rechtes. Im nunmehr konfessionell gemischten Territorium wird sie eine „Körper­schaft des öffentlichen Rechtes“. Die Revolution von 1918 be­seitigte das „landesherrliche Kirchenregiment“ und die „Staats­kirche“. In der Weimarer Verfassung erscheint die evangelische Kirche als eine „Religionsgesellschaft“ unter anderen. Und nach 1933 schlossen sich die einzelnen Landeskirchen unter staat­lichem Druck zu der Dachorganisation der „Deutschen Evange­lischen Kirche“ zusammen, mit deren Hilfe der Staat allmählich die ganze Rechtsordnung der Landeskirchen aushöhlte und diese mit seiner Weltanschauung gleichzuschalten versuchte.

Soweit es sich bei all diesen Wandlungen um eine Neuord­nung des Verhältnisses der Kirche zum Staat in seiner jeweiligen Form handelt, konnten sie selbstverständlich nicht ausbleiben. Es ist Sache des Staates, unter welcher Rechtsform er das Da­sein der Kirche im öffentlichen Leben regeln will, und darum werden die rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche durch jeden Wechsel in der staatlichen Ordnung mitbetroffen.

Aber jene Wandlungen betrafen keineswegs nur die Beziehun­gen der Kirche zum Staat und seinem Recht, sondern sie griffen jeweils auch in die innere Ordnung der Kirche selbst ein. Der königliche Absolutismus, der 1806 der Kirche ihre bisherige Rechtsform nahm und das Kirchengut für den Staat einzog, herrschte auch in der Kirche selbst, wofür der nunmehr von ihren Dienern wie von den Beamten verlangte „Huldigungs­eid“ nur das äußere Anzeichen war. Als die Weimarer Verfas­sung proklamierte: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“, übernahm die Kirche diesen Grundsatz auch für die „Kirchen­gewalt“ des „Kirchenvolkes“.

„Die Gesamtheit der der evangelischen Landeskirche in Württem­berg angehörenden Kirchengenossen übt ihre Befugnisse, soweit sie die Landeskirche betreffen, durch den Landeskirchentag aus. Dieser Gesamtheit, dem Kirchenvolk, steht nach dem Wegfall des Königs dem Grundsatz nach die Kirchengewalt zu, dem Recht nach bestimmt über sie die bisherige und die neue Verfassung.“
Kommentar zu § 4 des Kirchenverfassungsgesetzes vom 24.6.1920.

Nach 1933 stellte sich die Kirche von der Demokratie auf das „Führerprinzip“ auch in der innerkirchlichen Ordnung und Praxis um.

„Die Reichskirchenverfassung vom 11. Juli 1933 sieht vor, daß die DEK für die Verfassungen der Landeskirchen Richtlinien geben soll, und auf Grund dieser Richtlinien sodann die Verfassungen der Landes­kirchen ausgebaut werden sollen. Wenn dies im jetzigen Zeitpunkt nicht möglich sein sollte, könnte zunächst eine vorläufige Regelung geschaffen werden, die die wesentlichsten Verfassungsfragen der Lan­deskirchen, insbesondere die Zusammensetzung und Befugnisse der Landessynode, die Stellung der Landesbischöfe und die Anwendung des Führergedankens vorläufig ordnet, bis später der verfassungs­mäßige Ausbau vollendet werden kann …“
Aus einer „Erklärung des Landeskirchentags“ mit Zustimmung des Landesbischofs. Erlaß des OKR Nr. A 4874 vom 28. 5. 1934.

Es war eine sehr gefährliche Wandlungsfähigkeit, welche die Kirche hier an den Tag legte, indem sie ihre Ordnung und mit dieser die „Kirchengewalt“ der jeweiligen Staatsform anpaßte. Die Kirche war sich dessen aber kaum bewußt. Man betrachtete diese Anpassungsfähigkeit sogar als einen besonderen Vorzug der evangelischen Kirche, etwa im Unterschied von der römisch- katholischen Kirche, weil sie es ermöglichte, jeweils mit der Zeit zu gehen. Es bedurfte erst des Einbruches der National­sozialisten in die Kirche, um offenbar zu machen, daß hier etwas Entscheidendes nicht stimmte.

Wie im Staat, so kam der Nationalsozialismus durch die Kirchenpartei der „Deutschen Christen“ auch in der Kirche auf „legale“ Weise zur Macht. Er benützte die nach 1918 demokra­tisierten Kirchenverfassungen, um durch allgemeine Wahlen in den Kirchenparlamenten die Herrschaft zu erlangen. Auch im übrigen verlief die Entwicklung in der Kirche parallel mit derjeni­gen im Staat. Die Wahlen waren hier so wenig frei wie dort.

In Württemberg ging man dabei besonders weit: Die Kirchenleitung einigte sich vor der Wahl mit den „Deutschen Christen“ über die Verteilung der Sitze und gestand diesen die Mehrheit zu, so daß das nach der Verfassung souveräne „Kirchenvolk“ statt zu wählen nur noch Ja zu sagen hatte.

Der von der Kirche herausgestellte Reichsbischof von Bodelschwingh wurde auf Wunsch des Staates durch den „Vertrauens­mann des Führers“ Ludwig Müller ersetzt — wofür sich gerade die württembergische Kirchenleitung besonders stark einsetzte. Und als die „Deutschen Christen“ die Macht und ihren Reichs­bischof hatten, wurde nach dem „Führerprinzip“ regiert. Erst als es soweit war und das neue Kirchenregiment nunmehr in tumultuarischer Weise sich in der Kirche betätigte, kam die große Ernüchterung. Aber nun war es zu spät.

Die Frage nach der Autorität der Kirche

Mit Hilfe dessen, was bisher Recht und Ordnung in der Kirche gewesen war, konnte man die eingedrungene Fremdherr­schaft nicht mehr brechen. Sie hatte das Recht auf ihrer Seite, und wo das zweifelhaft war, konnte dieses jederzeit in der vom Staat gewünschten Weise „weiter­entwickelt“ werden. Da erst begann in kirchlichen Kreisen die Besinnung darauf, was eigent­lich in der evangelischen Kirche als Recht und Ordnung zu gel­ten hätte. Man begann mit einigem Neid auf die römisch-katholische Kirche zu blicken, deren Ordnung in der Lehre der Kirche unantastbar verankert ist, und der es darum ein Leich­tes war, den auch sie bedrohenden Einbruch fremder Mächte in den Raum der Kirche abzuwehren. Was bisher als großer Vor­zug der evangelischen Kirche betrachtet worden war, erschien nun als ihr schwerer Nachteil, und man begann zu fragen, ob es nicht auch in der evangelischen Kirche eine Autorität gibt, die dem Zugriff der außerkirchlichen Welt entzogen ist und kraft ihrer eigenen geistlichen Vollmacht Recht und Ordnung setzen kann.

Auf diese Fragen hätte man im Neuen Testament leicht eine Antwort finden können. Die „Kirchengewalt“ steht dort weder den Gliedern der Kirche, dem „Kirchenvolk“ zu, noch irgend­einem „Führer“ in der Kirche, sondern allein Jesus Christus, dem Herrn der Kirche. Dieser regiert die Kirche durch sein Wort, zu dessen Verkündigung er dem Predigtamt die Voll­macht übertragen hat, über die er selbst verfügt. So wenig wie die Kirche einfach eine menschliche Gesellschaft ist, so wenig ist ihre Verkündigung einfach eine menschliche Rede. Durch sie begegnet Christus vielmehr selbst dem Hörer: zu seinem Heil, wenn er dem Wort glaubt, zu seinem Unheil, wenn er es von sich weist. Zu dieser Verkündigung des Wortes in seiner für die ewige Seligkeit entscheidenden Bedeutung hat Christus seiner Gemeinde neben dem Predigtamt auch die „Schlüssel des Himmelreiches“ gegeben, d. h. die Vollmacht, dem buß­fertigen Sünder seine Sünden zu vergeben, den Unbußfertigen aber die Vergebung zu versagen und sie zu ihrem eigenen Heil in Zucht zu nehmen. Diese geistliche Gewalt des Bindens und Lösens ist nicht ein menschliches Richten, sondern sie vollzieht nur das, was das richtende Wort Gottes selbst im Hörer ge­wirkt hat.

Auf diese Vollmacht des Predigt- und Schlüsselamtes ist alles Recht und alle Ordnung der Kirche aufgebaut. Es kann in der Kirche nur das geltendes Recht sein, was dieser Verkündigung des Evangeliums dient. Die Kirche gibt sich selbst bestimmte Ordnungen, durch welche für die rechte Ausübung des Predigt­amtes gesorgt und falsche Lehre ausgeschieden wird. Sie nimmt den unbußfertigen Sünder in Zucht, um dem Mißbrauch des Evangeliums zu wehren. Sie ruft zum Werk der Diakonie an den Bedürftigen und erhält von ihren Gliedern als ein freiwil­liges Opfer des Glaubens die Mittel, welche sie zur Ausübung ihres Dienstes braucht. Das sind die unabdingbaren Grundlinien aller kirchlichen Rechtsordnung. Sie gelten, gleichgültig, ob sie der Staat anerkennt oder nicht. Durch sie ist die Kirche ein rechtlich geordneter öffentlicher Körper eigener Art, der nicht nur für seine eigenen Glieder da ist, sondern aller Welt ver­kündigt, daß Christus ihr Herr geworden ist. Damit ist die Kirche allen Zugriffen außerkirchlicher Mächte, aber auch ihrer eigenen Glieder, sofern diese sich irreleiten lassen, entzogen.

Die verlorene Vollmacht des Predigtamtes

Auf diese neutestamentliche Grundlage hätte sich die evan­gelische Kirche besinnen müssen, als sie durch den Einbruch der Fremdherrschaft lebensgefährlich bedroht war. Sie hat das nur teilweise und nur zögernd getan, weil sie dabei eine sehr starke Tradition gegen sich hatte.

Im Laufe einer mit dem 19. Jahrhundert zu einem gewissen Abschluß gelangten Entwicklung hatte sich in der evangelischen Kirche eine Meinung durchgesetzt, der jedes Geltendmachen kirchlicher Autorität als Rückfall in den Katholizismus erschien, seien es Entscheidungen in Fragen der kirchlichen Lehre und Ver­kündigung, sei es die Ausübung des Schlüsselamtes in Hand­habung der kirchlichen Zucht. Wohl war in den Verfassungen fast aller Landeskirchen festgelegt, daß die Heilige Schrift „unantastbare Grundlage“ von Lehre und Verkündigung sei. aber praktisch konnte auf evangelischen Kanzeln annähernd Alles gepredigt werden, wenn man nicht gerade die in die­ser Beziehung sehr weitherzigen Gemeinden dadurch beun­ruhigte.

Die theologischen Fakultäten, welche die Pfarrer ausbildeten, hatten keine Lehrbindung mehr; daß man Theologie studierte, um nachher über die Bibel zu predigen, wurde nur sehr neben­bei bedacht. Die Bekenntnisse der Kirche waren Gegenstand der vergleichenden Konfessionskunde; und daß die Studenten spä­ter auf bestimmte Bekenntnisse verpflichtet werden sollten, interessierte eigentlich niemand. Zwar war nach dem ersten Weltkrieg innerhalb der Theologie eine Gegenbewegung gegen diese Entwicklung entstanden, welche wieder zur Besinnung auf die kirchliche Funktion der Theologie führte. Aber diese Be­wegung hatte sich gegen die herrschende Schultheologie noch nicht durchsetzen können und wurde vor allem von den Kir­chenleitungen mit größtem Mißtrauen betrachtet.

Hatte die Kirche die Ausbildung ihrer Pfarrer freigegeben, so konnte sie natürlich hinterher kaum mehr eine Bindung von ihnen verlangen. Wo eine Kirchenleitung einmal in einem be­sonders krassen Fall gegen einen Pfarrer einschritt, fällte sie keine Lehrentscheidung, sondern maßregelte ihn nur wegen Ver­letzung der kirchlichen Ordnung, auf die er sich verpflichtet hatte. So wurde zum Beispiel Christoph Schrempf im Jahre 1892 aus dem Dienst der württembergischen Landeskirche entlassen, weil er sich geweigert hatte, bei der Taufe das Apostolikum zu benützen. Hinterher aber gab man den Pfarrern den Gebrauch des Apostolikums frei. Da man den Weg geistlicher Beurtei­lung und Entscheidung nicht gehen wollte und konnte, hatte man nun überhaupt keine Handhabe mehr, auch gegen die auf­fallendsten Lehrabweichungen vorzugehen.

Das kirchliche Predigtamt hatte seine Vollmacht verloren. Es war nicht mehr möglich, auf die kirchliche Verkündigung das Wort Jesu an seine Jünger anzuwenden: „Wer euch höret, der höret mich und wer euch verachtet, der verachtet mich, wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat“ (Luk. 10, 16).

Im Jahre 1935 berief sich ein württembergischer Pfarrer gegen seinen Ortsgruppenleiter, der die Offenbarung Gottes im politischen Geschehen der Zeit vertrat, auf Art. V des Augsburgischen Glaubens­bekenntnisses: „Solchen Glauben zu erlangen hat Gott das Predigt­amt eingesetzt, Evangelium und Sakrament gegeben, dadurch er als durch Mittel den Heiligen Geist gibt…“ Die Gegenfrage, ob der Nachbarpfarrer R. in G. (ein „Deutscher Christ“) das auch glaube, mußte er verneinen, worauf der Ortsgruppenleiter sagte, dann halte er diese Berufung des Pfarrers auf das Glaubensbekenntnis für dessen private Meinung, die ihn zu nichts verpflichten könne. Denn wenn die Kirche selbst glauben würde, daß ihre Verkündigung diese für die ewige Seligkeit entscheidende Bedeutung hätte, dann könnte sie ja jenen Pfarrer nicht auch predigen lassen. Was sollte der Pfarrer darauf antworten? Und als er diesen Fall wiederholt seiner Kirchen­leitung vorlegte, die sich selbst zur „Bekennenden Kirche“ reclínete, bekam er nie eine Antwort.

Die evangelische Kirche hatte den Anspruch ihres Predigt­amtes längst preisgegeben, und in der Tat ihre Verkündigung und Lehre zu einer Angelegenheit der privaten Frömmigkeit ihrer Pfarrer und Anhänger gemacht. Das zeigte sich insbeson­dere darin, wie sie sich mit der unter diesen Umständen unauf­haltsamen inneren Auflösung und der daraus folgenden Zer­splitterung der Kirche in Sekten und Freikirchen abfand.

Als im Jahre 1925 im württembergischen Landeskirchentag der Antrag gestellt wurde, gewissen Kreisen in der Landeskirche zu ge­statten, bei Sonderveranstaltungen das Abendmahl durch einen Mann ihrer Richtung spenden zu lassen unter Umgehung des Ortspfarrers, wiesen zwar mehrere Redner darauf hin, daß damit die Auflösung der Vollmacht des Predigtamtes vom Wort auch vollends auf das Sakrament ausgedehnt werde, stimmten aber schließlich dodr zu, weil diese Entwicklung ja doch nicht aufzuhalten sei und man damit nur nachträglich erlaube, was ohne Erlaubnis längst geschah.

Die Aufhebung des Unterschiedes von Kirche und Sekten

Wo sektiererische Kreise sich zu selbständigen Gemeinschaften zusammenschlossen und schließlich aus der Kirche hinausdrängten, konnte auch diese Entwicklung nicht mehr aufgehalten werden. Die Kirche hatte ihr ja nichts mehr entgegenzustellen als die Be­rufung auf die Tradition und den Appell an die Pietät. Verfing das nicht mehr, so war sie wehrlos und konnte nur noch abwar­ten, bis eine solche abgesplitterte Gemeinschaft vom Staat auch als „Religionsgesellschaft des öffentlichen Rechts“ anerkannt wurde, um dann mit ihr einen Vertrag auf Gegenseitigkeit zu schließen.

„Am 12. Dezember 1928 ist zwischen der Ev. Landeskirche und dem Landesverband der Ev. Gemeinschaft in Württemberg eine Ver­einbarung getroffen worden, welche das beiderseitige Verhältnis schiedlich-friedlich zu regeln versucht.“
Amtsblatt der Ev. Landeskirche in Württemberg Bd. XXIII, Beiblatt S. 35.

In § 5 dieser Vereinbarung heißt es: „Unbeschadet des beidersei­tigen Rechtes, für die eigene Sache in den Grenzen christlicher Wahr­haftigkeit und Duldsamkeit einzutreten, werden es sich beide Teile angelegen sein lassen, Äußerungen und Handlungen hintanzuhalten, die die andere Religionsgesellschaft herabsetzen und verletzen; sie werden vielmehr ein ehrliches Nebeneinander anstreben und gemein­same christliche Interessen fördern.“
(XXIII, 364.)

Mit der „Bischöflichen Methodistenkirche“ führten die entspre­chenden Verhandlungen zu keinem Erfolg. Die Landeskirche spricht daher die Erwartung aus, „daß ihre Glieder nicht nur über die neue Rechtstellung der Bischöflichen Methodistenkirche Klarheit gewinnen, sondern auch ihrer, angestammten Kirche mit ihrem reichen Vätererbe und ihrer bewährten Eigenart die Treue halten.“
(Beiblatt S. 11.)

Die Landeskirche hat sich damit selbst auf die Ebene der Sekte begeben. Nachdem die Vollmacht des Predigtamtes preis­gegeben war, konnte keine geistliche Kirchenzucht in Lehre und Leben mehr geübt werden, die allein durch das Geltendmachen des Wortes in seiner Heilsbedeutung geschehen kann. Wer sollte sich durch das Wort der Verkündigung in Predigt und Seelsorge noch richten und strafen lassen, wenn man nur noch eine private Meinungsäußerung des Pfarrers darin sehen konnte? Wer sollte es noch ernst nehmen, wenn ihm die an diese Verkündigung ge­bundene Verheißung abgesprochen wurde? Außerdem geschah dies nicht einmal, auch nicht gegenüber den aus der Kirche Hin­ausstrebenden.

Alles in dieser Kirche ist unverbindlich geworden. Das ihr ge­gebene Schlüsselamt ist seit langem außer Gebrauch gekommen und den Gemeinden kaum mehr dem Namen nach bekannt. Je­der Anspruch des Evangeliums ist aufgegeben. Statt dessen wer­den sorgsam alle Wünsche und Bedürfnisse der Kirchenglieder be­friedigt, um deren Unzufriedenheit und eventuelle Abwande­rung zu verhindern.

Die Flucht in die unsichtbare Kirche

So weit war die innerkirchliche Auflösung und Unordnung schon vorgeschritten, als der Einbruch der nationalsozialistischen Fremdherrschaft die evangelische Kirche vor die Frage nach ihrer Autorität und ihrer Ordnung stellte. Es erschien unter diesen Umständen kaum möglich, auf die neutestamentliche Vollmacht des Predigt- und Schlüsselamtes zurückzugehen und von da aus der Kirche eine eigene geistlich begründete Ordnung zu geben. Man hatte sich nicht nur damit abgefunden, daß an die empiri­schen evangelischen Landeskirchen die Maßstäbe des Neuen Testamentes gar nicht mehr angelegt werden könnten, sondern hielt diesen Zustand schon für so selbstverständlich, daß man jeden derartigen Versuch geradezu als schwärmerische Übertreibung ablehnte.

Aber was sollte die Kirche dann sein, wenn sie nicht mehr die Kirche des Neuen Testamentes, die Kirche des dritten Glaubens­artikels sein wollte? Auf diese Frage war von den maßgebenden Vertretern der Kirche nie eine klare Antwort zu bekommen. Wenn man auf eine solche Antwort drängte, wurde man auf die Unterscheidung zwischen „unsichtbarer“ und „sichtbarer“ Kirche verwiesen, der Kirche der wirklich Gläubigen und von Gott zum Heil Erwählten und dem weiteren Kreise der durch die Taufe zum Heil berufenen Glieder der empirischen volkskirchlichen Ge­meinden. Die Landeskirche habe es nur mit diesem weiteren Kreis zu tun, und ihre Aufgabe sei, den äußeren Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen durch die Verkündigung des Evangeliums die wirkliche Kirche der Gläubigen sich sammeln könne. Da aber nie­mand wissen könne, wer zu der wahren Kirche gehört, seien die Bestimmungen des Neuen Testaments auf keine empirische Kirche anwendbar.

Ehe wir zeigen, welche praktischen Folgerungen aus dieser Unterscheidung gezogen wurden, stellen wir fest, daß diese sich im Neuen Testament nicht findet. Es besteht dort gar keine Ver­anlassung, diese Unterscheidung vorzunehmen. Wo von der Kirche die Rede ist, da ist immer diese empirische, sichtbare Ver­sammlung gemeint, die sich durch die Verkündigung des Evan­geliums in Wort und Sakrament zusammenfindet. Es ist gar nicht einzusehen, welches Interesse bestehen sollte, noch von einer da­hinter stehenden „unsichtbaren“ Kirche zu reden und sich um eine solche zu kümmern. In dieser empirischen Kirche spielen sich alle Entscheidungen ab: hier wird das für die ewige Seligkeit entschei­dende Evangelium verkündigt; hier wird dafür gesorgt, daß dieses Evangelium nicht verfälscht wird; hier bedeutet die Trennung von der Kirche oder der Ausschluß aus ihr, daß dem Getrenn­ten keine Verheißung des Heils mehr gegeben werden kann, auch wenn man sich bewußt ist, daß Gott — aber nicht der das Angebot Gottes verachtende Mensch! — an die Grenzen der Kirche nicht gebunden ist; hier weiß man sich beauftragt, zu dieser Kirche und ihrem Predigtamt als dem alleinigen Gnaden­mittel zu rufen. Wie sollte sich diese Bedeutung der Kirche da­durch ändern, daß die Zahl ihrer Glieder größer geworden ist? Oder wie sollte die Verbindlichkeit ihres Redens und Handelns dadurch aufgehoben worden sein, daß mit der wachsenden Zahl ihrer Glieder die auch in den neutestamentlichen Gemeinden ge­wiß nicht geringe Zahl derer zugenommen hat, die sich dieser Verbindlichkeit zu entziehen suchen?

Die genannte Unterscheidung findet sich deshalb auch nirgends in den Bekenntnisschriften der Reformation. Man ist dort, in der Abwehr von Katholizismus und Schwärmertum nur darum bemüht, daß die Grenzen der sichtbaren Kirche nicht gleichge­setzt werden mit dem vermeintlich sichtbaren Personenkreis der wahrhaft Gläubigen — das wäre Schwärmertum! — sondern sie dort zu ziehen, wo die reine Verkündigung in Wort und Sakra­ment sich von der Irrlehre scheidet. Es war erst der nachrefor­matorischen Zeit vorbehalten, diese Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche einzuführen, als man ange­sichts der praktisch schwindenden Verbindlichkeit des kirch­lichen Handelns diese Entwicklung theoretisch zu rechtfertigen suchte. Und man wird darum nicht umhin können zu sagen, daß die spätere Berufung auf diese Unterscheidung entweder theo­logischer Unwissenheit entsprang, oder aber ebenfalls dem Ver­such, aus der Not eine Tugend zu machen.

Die Auslieferung der sichtbaren Kirche an das moderne Kirchenrecht

Das Selbstverständnis der Kirche und ihre Praxis lebt jeden­falls seit dem 19. Jahrhundert von dieser Unterscheidung zwi­schen „sichtbarer“ und „unsichtbarer“ Kirche. Die Aufgabe des Kirchenregiments wurde darum mehr und mehr nur noch darin gesehen, diese äußere Rahmenkirche rechtlich zu ordnen und zu verwalten. Der Kirchenrechtler Rudolf S o h m hatte ihr dazu das Stichwort und das gute Gewissen gegeben mit seiner berühmt gewordenen These, daß es ein evangelisches Kirchenrecht nicht gäbe. Man verzichtete also darauf, jene innere „Geistkirche“ durch die rechtliche Ordnung der Kirche zu erfassen und be­schränkte sich darauf, das Dasein der sichtbaren, äußeren „Rechts­kirche“ verfassungsmäßig zu regeln und sicherzustellen.

Das erleichterte die Verwaltung und das Regiment der Kirche insofern sehr, als man den unsicheren und unfaßbaren Faktor des Glaubens ihrer Glieder nicht in Rechnung zu stellen brauchte. Die modernen Kirchenverfassungen sehen deshalb auch völlig davon ab, daß sie es mit Christen zu tun haben, sowohl bei den Pfarrern als bei den Gemeindegliedern. Natürlich ist es wün­schenswert, daß diese Christen sind, und der Zweck der durch diese Verfassung rechtlich geordneten Gemeinschaft ist auch die Pflege des christlichen Glaubens, aber die Glieder werden vom Kirchenrecht nicht als solche behandelt. Die Kirche wird viel­mehr aufgefaßt als eine Genossenschaft, die entstanden ist durch den freien Zusammenschluß ihrer Glieder zum Zweck der ge­meinsamen Religionsausübung, ebenso wie andere Genossen­schaften mit ihren anderen Zwecken. Der Staat hat der Kirche das Körperschaftsrecht verliehen. Da­durch hat sie die Befugnis zur autonomen Rechtsbildung, kann ihre Angelegenheiten selb­ständig ordnen und verwalten und bekommt dazu vom Staat obrigkeitliche Gewalt. Insofern sind die einzelnen kirchlichen Ordnungen zwar von der Kirche selber und nicht vom Staat ge­setzt. Aber ihren rechtlich verbindlichen Charakter empfangen sie durch das staatliche Recht. So ist alles Kirchenrecht heute abgeleitetes Staatsrecht.

Der rein weltliche Charakter dieses Kirchenrechts zeigt sich darin, daß die kirchliche Rechtssetzung nach Art der staatlichen Rechtssetzung vor sich geht, und daß das Kirchenregiment nach Art staatlicher Obrigkeit gestaltet ist, in genauer Parallele zu den staatlichen Behörden. Das kirchliche Parlament hat Gesetz­gebungsgewalt nicht auf Grund irgendwelcher geistlichen Voll­macht, sondern kraft der Verfassung. Freilich ist zum Beispiel in der württembergischen Kirchenverfassung, die hier als Typus genommen werden kann, diese Verfassung als Ganzes an das Evangelium gebunden. Aber es wird nun alles darauf ankommen, ob und wie sich diese Voraussetzung innerhalb der Verfassung im einzelnen auswirken kann.

Der § 1 lautet: „Die evangelisch-lutherische Kirche in Württem­berg, getreu dem Erbe der Väter, steht auf dem in der heiligen Schrift gegebenen, in den Bekenntnissen der Reformation bezeugten Evan­gelium von Jesus Christus, unserem Herrn. Dieses Evangelium ist für die Arbeit und Gemeinschaft der Kirche unantastbare Grundlage.“

Im amtlichen Kommentar dazu heißt es aber: „Der § 1 enthält kein Bekenntnis, auch er steht unter dem Satz des § 22 Abs. 1, daß das Bekenntnis nicht Gegenstand der kirchlichen Gesetzgebung ist. Er hat keine unmittelbar rechtliche Bedeutung, auch nicht für die Zu­gehörigkeit zur Kirche oder für die Amtsaufgaben der Geistlichen. Er kann im Wege des Verfassungsgesetzes geändert werden.“

Das Bekenntnis hat also rechtlich unverbindlichen Charakter. Seine Auslegung ist ganz in die Hand der gesetzgebenden Körperschaft ge­legt, indem diese z. B. die für die Kirche rechtlich bindende Lehr- und Gottesdienstordnung festsetzt. Was diese festsetzt, ist rechtlich gültig, nicht was im Bekenntnis steht. Daher kann es im Kommentar zu § 22 KV heißen: „Die kirchlichen Gesetze und Bücher dürfen sich nicht in Widerspruch zu dem Bekenntnis setzen. Ihre formelle Gültigkeit würde übrigens dadurch nicht aufgehoben.“

Es zeigt sich, daß die „Unantastbarkeit“ des Bekenntnisses praktisch nichts anderes bedeutet, als daß es, ohne rechtliche Relevanz zu bekommen, unangetastet in der Verfassung stehen bleibt. Es hat sich leider nach 1933 in erschreckender Weise ge­zeigt, wie die Kirchen durch solche Verfassungen auf der ganzen Linie nur gehindert wurden, gegen den Einbruch der Fremdherr­schaft vorzugehen, weil die formelle Gültigkeit im Kirchenrecht alles bedeutet.

Der Charakter jedes Rechtes, d. h. die das Recht setzende letzte Instanz offenbart sich aber am eindeutigsten in der Exe­kutivgewalt, die es zu seiner Durchsetzung in Anspruch nimmt. Alle Disziplinarmaßnahmen der Kirche z. B. sind wirkungslos, wenn die Polizei ihre Durchführung nicht erzwingt. Und das ganze Kirchensteuersystem der Kirche steht und fällt mit ihrer Berechtigung, den Gerichtsvollzieher in Anspruch zu nehmen.

Die Kirche kommt dadurch in eine doppelte Verlegenheit. Sie kann erstens, wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, alle Verstöße gegen Lehre und Verkündigung nicht als solche behandeln und die betref­fenden Personen zur Rechenschaft ziehen. Das Bekenntnis hat ja „keine unmittelbar rechtliche Bedeutung …. für die Amtsaufgaben der Geistlichen“. Deshalb mußte die Kirche z. B. den „Deutschen Christen“ gegenüber einfach abwarten, bis diese sich einen Verstoß gegen die landeskirchliche Ordnung zuschulden kommen ließen, um dann disziplinarisch gegen sie vorzugehen. Waren diese klug genug, sich auf diese Weise nicht fangen zu lassen, so war man gegen sie wehrlos und sie konnten ungehindert im Pfarramt bleiben. Aber auch dann, wenn es schließlich gelang, sie mit Hilfe eines Disziplinar­verfahrens zu Fall zu bringen —man muß sich hier schon so ungeistlich ausdrücken — dann blieb immer noch die zweite Frage, wie ein solches Disziplinarurteil zu exekutieren war. Wo die Staatsgewalt auf Seiten des Verurteilten stand, mußte man wohl oder übel auf die Vollstreckung des Urteils verzichten. So konnte man es z. B. nicht erreichen, daß ein „Deutscher Christ“, wenn er seines Amtes ent­hoben wurde, auch das kirchliche Eigentum herausgab und das Pfarr­haus räumte, falls er es nicht freiwillig tat. Der einzige uns be­kannte Fall, wo in Württemberg in einem Disziplinargerichtsverfahren gegen einen Pfarrer die staatliche Vollstreckungshilfe in Anspruch ge­nommen wurde, war die Entlassung eines Bekenntnispfarrers wegen Beleidigung des Oberkirchenrats, als dieser im Jahr 1943 durch Räu­mungsklage beim Amtsgericht den Pfarrer aus Pfarrhaus und Ge­meinde entfernt hat, da dieser Pfarrer keine staatliche Unterstützung zu erwarten hatte.

Instruktiv für das hier vorliegende Problem ist der Fall eines an­deren württembergischen Bekenntnispfarrers, der im Jahr 1938 den vom Oberkirchenrat angeordneten Beamteneid auf Hitler verweigert hatte und wegen seiner öffentlichen Erklärung hiezu, in der der Ober­kirchenrat einen Angriff auf seine Ehre sah, von seinem Pfarramt suspendiert wurde. Als der Pfarrer nicht ging, weil dieser Amtsent­hebung jede rechtliche und geistliche Begründung fehlte und die Ge­meinde ihn als Pfarrer behalten wollte, ließ das Innenministerium den Oberkirchenrat wissen, daß er mit der Polizei nicht rechnen könne. Man habe dem Staat lange genug sein Eingreifen in die kirchlichen Angelegenheiten vorgeworfen; nun solle die Kirchenleitung selbst sehen, wie sie mit dem renitenten Pfarrer fertig werde. Daraufhin versuchte der Oberkirchenrat gegen den Willen der Gemeinde mit Hilfe der nationalsozialistischen Kirchengemeinderäte den Pfarrer un­möglich zu machen; er drängte den Organisten, nicht mehr im Got­tesdienst zu spielen und belobte ihn dafür, daß er während des Gottesdienstes zum großen Ärgernis der Gemeinde die Orgel verließ und versuchte so, auf alle Weise den Pfarrer zum Nachgeben zu zwin­gen. So muß eine Kirchenleitung ihre Autorität zu wahren versuchen, wenn die Polizei sich ihr versagt und sie keine geistliche Vollmacht besitzt oder in Anspruch zu nehmen wagt.

In bezug auf die Kirchensteuer ist allgemein bekannt, welchen Kampf die Kirchenleitung unter dem nationalsozialistischen Regime führte, um den Gerichtsvollzieher in Anspruch nehmen zu dürfen.

Ein peinliches Zwischenspiel

Es ist deutlich, welche Schwierigkeiten innerer und äußerer Art eine solche Kirche haben mußte, sich nach 1933 plötzlich auf das Neue Testament zu berufen. Man hat darum zunächst versucht, solange es irgend ging, sich mit den neuen Mächten zu arrangieren und war auch innerlich durchaus bereit, ihnen ent­gegen zu kommen.

„Ich habe bei mehrfachen Gelegenheiten, insbesondere auch im Landeskirchentag, keinen Zweifel darüber gelassen, daß ich die Mo­tive und Ziele der Glaubensbewegung (der Deutschen Christen), die die Kirche in so starke Erregung versetzt hat, anerkenne, daß ich es mit ihr als eine Aufgabe ansehe, Volkstum und Staat auf der einen Seite, Kirche und Verkündigung der Kirche, Arbeit der Kirche auf der anderen Seite in ein wirklich fruchtbares Verhältnis zu bringen. Ich habe auch immer anerkannt, daß es ein Verdienst ist, daß jene Männer in einer Zeit, in der noch viele abseits standen, in diesen gewaltigen Kampf um unseres Volkes Ehre und Zukunft sich hinein­gestellt haben …“
Erlaß des OKR Nr. A 10 332 vom 16. 12. 1933

Nachdem mit den „Deutschen Christen“ immer größere Schwie­rigkeiten entstanden, heißt es in einem Brief an die württembergische Gauleitung:

„Die württembergische Kirchenleitung hat nie gegen die national­sozialistische Bewegung den Vorwurf erhoben, daß diese das Bekennt­nis antaste, vielmehr immer anerkannt, daß die Partei auf dem Boden des positiven Christentums stehe …. Die derzeitige Kirchenleitung Württembergs ist durchaus bereit und hat dem schon mehrfach Aus­druck gegeben, unter Wahrung des Bekenntnisses in einer evangeli­schen Reichskirche gemeinsam mit der NSDAP, am Neubau des Drit­ten Reiches zu arbeiten …“
Nr. A 3929 vom 30. 4. 1934

Die Einsetzung des Reichskirchenausschusses durch Reichs­minister Kerrl wurde für „tragbar“ gehalten und bei diesem An­laß erklärt:

„Die württembergische Kirchenleitung muß insbesondere auch der Unterstellung entgegentreten, als ob sie beabsichtigt hätte, ,noch in letzter Stunde einzelne nationalsozialistische Pfarrer zu entfernen‘. Sie freut sich vielmehr darüber, daß es nationalsozialistische Pfarrer auch in den Reihen der bekennenden Kirche und unter ihren eigenen Mitgliedern gibt, und sie ist auch noch nie gegen einen deutschchrist­lichen Pfarrer deshalb vorgegangen, weil er Nationalsozialist ist, son­dern nur dann, wenn dienstliche oder persönliche Verfehlungen vor­lagen, die aus sachlichen Gründen eine Untersuchung erforderten, wie sie das in jedem Fall tut, ohne Unterschied der politischen oder kir­chenpolitischen Einstellung.“
Nr. A 10 864 vom 28. 10. 1935.

Als die Zentralgewalt der Deutschen Evangelischen Kirche überhand nahm, wehrte man sich mit Berufung auf Recht und Eigenart der Länder und Landeskirchen.

„So gern wir zusammengeschlossen sind in der Deutschen Evan­gelischen Kirche, so ruht die feste Kraft der Kirche doch auf dem kirchlichen Leben in den einzelnen Ländern. Ich sage immer, die Leute sollen doch die viel gebrauchten Worte ‚Blut und Boden‘ nicht vergessen, wenn es um die Kirche geht. Blut und Boden muß als reale Wirklichkeit genommen werden auch in bezug auf die Kirche und das kirchliche Leben. Wir können uns die ganze württembergische Kirchengeschichte doch nicht denken ohne gewisse Arten und auch Unarten des schwäbischen Volkscharakters. Und dies trifft bei anderen Kirchen in Deutschland auch zu.“
Nr. A 10 332 vom 16. 12. 1933.

Vor allem wurden unermüdlich immer wieder neue politische Loyalitätserklärungen abgegeben.

„Mit diesem Glauben kämpfen wir nicht gegen, sondern für das Dritte Reich, nicht gegen den Führer, son­dern für ihn und die Erreichung der hohen Ziele, die er gesteckt hat.“
Nr. A 3826 vom 25. 4. 1934 (im Erlaß gesperrt).

Der Aufbruch der Bekennenden Kirche

Inzwischen waren die Dinge in einigen deutschen Landeskir­chen, vor allem in Preußen, schon sehr viel weiter fortgeschrit­ten. Die starken Hemmungen, die in den lutherischen Landes­kirchen ein Zurückgehen auf die neutestamentliche Ordnung der Kirche erschwerten, bestanden in den Kirchen mit reformier­ter Tradition nicht in derselben Weise. Sie hatten seit der Refor­mation einen viel größeren Wert auf die Ausbildung einer eigen­ständigen Kirchenordnung gelegt, ohne den Staat und sein Recht dazu zu Hilfe zu nehmen. Sie waren dazu vielfach schon dadurch gezwungen gewesen, daß sie unter einer andersgläubigen oder auch sie bekämpfenden Obrigkeit lebten, während die luthe­rischen Kirchen in Deutschland seit ihrem Bestehen Staatskirchen gewesen waren.

Mit dieser Erinnerung an die reformierte Tradition in der Trage der kirchlichen Ordnung verband sich die schon erwähnte Neubesinnung in der Theologie und führte da und dort zu einer Widerstandsbewegung, die auf „Bekenntnissynoden“ mit der geistlichen Vollmacht, die ihnen das Wort Gottes gab, die ein­gedrungene Irrlehre und Fremdherrschaft ablehnte und der Kirche neue Ordnungen und Ämter setzte. So entstand die „Beken­nende Kirche“ mit ihren „Synoden“ und „Bruderräten“, die den Organen der Deutschen Evangelischen Kirche gegenüber den An­spruch erhoben, die rechtmäßige Kirche zu sein.

Da ihr Recht nur in der geistlichen Vollmacht lag, die sie in Anspruch zu nehmen wagte, ihre Gegner aber die Legitimation im Sinne des geltenden Kirchenrechts und die Anerkennung durch den Staat besaßen, war von vornherein deutlich, daß hier ein Kampf angefangen wurde, der nur mit der unbedingten Ent­schlossenheit durchgeführt werden konnte, die sich aus der allei­nigen Bindung des Glaubens an das Evangelium ergibt. Hier mußte jedes Abweichen von der eingeschlagenen Linie und jede Halbheit äußerst gefährlich werden. Eben damit stand aber die­ser Anfang der Bekennenden Kirche auch unter einer großen Ver­heißung. Es war jedenfalls den Einsichtigen klar, daß dieser Ein­bruch der Fremdherrschaft in die Kirche nicht der Grund für den nunmehr eingetretenen Notstand war, sondern vielmehr die Folge einer schon Jahrhunderte alten Krankheit der evangelischen Kirche, die jetzt zum Ausbruch gekommen war. Jetzt war zu hoffen, daß aus der großen Bedrohung der Kirche eine grund­legende Neubesinnung erwachsen würde. Jedes Wort, das die Bekennende Kirche gegen die „Deutschen Christen“ sagte, jeder Schritt, den sie gegen diese unternahm, mußte jeweils die ent­sprechende Neuorientierung in ihren eigenen Reihen zur Folge haben. Man konnte nicht „um der Seelen Seligkeit willen“ die Irrlehre in ihrer gröbsten und darum letztlich ungefährlichsten Form verwerfen, und sie zugleich in allen ihren gefährlichen feinen Formen nach wie vor unbeanstandet verkündigen lassen. Man konnte nicht den plumpen Terror des Reichsbischofs und seiner Leute als ungeistlich bekämpfen und zugleich die alte kirchenrechtliche Bürokratie beibehalten, deren Regiment gegen alle geistlichen Einwände genau so unempfindlich und unzugäng­lich war. Man mußte sich darüber klar sein, daß hinter dem auf die Kirche ausgeübten Druck die Staatsgewalt selbst stand und konnte sich darum nicht auf die Dauer damit begnügen, dem Staat politische Loyalitätserklärungen abzugeben, sondern mußte sich darauf besinnen, welche Aufgabe die Verkündigung auch der Obrigkeit gegenüber hat. Man konnte nicht von Fall zu Fall einmal das geistliche Recht auf Grund des Bekenntnisses gegen das formale Kirchenrecht ausspielen, um dann, wenn die Verhältnisse gerade günstig lagen, sich wieder auf die kirchen- rechtliche Legalität zu berufen.

Man hätte das freilich nicht tun können; aber man konnte es praktisch doch tun, wie die Geschichte der Bekennenden Kirche in steigendem Maße zeigt.

Die Rolle der lutherischen Landeskirchen

Ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der Beken­nenden Kirche war der Beitritt der drei lutherischen Landes­kirchen von Bayern, Hannover und Württemberg, Diese hatten ihre alten Kirchenleitungen über das Jahr 1933 herübergerettet und wurden darum die „Intakten“ genannt. Sie stießen zur Be­kennenden Kirche in dem Augenblick, als ihr Kirchenregiment durch den Reichsbischof bedroht war, und sie führten in der Folgezeit den „Bekenntniskampf“ auch vor allem als Kampf um das Eigenrecht ihrer Landeskirchen und um ihr angestammtes Kirchenregiment in der Gestalt ihrer Bischöfe.

Der Beitritt war unverbindlich und verpflichtete die Landes­kirchen zu nichts. Zwar nahmen Vertreter von ihnen an den deutschen Bekenntnissynoden teil, gelegentlich sogar die Bischöfe selbst, und beteiligten sich dort an den Beschlüssen. Aber in ihren Landeskirchen wurden die­se Beschlüsse — zum Beispiel in Würt­temberg die für die ganze Bekennende Kirche grund­legende Er­klärung von Barmen vom Mai 1934 — nicht einmal den Ge­meinden bekanntgegeben, geschweige denn daß die Kirchenlei­tungen sich durch sie in ihrem Handeln irgendwie verpflichtet gefühlt hätten. Auf der Synode von Dahlem im Oktober 1934 erklärte sich die Bekennende Kirche von dem Kirchenregiment des Reichsbischofs Müller geschieden und gab sich in eigener kirchlicher Vollmacht eine neue Leitung und Ordnung. Zu die­sem entscheidenden Schritt fühlte sie sich besonders dadurch ge­drängt, weil die württembergische Kirchenlei­tung vom Reichs­bischof abgesetzt worden war. Aber als die württembergische Vertretung nach Stuttgart zurückgekehrt war, hatte man dort in­zwischen ihren Bischof wieder eingesetzt, und was man in Dah­lem bekannt hatte, wurde ignoriert. Der Stadtdekan von Stutt­gart dankte dem Staat in öffentlicher Versammlung in der Stadt­halle für die „Wiederherstellung des Rechtsbodens“; und als der Führer der württembergischen Delegation in Dahlem, Ober­kirchenrat Pressel, später darüber zur Rede gestellt wurde, sagte er, er sei in Dahlem „einer Stimmung erlegen“. Im November 1934 setzten die Leiter jener Landeskirchen zusammen mit dem Bruderrat der Bekennenden Kirche das „Vorläufige Kirchenregi­ment der DEK“ ein, das alle Kirchen und Gemeinden öffentlich aufforderte, „ihre Beziehungen zu der bisherigen Leitung der DEK abzubrechen“. Die Landeskirchen selbst brachen aber diese Beziehungen niemals ab. Die württembergische Landeskirche be­zahlte zum Beispiel an diese Leitung der DEK bis zum Schluß eine steigende jährliche Umlage bis zum Betrag von RM. 100 000.—.

So fühlten sich die Landeskirchen durch ihre Teilnahme bei der Bekennenden Kirche zu nichts verpflichtet. Im Mai 1934 — der Reichsbischof war gerade in Württemberg eingebro­chen — versammelten sich die Bischöfe der Landeskirchen mit den Bru­derräten der Bekennenden Kirche in Ulm und protestierten feier­lich „im Namen des dreieinigen Gottes“, als „die rechtmäßige evangelische Kirche Deutschlands“. Hinterher weigerten sich die Bischöfe, die Bruderräte als rechtmäßige Kirchenleitungen gegen die staatlichen Konsistorien anzuerkennen.

Dieser Rückblick auf die fatale Zweigleisigkeit im Handeln der Landeskirchen während des Kirchenkampfes ist darum not­wendig, weil sich darin besonders deutlich zeigt, wohin die Kirche unter der Herrschaft des formalen Kirchenrechts kommen muß: Es sind alle Äußerun­gen tapferen Bekennens erlaubt — und sie haben auch in diesen Landeskirchen und ihren Leitungen in diesen Jahren nicht gefehlt —aber die geschlossene Ordnung des Kirchenrechts kann dadurch zu nichts verpflichtet werden. Es ist schön und gut, daß man gegen die Irrlehre der „Deutschen Christen“ protestiert, aber das kann nicht dahin führen, daß man einem solchen Irrlehrer die Kanzel nimmt, weil im Kirchenrecht dieser Fall nicht vorgesehen ist. Es wird dankbar begrüßt, wenn sich jemand gegen die Diktatur des Reichsbischofs und seiner Leute auf das Bekenntnisrecht beruft und zeigt, daß nur das gel­tendes Recht in der Kirche sein kann, was dem Bekenntnis nicht widerspricht, aber er darf daraus keine Folgerungen für die Lan­deskirche ziehen, denn dort gilt nach wie vor, daß die Bekenntniswidrigkeit eines Gesetzes „seine formelle Gültigkeit nicht aufheben kann“. Man wagt sich gegen den Staat im Geltendmachen der kirchlichen Forderungen sehr weit hinaus, aber doch immer nur soweit, als man damit die formale kirchliche Rechts­ordnung nicht selbst verletzt und dadurch dem Staat einen Rechts­grund zum Eingreifen geben könnte.

Darum mußte man immer zweigleisig fahren, bald auf das Be­kenntnis, bald auf das formale Kirchenrecht sich berufen und von Fall zu Fall von einem zum andern herüber- und hinüber- wechseln. Für die kirchliche Öffentlichkeit war man „Beken­nende Kirche“, für den Staat war man die rechtlich intakte Lan­deskirche. Beides zu vereinigen hielt man für unmöglich und ließ es darum bei diesem Doppelgesicht der Landeskirche be­wenden.

Das Ergebnis des Kirchenkampfes

Aus der Unverbindlichkeit des landeskirchlichen Handelns erklärt sich die für den Nichteingeweihten zunächst erstaunliche Tatsache, daß der ganze Kirchenkampf mit seinem gewaltigen Aufwand für die Neuordnung der evangelischen Kirche über­haupt kein Ergebnis gehabt hat. In den bekennenden Kirchen Norddeutschlands hat es wohl einige Bruderräte und Synoden gegeben, die bis in die letzte Zeit hinein das Kirchenregiment nach ihrer geistlichen Ordnung ausgeübt haben. Aber als nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches die staatskirchlichen Behörden ihren Schutzherrn verloren hatten, knüpfte man mit der Neuordnung nicht bei den Organen der Bekennenden Kirche an, sondern die Vertreter der Bekennenden Kirche zogen in die verlassenen Konsistorien ein und mögen nun zusehen, ob es ihnen gelingt, auf dem alten Boden ein Neues zu pflügen.

In den „intakten“ Landeskirchen hatte man sich bis zur Wendung der Dinge recht und schlecht hindurchlaviert. Bei Licht besehen zeigte sich doch manches nicht mehr so ganz intakt. Die Kirchenleitungen hatten mit mancherlei „Notver- ordungen“ regiert; die Synoden waren zum Teil seit Jahren nicht mehr zusammenberufen worden, weil man das bei ihrer Zusammensetzung nicht mehr hatte wagen können; es zeigten sich auch manche ausgesprochenen Schönheitsfehler, so zum Bei­spiel daß in Württemberg immer noch zwei namhafte „Deutsche Christen“, der eine davon sogar als Präsident im Landeskirchen­tag saßen und nun endlich, im Herbst 1945 zum Verzicht auf ihre Mandate bewogen werden konnten. Auch in der Pfarrer­schaft hatte sich wegen des Fehlens eines entsprechenden Para­graphen mancher Kämpfer für das Dritte Reich unangefochten ins vierte herübergerettet.

Für eine Neuordnung zeigen sich jedenfalls in diesen Lan­deskirchen keinerlei Ansätze. Man ist auch schon überall dabei, durch Zuwahlen und durch neue Ermächtigungsgesetze be­zie­hungsweise durch Verlängerung der alten den kirchlichen Verwaltungsapparat juristisch wieder in Ordnung zu bringen. Da und dort scheint man es auch in der Absicht zu tun, für eine Neuordnung Zeit und Gelegenheit zu gewinnen, da man doch das Gefühl hat, daß man nicht einfach weitermachen kann wie bisher. Aber auf jeden Fall sind die Versuche, einstweilen die alten Zustände zu restaurieren, nicht ungefährlich. Ist die kirch­liche Bürokratie wieder all­seitig intakt, so wird es nur allzu nahe liegen, daß man auf dem alten sicheren Weg weiter­gehen und den entscheidenden Schritt nie tun wird, der einen Bruch mit dem System der kirchlichen Bürokratie bedeuten müßte.

Die kirchliche Bürokratie

Unter Bürokratie versteht man gemeinhin eine überorgani­sierte und darum schwerfällig und pedantisch arbeitende Ver­waltung, für die der geordnete Aktenumlauf Selbstzweck ge­worden ist, so daß sie der lebendigen Wirklichkeit nicht mehr gewachsen ist. Man wird all das von der kirchlichen Bürokratie auch sagen können, ohne damit freilich schon das für sie Cha­rakteristi­sche getroffen zu haben. Dieses Schicksal der Büro­kratisierung ist die ständig drohende Gefahr für jede Verwal­tungsbehörde, und es würde sich nicht lohnen, davon gerade bei der Kirche besonders viel Aufhebens zu machen, wenn diese schon eine Behörde sein müßte. Zudem könnte das fast nur ihre Pfarrer und Kirchengemeinderäte interessieren, die mit die­ser Behörde unmittelbar zu arbeiten haben, während die Öffent­lichkeit von dieser Bürokratisierung der Kirche weniger berührt würde als bei anderen Behörden.

Aber das ist eben die Frage, ob es sich mit dem Wesen der Kirche verträgt, daß sie zu einer bloßen Verwaltungsbehörde geworden ist.

Ein hoher preußischer Konsistorialbeamter des vorigen Jahrhunderts sagte einmal, er verstehe gar nicht, was die Herren von Gerlach mei­nen, wenn sie immer von der Sünde der Kirche redeten. Die Kirche sei eine Behörde und könne so wenig sündigen wie die königliche Straßen- und Wasserbaudirektion.

Ein württembergischer Pfarrer fragte im Jahre 1943, ob nicht die Möglichkeit bestünde, daß der Oberkirchenrat in einer bestimmten Sadie, in der er sich verrannt hatte, so wie andere Leute Buße tun würde, worauf ihm ein Mitglied des Oberkirchenrats erwiderte, ein Kollegium könne nicht Buße tun.

Wenn es der Kirche durch ihre Bürokratie unmöglich gemacht wird, Sünde und Buße zu tun, so ist das allerdings eine weit schwerwiegendere Angelegenheit als eine bloße Verknöcherung ihrer Verwaltung. Bürokratie heißt wörtlich: Gewalt des Büros, Herrschaft des Verwaltungsver­fahrens, des formalen Rechts. Da­mit ist an sich noch kein Werturteil ausgesprochen; und nach den Erfahrungen, die wir mit dem Dritten Reich machten, haben wir wieder Verständnis für eine saubere und rechtlich geordnete Verwaltung bekommen. Aber was für weltliche Behörden gilt, braucht für die Kirche noch nicht zu gelten. Bürokratie in der Kirche heißt: Herrschaft des formalen Kirchenrechts, das sich, wie wir sahen, vor dem Evangelium und dem Bekenntnis der Kirche nicht auszuweisen braucht und sich gar nicht ausweisen kann, weil es einfach kraft des Gesetzes gilt. Herr in der Kirche ist dann nicht Christus, der die Kirche durch sein Wort und seinen Geist regiert, sondern das im Dienst jenes Kirchenrechts stehende Büro, die Verwaltungsbehörde, eben die Bürokratie.

Es ist bezeichnend, daß die evangelische Kirche bei aller klu­gen Anpassung an die jeweils veränderten politischen Zustände diese Bürokratie unverändert festzuhalten wußte, oder noch deutlicher gesagt, daß sie eben darum so wandlungsfähig und beweglich war, um diesen ein­zig festen Boden, den sie hatte, unbeweglich festzuhalten und zu retten.

In einem Schreiben des deutschen evangelischen Kirchenausschusses an die Nationalversamm­lung in Weimar 1919 heißt es: „Die im deut­schen evangelischen Kirchenausschuß vertretenen Landeskirchen for­dern: 1. Die Anerkennung der bestehenden Landeskirchen als Körper­schaften des öffentlichen Rechts. Nur als öffentlich rechtlicher Verband ist die Kirche in der Lage, ihren sittlich-religiösen und kulturellen, auch für das Staatsleben unentbehrlichen Aufgaben zu genügen!“

Das Versäumnis von 1918 und seine Folgen

Man konnte sich nicht vorstellen, daß die Kirche überhaupt existieren könnte, wenn ihre Rechtsordnung nicht durch das Staatsrecht sanktioniert würde. Darum war es nach 1918 die größte Sorge der Kirche, auf dem Weg über das Körperschafts­recht diese Sanktionierung zu erhalten. Sie hätte andere Sorgen haben müssen. Aber der naheliegende Gedanke, den Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments, unter dem man doch auch manchmal geseufzt hatte, als günstige Gelegenheit zu benützen, die Kirche endlich auf eigene Füße zu stellen, und ihr eine eigen­ständige Ordnung kraft ihrer geistlichen Autorität zu geben, scheint den maßgebenden Männern der Kirche damals gar nicht gekommen zu sein. Das hätte einen Schritt ins Freie bedeutet, den man nicht wagte. Man hätte sich in die freie Luft begeben müssen, um, nur mit dem Evangelium bewaffnet, den durch den allgemeinen Zusammenbruch in Bewegung geratenen Gemütern standzuhalten und so seine Sache zu bewähren. Man hätte auch die politische Zugluft nicht scheuen dürfen. Hatte man doch längst erkannt, daß jenes Bündnis von „Thron und Altar“ die in der Arbeiterbewegung erfaßten Kreise des Volkes in einen unsachlichen und innerlich nicht gerechtfertigten Gegensatz zur Kirche gebracht hatte. Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen, die längst fällige, jahrzehntelang durch die Bindung der Kirche an die herrschenden politischen Mächte hintangehaltene Auseinan­dersetzung auszu­tragen. Eine ihrer Sache selbst sichere Kirche hätte diese Gelegenheit mit Freuden wahrgenommen. Aber die Kirche von 1918 war ihrer Sache eben nicht sicher. Darum zog sie es vor, sich nicht ins Freie zu begeben, sondern statt dessen einen „Evangelischen Volksbund“ zu gründen, der die Aufgabe hatte, die kirchlichen Kreise zu sammeln und den Fragenden am Rand der Kirche polemisch und apologetisch zu begegnen. Dieser richtete eine Anfrage an die politischen Parteien, wer von ihnen bereit wäre, der Kirche die Körperschaftsrechte zu geben und ermahnte das Kirchenvolk, entsprechend zu wählen. So band man sich wieder an die herrschenden politischen Par­teien, von rechts bis zur Mitte. Dabei konnte man sehr wohl dem demokratischen Zeitgeist- Rechnung tragen, für die Wahlen zum Kirchenparlament das allge­meine, gleiche und geheime Wahl­recht einführen und das repräsentative System mit der Unter­scheidung von exekutiver und legislativer Gewalt, der Unter­scheidung von Oberkirchenrat und Synode für die Kirchenleitung übernehmen. Die Öffentlichkeit des Volkes hatte an dieser Wahl ohnehin kein Interesse, wie die Wahlbeteiligung zeigte; und so war nicht zu befürchten, daß sich in der Kirche irgend etwas ändern könnte.

Was die Kirche 1918 versäumt hatte, wäre 193 3 nur unter sehr erschwerten Bedingungen wieder gut zu machen gewesen. Begab sich die Kirche jetzt ins Freie, so hatte sie nicht mehr bloß mit einer politischen Zugluft, sondern geradezu mit einem Sturm­wind zu rechnen, von dem sie fürchten mußte, völlig hinweg­gefegt zu werden. Darum schien es jetzt erst recht geboten, sich auf die Erhaltung der kirchlichen Bürokratie zu konzentrieren. Man kam dem neuen Staat entgegen, soweit es irgend ging. Es war auch nicht schwierig, sich von der Demo­kratie auf das Füh­rerprinzip in der innerkirchlichen Ordnung umzustellen. Schwie­rig wurde es erst, als der neue Staat eine Gleichschaltung der kirchlichen Verkündigung mit seiner „Weltanschauung“ ver­langte. Auch da vermied es die Kirche, sich in eine grundsätzliche Auseinandersetzung einzulassen, sondern wehrte sich um ihren Verwaltungsapparat und betonte ihre politische Loyalität. Sie konnte das deshalb tun, weil sie jedenfalls die außenpoli­tische Seite des neuen politischen Wollens bejahen zu können meinte und dazu auch ihre Anhänger, die in der Hauptsache aus dem Lager des deutschnationalen oder nationalliberalen Bürger­tums kamen, leicht gewinnen konnte. Auf dieser Linie führten jedenfalls die „intakten“ Landeskirchen den Kampf gegen die staatlichen Eingriffe in die Kirche mit einigem Erfolg, ohne sich dabei besonders exponieren zu müssen, aber freilich um den Preis, daß nach dem Abtreten des Dritten Reichs die Kirche noch ge­nau dieselbe war wie 1918 und 1933.

Die Klerikalisierung der Gesellschaft

Wird die Kirche nun wieder weitermachen, als ob nichts ge­schehen wäre? Die äußeren poli­tischen Umstände wären ihr da­zu günstig, jedenfalls in den von den Westmächten besetzten Gebieten Deutschlands. Die Staatsgewalt wird weiterhin bereit sein, der Kirche ihre Ordnung und Verfassung zu garantieren, und die zur Zeit ausgesprochen kirchenfreundliche öffentliche Meinung ließe die Staatsgewalt auch gar nicht anders handeln. Wird die Kirche dieser gefährlichen Versuchung wiederum er­liegen, oder wird sie von sich aus einen neuen Weg betreten?

Was wären die entscheidenden Merkmale dieses neuen Weges? Es handelt sich keineswegs nur um den Verzicht der Kirche auf die staatsrechtliche Garantie ihres Kirchenrechts. Mit der Losung: „Trennung von Kirche und Staat“ ist das entscheidende Problem noch nicht getrof­fen. Die Kirche könnte nach der Trennung vom Staat auch eine rein kirchliche Bürokratie aufbauen, die sich von der bisherigen in nichts unterscheiden würde. Sie -brauchte dazu nur, in Analogie zur römisch-katholischen Kirche, ihrem Kir­chenrecht eine geistliche Weihe zu geben. Daneben müßte sie das Kirchenvolk auch außerhalb des eigentlichen gottesdienst­lichen Lebens sammeln in christlichen Vereinen auf möglichst vielen Gebieten, müßte vom christlichen Kindergarten über die christliche Schule bis zur christlichen Universität der weltlichen Bildung mit eigenen Unternehmungen Konkurrenz zu machen versuchen. Und sie müßte die Wahrung ihrer kirchlichen Inter­essen im politischen Leben — was nicht dasselbe zu sein braucht wie eine Politik aus dem Glauben — durch eine eigene christ­liche Partei vornehmen lassen, also das versuchen, was man die Klerikalisierung der Gesellschaft nennt.

Es deutet vieles darauf hin, daß die evangelische Kirche die­sen Weg gehen will, der heute wahrscheinlich auch einige Aus­sichten hätte. Auf diese Weise könnte sie sich vom Staat ziem­lich unabhängig machen. Es wäre zwar nicht die geistliche Autori­tät ihres Predigtamtes und des Evangeliums, worauf sie sich da­bei stützen würde, sondern die Bedeutung der Kirche als sozialer, politischer und kultureller Faktor, der aber als solcher ein nicht geringes Gewicht besitzt. Die sogenannten kirchlichen Kreise würden sich auf all diesen Gebieten von der übrigen Gesellschaft mehr oder weniger deutlich absetzen. In allen innerkirchlichen Angelegenheiten wären sie unter sich; die unmittelbare Konfron­tation mit der Welt wäre vermieden und damit auch die Not­wendigkeit, die Botschaft der Kirche in Freiheit und Offenheit der Welt gegenüber zu bewähren. Es wäre zudem für die evan­gelische Kirche kein eigentlich neuer Weg. Es ist vielmehr der Weg, mit dem sie sich schon lange vor dem Dritten Reich allen an der Kultur des Abendlandes Interessierten als Bundesgenossen im Kampf gegen den heraufziehenden Bolschewismus empfohlen hat, der Weg, auf dem sie zum Wegbereiter des Nationalsozia­lismus werden mußte, und der die kirchlichen Kreise wehrlos der demagogischen Parole „Nationalsozialismus oder Bolsche­wismus?“ auslieferte. Und da, mit Recht oder Unrecht, die „bol­schewistische Gefahr“ in der nächsten Zukunft alles politische und kulturelle Denken beherrschen wird, ist die Versuchung, diesen Weg jetzt wiederum mit ganzer Entschlossenheit zu gehen, nur allzugroß.

Die Sicherung des kirchlichen Bestandes

Es wäre auch darin nur eine neue Variante des alten Weges, als der entscheidende Gesichts­punkt dabei nach wie vor der wäre, den Bestand der Kirche sicherzustellen. Von diesem obersten Ge­sichtspunkt ließ sich die Kirche in ihrem ganzen Handeln seit 1918 leiten. Es ging darum, nicht nur zahlenmäßig den Bestand zu halten, sondern auch gesinnungsmäßig, und dazu mußten alle Positionen verteidigt und ausgebaut werden, die der Kirche einen Einfluß im öffentlichen Leben gewährten. Die Kirche begab sich damit ausgesprochen in die Defensive der Welt gegenüber, auch wenn sie in diesem Kampf mitunter aggressiv und anspruchsvoll auf trat.

Der Kirche sind diese Positionen im Lauf ihrer Geschichte als Früchte ihres Glaubens zugefal­len. Was dem Glauben an Erkennt­nis geschenkt wurde, ist in die Geistesgeschichte des Abendlan­des eingegangen. Was der Christ im Glauben lebte, bekam maß­gebenden Einfluß auf Sitte, Sittlichkeit und Recht. Wie die christ­liche Gemeinde in Glaube und Liebe das Zusammenleben ihrer Glieder regelte, wirkte sich auf ihre Umwelt aus in der allge­meinen Ordnung der sozialen Verhältnisse. Ohne das Band der Kirche hätte es nie ein Reich der Deutschen gegeben.

Solche Früchte des Glaubens pflegen durch ihre eigene Schwer­kraft auch dort noch lange weiterzuwirken, wo die Wurzel, aus der sie hervorgingen, abgeschnitten und der Glaube nicht mehr lebendig ist. Die Welt macht sich zunächst diese Früchte zu eigen, ohne nach ihrem Ursprung zu fragen, um dann eventuell in einem späteren Stadium, wie das etwa im Dritten Reich besonders deut­lich und herausfordernd geschehen ist, ihnen ein eigenes soziales und kulturelles Programm entgegenzustellen und jene Früchte des Glaubens als Kennzeichen einer vergangenen Epoche ins Mu­seum zu verweisen. Ist diese Situation eingetreten, vor der die Kirche im Großen wie im Kleinen, im Ganzen wie im Einzelnen immer wieder steht, dann gerät sie in die große Versuchung, die ihr gebotene Auseinandersetzung mit der Welt nun mit Hilfe dieser Früchte des Glaubens und über den Wert derselben zu führen, anstatt durch die Verkündigung des Evangeliums aufs neue zum Glauben selbst zu rufen und diesen Glauben in offener Konfrontation mit der Welt aufs neue konkret zu bewähren. Die Kirche verschanzt sich dann hinter dem, was ihr in der Ver­gangenheit einmal zugefallen und von der Welt anerkannt wor­den ist, hinter der „christlichen“ Kultur, der „christlichen“ Poli­tik, der „christlichen“ Gesellschaft. Die Auseinandersetzung wird nun eine typische Epigonenangelegenheit. Was einmal echte Er­kenntnis des Glaubens war, wird von den Nachfahren zur Emp­fehlung und Verteidigung des Glaubens vor der Welt verwen­det. Die Positionen, welche der Kirche freiwillig von der Welt übertragen worden waren, weil diese durch den Glauben über­wunden wurde, werden von der Kirche nun mit Berufung auf Tradition und Rechtstitel weiterhin beansprucht, auch wenn alle Voraussetzungen dafür nicht mehr zutreffen. In jener großen Geschichte, auf welche die Kirche sich beruft, war sie der Träger des Fortschritts auf allen Gebieten. Indem sie aber der jeweils neuen konkreten Bewährung ihrer Botschaft vor der Welt aus­weicht, wird sie nicht etwa eine echte konservative Kraft, son­dern nur ein retardierendes Moment in der Geschichte.

Ein charakteristisches Beispiel dafür ist das Verhalten der Kirche in der Schulfrage. Als etwa mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts der Prozeß der Emanzipierung der modernen Bildung von der Kirche auf den Universitäten zu einem gewissen Abschluß gelangt war, versuchte die Kirche ihre Positionen wenigstens noch in der Volksschule zu hal­ten. Sie behielt zum Beispiel in Württemberg maßgebenden Einfluß auf die Lehrerbildung. Als trotzdem die Schule der Kirche immer mehr entglitt, rächte sich diese durch die „geistliche Schulaufsicht“. So ver­suchte sie das, was sich freiwillig von ihr gelöst hatte, mit Gewalt unter ihren Einfluß zurückzuzwingen.

Nachdem die geistliche Schulaufsicht beseitigt war, hatte man dem Namen nach noch Bekenntnisschulen, in denen die Kirche aber nicht einmal mehr Einfluß auf die Gestaltung des Religionsunterrichts hatte. Als das Dritte Reich die Bekenntnisschule aufhob, wehrte sich die Kirche aber immer noch für den Religionsunterricht als lehrplanmäßi­ges Fach in der Schule, obwohl sie wußte, daß er von den Lehrern zum großen Teil in offenem Widerspruch zum Bekenntnis der Kirche gegeben wurde. Sie nahm sogar, anstatt auf der Beaufsichtigung des Religionsunterrichts durch die Kirche zu bestehen, mit in Kauf, daß umgekehrt der Schulrat den Religionsunterricht der Pfarrer in der Schule beaufsichtigte. Sie nahm es in Kauf, nur um ihre Position in der Schule zu behalten. Erst als der Schulreligionsunterricht zu einem Skandal wurde, tat sie, was sie längst hätte freiwillig tun müssen, und richtete einen eigenen kirchlichen Religionsunterricht ein. Aber sie wagte auch jetzt noch nicht, kraft ihres Wächteramtes der Schule das Recht zum Religionsunterricht abzusprechen und hätte das freilich auch gar nicht mehr glaubwürdig tun können, nachdem sie nicht freiwillig gegangen war, sondern sich aus der Schule hatte hinausdrängen lassen.

Der falsche Öffentlichkeitsanspruch der Kirche

Man hat in den letzten Jahren viel vom „Öffentlichkeitsan­spruch“ der Kirche geredet, ohne klar zu sagen, was darunter verstanden werden soll. Die in der angeführten Weise um ihren Bestand kämpfende Kirche konnte diesen Anspruch nur so ver­stehen, daß sie um jene Positionen im öffentlichen Leben sich wehrte, die sie zur Sicherung ihres Bestandes brauchte, vor allem di? Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Wenn da­gegen im Neuen Testament die Kirche ein öffentlicher Körper ist, so ist sie das darum, weil sie nicht nur für ihre Glieder da ist, sondern weil in ihrem Dasein für die ganze Öffentlichkeit sichtbar zum Ausdruck kommen soll, daß Christus nicht nur der Herr der Kirche, sondern auch der Herr der Welt ist. Dieser „Öffentlichkeitsanspruch“ der Kirche gilt unabhängig davon, ob die Welt ihn anerkennt, und er wird konkret dadurch er­hoben, daß die Kirche alle Welt durch ihre Verkün­digung in An­spruch nimmt. Könnte es die um ihren Bestand kämpfende Kirche nicht auch so gemeint haben und jene Positionen eben darum festgehalten haben, um mit ihrer Hilfe Christus als den Herrn der Welt verkündigen zu können? Könnte nicht eben das ihr Interesse dabei gewesen sein, daß sie nicht zu einer Sekte wer­den will, die nur die Frömmigkeit ihrer Glieder pflegt?

Gewiß könnte das alles so gemeint gewesen sein. Aber dann hätte die Kirche sich zu den Dingen des öffentlichen Lebens nicht so verhalten dürfen, wie sie es besonders im Dritten Reich getan hat. Sie nützte ihre öffentlichen Positionen eben nicht da­zu aus, um alle Welt unter die Verheißung und das Gericht des Evangeliums zu rufen, sondern sie erkaufte sich gerade um­ge­kehrt immer wieder die Erhaltung ihrer Stellung durch den Ver­zicht auf die ihr aufgetragene Verkündigung. Es gibt eine Menge programmatischer Predigten und Erklärungen führender Kirchenmänner aus dieser Zeit, die alle auf den Ton gestimmt sind, daß der Kampf zwischen Kirche und Staat nur auf einem Mißverständnis beruhe. Die Kirche wolle nur Raum für ihre Verkündigung und gedenke sich nicht in die politischen An­gelegenheiten zu mischen. Konflikte könnten darum nur durch staatliche Übergriffe entstehen. Dem entsprach die kirchliche Praxis.

Als Pfarrer Niemöller 1937 nach der Freilassung durch das Sonder­gericht von der Gestapo wieder verhaftet und ins Konzentrationslager überführt wurde, gab die Leitung der Bekennen­den Kirche eine Kan­zelerklärung heraus, die unter anderem das Psalmwort enthielt: „Recht muß doch Recht bleiben“ (Psalm 94, 15). Wegen dieses Satzes lehnten die Landeskirchen des „Lutherischen Rats“ diese Erklärung ab mit der Begründung, die Kirche dürfe sich nur für die Freiheit ihrer Verkün­digung wehren, aber nicht in die staatliche Rechtssphäre eingreifen.

Kurz nach den Judenprogromen im November 193 8 war Landes­bußtag. Als Text war in Württemberg schon vorher das Wort Jeremia 22, 29 bestimmt worden: „O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort“. Da die Gemüter durch jene Untaten erregt waren und man annehmen mußte, daß die Pfarrer am Bußtag etwas dazu sagen wür­den, gab die Kirchenleitung auf der Dekanskonferenz die Losung aus, ja nicht „zum Fenster hinauszureden“. In einzelnen Fällen geschah das aber doch. Und als ein Pfarrer deshalb vom Pöbel überfallen und nachher ver­haftet wurde, hat ihn die Kirchenleitung hinterher in den Ruhestand versetzt.

Ein württembergischer Pfarrer bekam im Jahr 1935 Schwierigkeiten mit der Partei, weil er sich weigerte, bei Beerdigungen im Talar die Hakenkreuzfahne zu grüßen. Der Pfarrer be­grün­dete dies der Partei gegenüber damit, daß dies ein Gottesdienst sei, bei dem er kraft seines Amtes und sichtbar ausgedrückt durch sein Amtskleid die Autorität Gottes vertrete und sich keinem irdischen Hoheitszeichen unterstellen könne. Als er die Sache der Kirchenleitung vorlegte, ver­langte diese von ihm, die Fahne zu grüßen.

Als bei der Tschechenkrise im Herbst 1938 die Leitung der Be­kennenden Kirche eine Liturgie für einen Gebetsgottesdienst heraus­gab, in dem das Volk zur Buße gerufen wurde, griff die Staatsgewalt ein, und die lutherischen Bischöfe trennten sich auf Verlangen des Staates in öffentlicher Erklärung „aus religiösen und vaterländischen Gründen“ von den Verfassern.

Das Schicksal der Winkelkirche

Es wäre falsch, in dieser Praxis der Kirche nur mangelnden Mut zu sehen. Manche der füh­renden Männer haben bei ande­ren Gelegenheiten allerlei persönlichen Mut bewiesen. Hinter diesem Verhalten stand vielmehr eine grundsätzliche Entschei­dung: Man fürchtete, die Kirche könne in einen „Winkel“ ge­drückt werden, in dem es ihr unmöglich gemacht wäre, sich noch Gehör zu verschaffen. Um dieses Schicksal der „Winkelkirche“ zu vermeiden, vermied man nach Möglichkeit alles, was dem Staat hätte Anlaß geben können, der Kirche ihre Positionen im öffentlichen Leben zu nehmen.

Die Körperschaftsrechte waren für die Kirche aus einer Hilfe für ihre Verkündigung immer mehr zu einer Fessel für diese geworden. Der Staat konnte durch den Einfluß, den dieses Recht ihm in der Kirche gab, seinen Willen überall durchsetzen: er kontrollierte die Finanzen der Kirche und machte immer wieder die Etatsgenehmigung davon abhängig, daß ihm unbequeme Posten, zum Beispiel für Jugend­arbeit oder für Besoldung von „politisch unzuverlässigen“ Pfarrern gestrichen wurden; er überwachte die Stellenbesetzung, verhinderte die Wiederherstellung der synodalen Organe usw. Ein kirchliches Han­deln auf diesen Gebieten wurde immer wieder mit der Begründung unterlassen, daß man damit das Körperschaftsrecht für die Kirche aufs Spiel setzen würde.

Wie das so zu gehen pflegt, suchte man diese Praxis hinter­her theologisch zu rechtfertigen, vor allem damit, daß das Amt, das den alttestamentlichen Propheten gegen die Welt und für die Welt gegeben sei, der Kirche nicht zustehe. So zog sich die Kirche auf eine „innere Linie“ zurück und verdeckte das schlechte Gewissen, das sie selbst bei ihrem Schweigen der Welt gegenüber hatte, durch die merkwürdigsten „theologischen“ Argumente.

Bei einer Auseinandersetzung über diese Frage sagte ein namhafter Tübinger Theologe im Sommer 1939, die Obrigkeit, mit der es die Kirche heute zu tun hätte, sei schon so verstockt, daß sie gar nicht mehr hören könne. Deshalb sei ihr die Kirche auch das Zeugnis des Evange­liums nicht mehr schuldig. Ihm wurde mit Recht entgegenge­halten, wenn das schon seine Meinung sei — wobei freilich fraglich bleibe, wie er sie als ein Urteil des Glaubens begründen könne — dann müsse er auf die Kanzel der Tübinger Stiftskirche gehen und dort öffentlich erklären, daß dieser Staat von Gott verlassen und zu sei­nem Verderben dahingegeben sei. Ihm weiterhin das Evangelium ver­kündigen, hieße die Perlen vor die Säue werfen. Erst wenn er das getan hätte, habe er Recht und Pflicht, fernerhin zu schweigen.

Auf dem dafür besonders anfälligen schwäbischen Boden spielten in dieser Frage auch allerlei apokalyptische Erwägungen eine große Rolle. Das Buch Daniel und die Offenbarung des Johannes erfreuten sich in diesen Jahren besonderer Beliebtheit. Man entnahm aus ihnen, daß ja „alles so kommen müsse“, weil wir in „der letzten Zeit“ leben, und zog daraus den Schluß, daß es sinnlos sei, sich gegen diese Ent­wicklung zu wehren — und schwieg. So dachten nicht nur weite Kreise in den Gemeinden und standen darum im Kirchenkampf abseits, son­dern auch in der Kirchenleitung spielten solche Gedanken eine Rolle. Bis 1943 hielten viele Hitler für den Antichrist und zogen daraus den Schluß, daß er den Krieg gewinnen werde. Diese bedauerliche Ver­irrung in die Apokalyptik hätte freilich nicht die Folge haben dürfen, daß man um den für unvermeidlich gehaltenen Sieg des „Antichristen“ auch noch in der Kirche betete und seine Erfolge mit „Dankgottes­diensten“ begleitete — um dann nach Stalingrad, als jeder Vernünf­tige auch ohne „theologische“ Begründung das Ende absehen konnte, à la baisse zu spekulieren.

Es war ein grundlegendes Mißverständnis, zu meinen, daß die Kirche auf diese Weise vor dem Schicksal der Winkelkirche be­wahrt werden könnte. Sie hat im Gegenteil dadurch selbst alles getan, um sich aus dem öffentlichen Leben auszuschalten und zu einem privaten Frömmig­keitsverein zu werden. Die Rechte einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ können auch aus der größ­ten und angesehensten Sekte keine Kirche machen, wenn diese nicht da­durch sich selbst als die Kirche erweist und betätigt, daß sie alle Welt für das Evangelium in Anspruch nimmt. Wo die Kirche das unterläßt, um ihre Positionen im öffentlichen Leben zu retten, wird sie auch in der Form der „Körperschaft des öffent­lichen Rechts“ nichts anderes sein als eine staatlich privilegierte Großsekte.

Der Mangel an Glauben

Wenn es den maßgebenden Vertretern der Kirche bei all dem auch nicht an persönlichem Mut gefehlt hat, so fehlte es ihnen dafür um so mehr an dem Mut des Glaubens. Dieser hätte schlicht und einfach darin bestehen müssen, daß man dem Wort Gottes, das man verkündigte, auch zutraute, es werde nach Got­tes Verheißung Glauben finden, und dieser Glaube werde auch heute wie einst die Welt überwinden. An diesen Glauben hätte man, als das gefordert war, getrost alle äußeren Sicherungen der Kirche wagen müssen, und zwar nicht erst im Dritten Reich, wo dieses Wagnis natürlich besonders lebensgefährlich erschei­nen mußte, nachdem man ihm in der vorangegangenen „Frie­denszeit“ seit 1918 dauernd ausgewichen war.

Wird die Kirche heute wieder zu jenen Friedensjahren vor 193 3 zurückzukehren versuchen, wird sie den Weg der Restau­ration gehen oder wird sie einen neuen Anfang machen? Dann muß sie jetzt endlich ihrer Sache sicher werden und den Mut des Glaubens aufbringen, der es wagt, frei und ungesichert der Welt mit dem Evangelium zu begegnen und dessen Kraft aufs neue zu bewähren. Ihre Standhaftigkeit gegen das Dritte Reich, die sie in den aufgezeigten Grenzen immerhin erwiesen hat, brachte ihr vor der Welt einen Achtungserfolg ein. Diese Kirche, die nicht überrannt werden konnte, als alles um sie her umfiel, die trotz ihrer offenkundigen Verstricktheit in weltliche Interessen und trotz aller menschlichen Unzulänglichkeit ihrer Vertreter eine Widerstandskraft zeigte, die man ihr längst nicht mehr zu­getraut hatte, ließ viele aufhorchen und machte sie zu einem Phänomen, das weit über die „kirchlich interessierten Kreise“ hinaus der Welt zu denken gab. Dieses Aufsehen, das die Kirche erregte, verpflichtet sie heute in stärkster Weise.

Sie kann die Glaubwürdigkeit, die sie gewonnen hat, nicht sicherer verlieren, als wenn sie jetzt wieder den Weg von vor 1933 weitergeht und sich für ihre Ansprüche womöglich noch darauf beruft, daß sie die ältesten Kämpfer für das vierte Reich gestellt habe. Nachdem die Welt ihr wieder etwas zutraut, sollte doch vor allem sie selbst sich wieder mehr zutrauen. Wir haben es erlebt, wie mancher, der in der Welt der modernen Bildung zu Hause war, mit weh­mütigem Neid auf die Kirche schaute, als ihm seine Welt zerschlagen wurde und von uns wissen wollte, warum denn wir allein nicht kapitulieren mußten. Sollten, wir diesen Menschen heute wieder nichts Anderes zu bieten haben als auf den Universitäten eine Theologie, die in den Prälimina­rien stecken bleibt, die vor lauter Apologetik und weltanschau­lichen Auseinandersetzungen und geistesgeschichtlichen Deu­tungsversuchen nicht zur Sache kommt? Sollen sie, wenn sie in die Kirche kommen, wieder anstatt des Evangeliums nur die Predigt des Gesetzes hören, vermischt mit Betrachtungen zur frommen Innerlichkeit, die mit der Wirklichkeit ihres Lebens nichts zu tun haben und ihnen darin nichts helfen können? Sol­len sie nichts davon merken, daß das Christsein eine gute Sache ist, die fröhlich macht und über die darum fröhlich zu reden ist?

Wir haben es erlebt, wo wir mit der Kirche im Dritten Reich nicht nur in eigener Sache kämpften, sondern uns um die Dinge des öffentlichen Lebens kümmerten, daß wir nicht selten drau­ßen in der Welt der politischen Parteien weit mehr Verständnis und Verständigungsmöglichkeiten fanden als in den „kirchlichen Kreisen“. Sollen wir uns nun wieder hinter die Grenzen der kirchlichen Gesellschaft zurückziehen und zur Welt hin Mauern aufrichten, „kirchliche Interessen“ wahren, möglichst „unpoli­tisch“ predigen und die im argen liegende Welt sich selbst über­lassen? Wir haben es als Soldaten erlebt, wie gut es für uns Pfarrer war, der Welt einmal nicht mehr auf Kanzelabstand begegnen zu müssen. Wir hatten keinen sakralen Bezirk mehr, der unser Reden und Tun glaubwürdig gemacht hätte; wir hatten kein Amt, das uns zu reden erlaubt und befohlen hätte und keine „kirchlichen Kreise“, die uns das Wort gutwillig und unbesehen abgenommen hätten. Wir sind auch in dieser absoluten Profanität unserer Existenz Pfarrer geblieben, und unsere Umwelt hat das durchaus von uns erwartet. Wir konnten nicht viel mehr tun, als den Erniedrigten und Gequälten und Beleidigten unter unseren Kameraden beispringen und ihnen zum evangelischen Verständnis des Gesetzes verhelfen, unter dem wir ohne Wahl mit ihnen standen. Auch das konnten wir zumeist nicht durch unser Reden tun, sondern dadurch, wie wir selbst unter diesem Gesetz vom Evangelium lebten, und zwar mit ihnen zusammen lebten. Wir hatten selten die Möglichkeit zu predigen. Aber wenn wir es tun konnten, dann hatten wir eine merkwürdige Gemeinde vor uns, für die alle üblichen Voraussetzungen für einen Gottesdienst fehlten. Wir waren schlechterdings darauf angewiesen, zu glauben, daß das Wort Gottes sich selbst ver­kündigt und sich seine Gemeinde schafft. So haben wir es ge­wagt, in aller Ungesichertheit einfach das Evangelium zu pre­digen, und haben dabei wieder verstehen gelernt, warum Luther sagt, daß Gott durch jede Predigt seine Kirche neu werden lasse. Sollen wir das einfach vergessen und wieder in unseren sakralen Bezirk zurückkehren, aus dem wir nicht hinaus können und in den jene nicht hereinkommen?

Nein, wir werden das alles nicht tun wollen. Aber können wir es verhindern, daß es praktisch eben nicht doch so wird? Die Kameraden, mit denen wir Pfarrer es als Soldaten zu tun hatten, stellten doch nur den Durchschnitt unserer Gemeinden dar, mit dem einzigen Unterschied, daß wir zu Hause einander nicht kon­kret begegneten, weil sie nicht zur Kirche und wir nicht zu ihnen kamen. Wir sind wohl mitunter erschrocken, wenn uns das zum Bewußtsein kam und wir uns zugleich darüber klar waren, daß sie auch nach dem Krieg, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht zu uns kommen werden.

So konnten wir in diesen Jahren auf allerlei Weise etwas von der Scheinwirklichkeit unserer kirchlichen Existenz zu spüren be­kommen. Es liegt nicht in unserer Macht, das von heute auf morgen zu ändern. Wir werden gut daran tun, das in aller Nüch­ternheit zu sehen. Wir werden uns insbesondere nicht täuschen lassen durch allerlei „missionarische“ Unternehmungen, mit wel­chen kirchliche Betriebsamkeit jene „Randsiedler“ erreichen will. Der Neuanfang, den wir heute machen müssen, dürfte zunächst überhaupt nicht im Blick auf jene Randsiedler und die etwaigen Möglichkeiten ihrer „Wiedergewinnung“ geschehen. Die Welt wird nur dann wieder auf die Kirche hören, wenn die Kirche wieder selbst Kirche zu sein wagt. Darum müßte der uns heute gebotene Neuanfang einfach darin be­stehen, daß die Kirche, die die Welt zum Glau­ben ruft, zuerst einmal für sich selbst, für ihr eigenes Leben und ihre Ordnung es wieder mit dem Glaub en wagt.

Die Entmündigung der Gemeinden

Die Ordnung der Kirche will der Verkündigung des Evan­geliums dienen. In ihrer gegenwärtigen Form rechnet sie aber gar nicht damit, daß die Verkündigung Glauben schafft. Jeden­falls verläßt sie sich nicht darauf, sondern sie sucht das Leben und die Ordnung in der Kirche zu sichern durch Gesetze, welche die Rechte und Pflichten der Glieder regeln und Übertretungen verhindern genau in derselben Weise, wie das eine Staatsver­fassung tut. Im Evangelium gilt als oberster Grundsatz: „Was nicht aus dem Glauben kommt ist Sünde“ (Röm. 14, 23); in der Kirche heißt es dagegen: Die Einhaltung der formellen Ordnung sichert den Bestand der Kirche. Glaube und Sünde usw. sind aber nicht juristisch faßbar und deshalb in dieser Ordnung nicht vorgesehen.

Der Ort, wo es sich allein entscheiden muß, ob das Evangelium Glauben findet, ist die Einzelgemeinde. Ebenso kann nur in der Gemeinde, wo das Evangelium dem Einzelnen in der Verkündi­gung durch das Predigtamt konkret begegnet, die Sünde und der Unglaube offenbar werden, und nur hier kann dieser Sünde des Unglaubens durch das Predigt- und Schlüsselamt der Gemeinde konkret begegnet werden in Vermahnung und Zucht. Nur hier in der Einzelgemeinde kann der Anspruch des Evangeliums an alle Welt verantwortlich geltend gemacht werden, nur hier kann dem einzelnen Sünder konkret und persönlich die Vergebung seiner Sünden verkündigt und nur hier kann er für die Mißachtung des Evangeliums verantwortlich gemacht werden. Nur hier kann sich das Geschehen der Verkündigung konkret ereig­nen und die Wahrheit und Kraft des Evangeliums sich bewähren. In der formalrechtlichen Kirchenverfassung ist diese Bewährung der Evangeliumsverkündigung im Glauben der Gemeinde nicht vorgesehen, da sie allein ein Werk des Heiligen Geistes ist, der ebensowenig juristisch faßbar ist wie Sünde und Glaube. Darum hat folgerichtig die Einzelgemeinde nicht die geringste eigene Verantwortung, nicht einmal in Verwaltungsangelegenheiten, geschweige denn in geistlichen Dingen.

In Württemberg darf die Gemeinde, um beim Äußerlichsten anzu­fangen, Nachlässe von der vom Oberkirchenrat festgesetzten Kirchen­steuer nur in Höhe von RM. 20.— gewähren. Bei höheren Beträgen entscheidet der Oberkirchenrat. Ausgaben über RM. 800.— bedürfen der Genehmigung des Oberkirchenrats. Die Kirchenpflegerechnungen werden vom Oberkirchen­rat geprüft unter dem Gesichtspunkt, daß jeder Kirchenpfleger unter dem Verdacht der Unterschlagung steht. Daß man es in all dem mit Christen zu tun hat und man sich in der Kirche befindet, bleibt außer Betracht.

Geht man weiter zu den geistlichen Dingen, so ist die Ent­mündigung noch schlimmer. Das nach den reformatorischen Be­kenntnissen erste und wichtigste Recht der Gemeinde, selbst über ihren Pfarrer zu bestimmen, hat sie nicht. Sie hat wohl ein formales Einspruchsrecht gegen den vom Oberkirchenrat benann­ten Pfarrer, das aber so verklausuliert ist, daß es praktisch kaum in Frage kommt. Und ist der Pfarrer einmal vom Oberkirchen­rat ernannt, so kann die Gemeinde nichts mehr gegen ihn ausrichten.

Das wirkte sich besonders in der Zeit des Kirchenkampfes schlimm aus. Es gab nicht wenige Gemeinden, in denen der nationalsozialistische Pfarrer die Gemeinde völlig zerstörte und die Kirchenge­meinderäte bei Dekan und Oberkirchenrat immer wieder vorstellig wurden, aber nichts ausrichten konnten, weil der Oberkirchenrat nicht gegen den Pfarrer vorging.

Pfarrer und Kirchengemeinderäte dürfen nicht einmal darüber entscheiden, ob jemand zur Konfirmation zugelassen werden kann oder nicht. Auch das entscheidet der Oberkirchenrat. Wo eine Gemeinde Ansätze zur Kirchenzucht macht, etwa bei der Taufe, muß sie stets gewärtig sein, daß der Oberkirchenrat ihre Versuche durchkreuzt und den Beschwerden von Gemeindeglie­dern nachgibt, ohne den Pfarrer und Kirchengemeinderat über­haupt zu hören, oder jene sogar an einen anderen Pfarrer verweist.

Der oberste Grundsatz für alle Kirchenordnung ist in den refor­matorischen Bekenntnissen: Gebundenheit in der Lehre und Frei­heit in den Ordnungen. Die Bürokratie hat das ins Gegenteil verwandelt: in der Lehre herrscht Willkür und in den Ordnun­gen das Gesetz.

Im Jahre 1942 führte die württembergische Kirchenleitung ein neues Konfirmandenbuch ein, ohne die Pfarrer und Gemeinden vorher zu befragen. Als eine Anzahl Pfarrer das Buch ab­lehnten, weil es mit der Lehre der Kirche nicht übereinstimme und sie es daher aus Gewissens­gründen nicht verwenden könnten, wurde diesem Einwand nicht statt­gegeben, sondern die Einführung mit allen Mitteln, zum Teil sogar durch finanziellen Druck erzwungen.

Die kirchliche Bürokratie sieht die Einzelgemeinde genau so an wie der Leiter eines großen Unternehmens die einzelnen Filialen betrachtet, die keine eigene Verantwortung haben und deren Bestehen nur zu rechtfertigen ist, soweit es dem Interesse des ganzen Unternehmens dienlich ist.

Bei der Amtsenthebung des oben erwähnten Pfarrers, der den Be­amteneid auf Hitler nicht geleistet hatte, machte die Vertretung der Gemeinde beim Oberkirchenrat geltend, daß dieser durch sein Vor­gehen die Gemeinde zerstöre. Ein Oberkirchenrat erwiderte darauf, sie hätten über 1000 Gemeinden und könnten darum auf eine ein­zelne keine Rücksicht nehmen.

Der neue Weg

Im Neuen Testament ist jede Einzelgemeinde die Gemeinde Jesu Christi, im selben Sinn, wie es die Gesamtkirche ist. Die Einzelgemeinde ist der Ort, wo alle geistlichen Entscheidungen fallen. Darum übt sogar nicht einmal ein Apostel Kirchenzucht über den Kopf der Einzelge­meinde hinweg, sondern ermahnt sie, das selbst zu tun und gibt ihr Anweisungen dazu. In den reformatorischen Bekenntnissen wird die ganze Ordnung der Kirche auf dieser Verantwortung der Einzelgemeinde auf gebaut und diese gegen die Ansprüche der hierarchischen Bürokratie der katholischen Kirche in Schutz genommen.

Die Kirche müßte es wagen, wieder dorthin zurückzugehen, die Einzelgemeinde wieder in ihr geistliches Recht und ihre Ver­antwortung als die Kirche Jesu Christi einsetzen und ihre Büro­kratie abbauen. Das wäre der ihr heute gebotene Neuanfang, den sie im Glauben zu wagen hat. Was könnte sie hindern, die­sen Schritt zu tun? Doch wieder nur der Unglaube, der es nicht zu glauben wagt, daß das Wort Gottes „nicht leer zurück­kommt“ (Jes. 55, 11), sondern sich die Gemeinde schaffen wird. Der Glaube an den Heiligen Geist, den wir mit dem dritten Artikel bekennen, ist die einzige Voraussetzung für die neue Kirchenordnung, die wir brauchen.

Man wird einwenden, daß unsere volkskirchlichen Gemein­den für eine solche, auf der geistlichen Verantwortung der Ein­zelgemeinde aufgebaute Kirchenordnung noch nicht reif seien. Das mag sein, und wir geben uns über den Zustand unserer Gemeinden keiner Täuschung hin. Wenn man sie fragen würde, ob sie überhaupt eine solche Kirchenordnung wollen, die ihnen eine derartige Verantwortung auferlegt, so würden sie viel­leicht in den meisten Fällen den bisherigen Zustand vorziehen. der für sie weit bequemer war. Man wird zum Beispiel in Würt­temberg wenig Kirchengemeinderäte finden, die nicht lieber alle Verantwortung an den Oberkirchenrat abschieben möchten, als sie vor der Gemeinde selbst zu tragen. Eine jahrhundertealte Tradition rein obrigkeitlichen Denkens in der Kirche kann nicht ohne Folgen bleiben.

Aber es kann ja nicht darum gehen, daß wir den für die Ge­meinde bequemsten Weg wählen, bei dem die Evangeliumsverkündigung unverbindlich bleibt und praktisch niemand zu irgend etwas verpflichtet. Und wenn die Gemeinden sich mit ihrer jahrhundertelangen Entmündi­gung abgefunden und sich an sie gewöhnt haben, so muß diese Entmündigung eben einmal aufhören. Entweder macht dann das Wort Gottes die Gemeinden lebendig, wenn es in seiner entscheidenden und die Geister scheidenden Bedeutung verantwortlich verkündigt wird — auf andere Weise gibt es keine „lebendigen“ Gemeinden —, oder aber versagt die Verkündigung und die Gemeinden bleiben tot — dann ist mindestens nichts schlimmer als bisher.

Wir müßten uns nur darüber klar sein, ob wir glauben — wohlgemerkt: nicht sehen, sondern glauben — daß jede unserer so fragwürdigen Gemeinden die Kirche Christi ist. Und wie kann jemand Pfarrer sein ohne das zu glauben? Wenn wir aber das glauben, dann haben wir auch mit ihnen als der Gemeinde Christi zu handeln. Wir wissen dann, daß nicht das, was wir bei ihnen an Glauben feststellen zu können meinen, sie zur Kirche Christi macht, so daß wir von der einen Gemeinde sagen könn­ten, sie sei es schon, von der andern, sie sei es noch nicht ganz, und von der dritten, sie sei es noch gar nicht, sondern daß das allein die Berufung durch das Evangelium macht. Wo dann durch diese Gemeinde der Berufenen die unsichtbare Linie der göttlichen Erwählung hindurchgeht, können und dürfen wir nicht feststellen wollen. Sollte es mit all dem bei unseren Gemein­den grundsätzlich anders sein als bei den doch mitunter auch recht fragwürdigen Gemeinden des Neuen Testamentes?

Man wende hier nicht ein, die Glieder der neutestamentlichen Gemeinden seien alle durch eine persönliche Entscheidung und Bekehrung hindurch zur Gemeinde gekommen, weil sie ja als Erwachsene getauft worden seien. Man darf annehmen, daß es auch dort schon neben der Erwachsenentaufe die Kindertaufe gegeben hat, wenn ganze Hausgemeinschaften getauft wurden. Und wenn auch meist eine persönliche Entscheidung für den Glauben der Taufe vorausging, so konnte diese Entscheidung doch nicht verhindern, daß es in den Gemeinden viel Abfall in Unglauben, Irrtum, Gleichgültigkeit und Laster gab. Der Glaube, und damit auch die Gemeinde, lebte damals wie heute nicht von der ja immer fragwürdigen und unsicheren persönlichen Entscheidung des Einzelnen, sondern von der Verkündigung des Evangeliums in Predigt, Taufe und Abendmahl. Nur das war damals anders als heute, daß man diese schwachen Glieder der Gemeinde nicht einfach unbehelligt durch das Evangelium ihres Weges gehen ließ. Die Gemeinden wußten sich dafür verant­wortlich, daß das unter ihnen verkündigte Evangelium nicht durch Irrlehre verfälscht oder durch unbußfertiges Verharren in der Sünde verlästert werde und daß nicht durch Sektierer Spal­tungen in der Gemeinde entstünden. Wenn auch die Gemeinden in dieser Wahrnehmung ihrer Verantwortung oft lässig genug waren, wie die unaufhörlichen Ermahnungen der Apostel zu solchem verantwortlichem Handeln zeigen, so waren sie sich jedenfalls dieser ihrer Verantwortung bewußt. Das ist freilich ein entscheidender Unterschied — zu dessen Überwindung wir eben mit dieser Kirchenordnung einen neuen Anfang machen wollen.

Entwurf einer Ordnung für die Evangelische Landeskirche Württembergs[1]

Die Voraussetzung

Die in der württembergischen Landeskirche vereinigten evan­gelischen Gemeinden glauben und bekennen durch diese Ord­nung, daß sie die Kirche Jesu Christi im Gebiet des Landes Württemberg sind, in der Gemeinschaft mit den Kirchen des­selben Glaubens in den andern deutschen Ländern und darüber hinaus in der ganzen Welt. Die Gemeinden verstehen sich selbst als die eine heilige allgemeine apostolische Kirche im Sinn des dritten Glaubensarti­kels. Von ihnen gilt, was der Apostel sagt: „Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Prie­stertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, daß ihr ver­kündigen sollt die Tugenden des, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht“ (1. Petr. 2, 9). Darin allein wissen sie die Vollmacht ihrer Ämter und Ordnungen begründet und die mit diesen gesetzten Aufgaben nach innen und außen bestimmt und begrenzt.

Daß die einzelnen Gemeinden Subjekt des Handelns und Bekennens und darum auch die Träger der Ordnung der Kirche sind, entspricht dem Eingang des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses: Ecclesiae magno consensu apud nos docent. Also nicht die einzelnen, durch ihre Abgeordneten in Augsburg vertretenen Territorialkirchen als solche, sondern deren Gemeinden und Predigtstellen legen dieses Bekenntnis vor.

Es soll hier mit aller Entschiedenheit die Aufteilung der Kirche in eine Gemeinschaft der Heiligen, eine innere oder geistliche oder gar ideale Kirche und in eine Körperschaft weltlicher Art, eine un­eigentliche, äußere Kirche abgewehrt werden. Wenn die alte Kirche von den zwei Naturen Christi sprach, dann hat sie von seinen gött­lichen und seinen menschlichen Eigenschaften, von seinem Geist und seinem Leib, von seiner Hoheit und seiner Niedrigkeit geredet; aber der Gedanke ist bei der Zweinaturenlehre schlechthin unvollziehbar, daß der sichtbare Leib Christi, sein Tun, Reden, Leiden und Sterben nur äußerlich, nur uneigentlich, ja weltlicher Art gewesen sei. Dem­entsprechend haben die Reformatoren auch in der Lehre von der Kirche gelegentlich die Unterscheidung von außen und innen, von Kirche im weiteren und im engeren Sinn gemacht oder haben vom Leib und von der Seele der Kirche geredet, aber niemals im Sinn einer Aufteilung, niemals so, daß es erlaubt wäre, die äußere Kirche als Notbehelf anzusehen, als eine Einrichtung menschlicher Art gegen­über der wahren Kirche als dem Werk des Heiligen Geistes. Die fundamentale Lehre Luthers von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Christus, sein leidenschaftlicher Kampf gegen die Selbstherrschaft der verfaßten und rechtlich geordneten Kirche und ebenso gegen die Selbstherrschaft der reinen Geistkirche, also sowohl gegen eine nicht von der Verkündigung des Wortes Gottes bestimmte Ordnung wie gegen eine ungeordnet wilde Verkündigung, beweisen das unwiderleglich.

Es gibt nach der Schrift wie nach der Reformation nur eine Kirche, nämlich die Kirche Jesu Christi, in der es nach Gottes freier Wahl zu Erwählung und Verwerfung, zu Glaube und Unglaube, zu Gehorsam und Ungehorsam kommt, aber nur wo das Evangelium rein gepredigt, Irrlehre also verworfen wird. Allein um Christi, um seiner Gnade willen, um der Verheißung, also um der Verkündigung willen ist diese Kirche sein Volk, so wie das Volk Israel Gottes Volk bleibt trotz des Abfalls, und gehören die Getauften zur Kirche, ob­wohl nicht alle glauben. Eine Kirche bauen und erhalten wollen, die zunächst noch nicht Kirche Jesu Christi ist, aber es werden soll, widerspricht dem Sinn und Wortlaut der ganzen Schrift aber auch dem Sinn und Wortlaut der lutherischen Bekenntnisschriften, wider­spricht der Praxis der ersten Christenheit und der Reformation.

Zu allem Überfluß hat der Kirchenkampf gezeigt, daß nur eine Kirche, die sich selbst als bekennende, also als rechte Kirche, als Gemeinschaft der Herde Christi versteht, überhaupt ehrlich sein kann ohne Preisgabe des Herrschaftsanspruchs Christi, ohne Versün­digung gegen Gott und die Menschen und ohne Verschuldung gegen die Welt, daß nur eine solche Kirche zeigen kann, daß sie lehrt, was sie glaubt, und glaubt und tut, was sie lehrt. Wo immer die soge­nannten Bekenntniskirchen nur um die Erhaltung einer Rahmen­kirche, einer Rechtsordnung, einer Restfreiheit gekämpft haben, haben sie nicht geglaubt, daß Jesus ihr allmächtiger Herr, der Fels, die Burg, die Zuversicht und darum auch der Rechtsgrund ihrer Ord­nungen sei. Sie konnten darum auch nicht sagen, daß Christus an­greift, wer sie angreift, und waren deshalb in ihrem Widerstand so unsicher. Sie begnügten sich damit, daß der christusfeindliche Staat Christus wenigstens in der Kirche noch ein Betätigungsfeld offen lasse, und so ist die Bekennende Kirche zu einer gefangenen, entrechteten, unfreien Kirche geworden, weil sie die Herrschaft, Freiheit und Rechte des Herrn nicht fröhlich glaubte als Leib dieses Hauptes, als Tempel dieses Geistes, als Reben dieses Weinstocks.

Die bisherige Kirchenordnung hat zwar das Evangelium die Grund­lage der Kirche genannt, und hat die Unantastbarkeit des Bekennt­nisses betont, aber sie ist nicht auf dieser Grundlage gebaut worden und konnte deshalb auch bekenntniswidrige und unevangelische Pre­digt nicht verhindern, sondern mußte im Gegenteil die Prediger eines falschen und unreformatorischen Glaubens in ihrer Stellung schützen. Nur durch Preisgabe evangelischer Freiheit und der Verkündigung der vollen Autorität Christi auch über die Welt konnte wenigstens verhindert werden, daß die widerchristliche Verkündigung auch zur Herrschaft in der Kirchenleitung gelangte.

Diese Einklammerung und Unfruchtbarmachung des Bekenntnisses zu der Alleinherrschaft Christi und damit des Selbstverständnisses der Kirche als Kirche des Herrn findet sich in den ältesten Kirchen­ordnungen der württembergischen Landeskirche nicht. Wird die oben­genannte Voraussetzung nicht geltend gemacht, und erweist sie sich in der Ordnung selber nicht als durchgehend bestimmend, so wird das reformatorische allein durch den Glauben preisgegeben. Es bleibt nur die Entfaltung zu einer Weltkirche katholischer Ordnung oder die Flucht in eine Vereinskirche der Selbstpflege der Frömmig­keit in schwärmerischer Weise, je nach den Zeitumständen und gei­stigen Strömungen. Das Halten eines Gleichgewichts zwischen welt­lich geordneter Rahmenkirche und geistlich wirkender wahrer Kirche wäre eine schlechte Nachahmung der großartig verzahnten Grund­struktur der katholischen Kirche und der katholischen Lehre von Natur und Übernatur, von Vernunft und Offenbarung, von Welt und Reich Gottes, von Freiheit des Menschen und Allmacht Gottes. Weder Papsttum noch Mönchtum gehören in die evangelische Kirche, weil die Eine heilige christliche Kirche nach Geist, Seele und Leib dem Einen Herrn gehört und Er sie unsträflich, rein und unbefleckt haben und erhalten will bis auf seine Wiederkunft.

Die Bekenntnisgrundlage

Die württembergische Landeskirche steht durch ihre Ge­schichte in der Einheit mit der Kirche der Apostel. Sie glaubt, daß aller Irrtum und Abfall in dieser Geschichte diese Einheit nicht zerbrochen hat und die Verheißung Christi an seine Kirche bei ihr geblieben ist, weil sie sein Wort bewahrt hat. In diesem • Glauben weiß sie sich gebunden an das Wort Gottes im Zeug­nis der Apostel und Propheten in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes als der alleinigen Richtschnur und Norm für ihre Verkündigung.

Gemeinsam mit der alten Kirche bezeugt sie ihren Glauben durch das Apostolicum, Nicänum und Athanasianum. Mit der Confessio Augustana und der Confessio Virtembergica bekennt sie sich zu dem Weg, auf dem die Väter der Reformation das Evangelium in der Kirche wieder auf den Leuchter stellten.

Mit dieser Kirchenordnung macht die württembergische Lan­deskirche einen neuen Anfang nach Jahren schwerer Zerstörung und Verkündigung ihrer Ordnung. Sie bekennt sich dabei dank­bar zu der „Theologischen Erklärung von Barmen“ als dem der bedrängten Kirche in rechter Auslegung der Schrift und der reformatorischen Bekenntnisse geschenkten Wort zur Abwehr der Irrtümer unserer Zeit und weiß sich für ihre Verkündigung und Ordnung an diese Erklärung gebunden.

Mit der Evangelischen Reformierten Gemeinde Stuttgart steht die württembergische Landeskirche in der Gemeinschaft der Kirche Christi.

Sie weiß sich in dem Augenblick, in dem sie selbst einen neuen Anfang macht, in besonderer Weise verpflichtet, die Frei­kirchen und Sekten, die sich von den Reformationskirchen ge­trennt haben, zur Einheit der Kirche Christi zurückzurufen. Sie fordert diese auf, ihre Lehren neu an den reformatorischen Er­kenntnissen und Bekenntnissen zu prüfen und dort, wo keine Irrlehren sie daran hindern, alle unecht gewordenen Scheidungen rückgängig zu machend.

Trotz aller Verbundenheit in Glauben und Handeln zwischen evangelischen und katholischen Christen und der Gemeinsam­keit im Leiden und in der Abwehr der Irrtümer unserer Zeit ist eine Kirchengemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche so lange nicht möglich, als diese bei der Verwerfung der reformatorischen Gnadenlehre durch die Beschlüsse des Konzils von Trient beharrt und sich dadurch selbst den Rückweg in die Eine Kirche Christi verschlossen hält.

Die geschichtliche Einheit mit der Apostelkirche ist nicht durch die äußere geschichtliche Entwicklung der Kirche, aber auch nicht durch die Annahme einer gleichgebliebenen geistlichen Grundhaltung zu beweisen oder zu begründen, sondern sie wird geglaubt, weil die Kirche an die Verheißung fest glaubt und diese Verheißung aus der Schrift vernimmt und dem Zeugnis der Apostel gemäß wei­tergibt. Sie kann aber nur geglaubt werden, wenn die Kirche auf die Lauterkeit, Wahrheit und Treue ihrer Verkündigung acht hat und sich gegen Irrlehre schützt, die Schrift in ihrem ganzen Dasein herr­schen läßt, also auch ihre Ordnung dem Evangelium gemäß gestaltet und gegen Gewaltherrschaft wie gegen Willkür schützt.

Die Geltung der alten Bekenntnisse erinnert an die ge­meinsame Herkunft der Landeskirche mit den übrigen christlichen Kirchen. Die Tatsache der gespaltenen Christenheit erinnert aber auch an die heute verschiedene Auslegung dieser alten Bekenntnisse. Das verpflichtet die Landeskirche zu fortgehender Auseinandersetzung, zur Widerlegung oder Einigung mit anderen Kirchen ohne Selbstbehaup­tung, aber auch ohne Preisgabe der allein gültigen Wahrheit des Glau­bens an den alleinigen Herrn und vollkommenen Heiland, der Unge­horsame gehorsam und Ungerechte gerecht macht.

Auch bei Augustana und Confessio Virtembergica handelt es sich nicht nur um einen Zusatz zu den alten Bekenntnis­sen, sondern wie bei diesen alten Bekenntnissen um Ausschaltung der Irrlehren, die trotz der alten Bekenntnisse zur Herrschaft gekommen waren, also um die neue Auslegung dieser alten Bekenntnisse. Die Landeskirche bleibt nur damit auf dem Weg von den Aposteln zu den alten Bekenntnissen und von diesen zur Reformation und ihren Bekenntnissen und von diesen zur Gegenwart, wenn diese Bekennt­nisse nicht als alt und ehrwürdig wie Denkmäler vergangener Zeiten geschützt werden, sondern wenn sie für heute zur Auslegung der Schrift gebraucht, dabei erprobt und entsprechend dem Zweck, neu eingedrungene Irrlehren abzuwehren, erneuert, das heißt wieder­um selber neu ausgelegt und in neuem Bekennen auch zu neuen Be­kenntnissen verwertet werden. Eine heutige Kirchenordnung kann die­jenige Herzog Christophs nicht wiederholen, aber sie kann und soll ihrem Sinn und ihrer Grundhaltung entsprechen, sie so anwenden und erneuern für heute, daß das Verhältnis der Kirche zu ihrer eigenen Geschichte und zu den gegenwärtigen anderen Kirchen, zum Staat und zu sich selbst so klar wird wie das Verhältnis des Glaubens zu dem, was er glaubt, zu Christus und seinem Wort. Genau entsprechend muß auch die heutige Verkündigung im Verhältnis zu den alten und zu den reformatorischen Bekenntnissen stehen, nicht diese nur nach­sprechen oder sie in die -Liturgie aufnehmen, sondern sich an ihnen ausrichten, sie verwerten und verwenden und vor allem sie anwen­den in der Herstellung, aber auch in freier, sinnvoller Verwirklichung von Ordnung und Gemeinschaft. Die hier vorgelegte Ordnung soll das bestätigen, daß sie nicht bloß im Einklang mit den früheren Be­kenntnissen steht, sondern daß diese in ihr eine rechte evangelische Auslegung empfangen für die heutige Lage, Verheißung und Not der Landeskirche. Dies gilt erst recht von der Theologischen Er­klärung von Barmen, die von der Landeskirche angenommen, aber bis heute nicht zur Geltung gebracht worden ist. Gerade das Selbstverständnis der verfaßten und handelnden Kirche als der Kirch? Jesu Christi ist in jener Erklärung unzweideutig zum Ausdruck ge­bracht, aber ebenso auch als die alleinige Quelle der Ordnung das Evangelium nach der Schrift Alten und Neuen Testamentes an die Stelle der Wünsche und Forderungen der Zeit gesetzt.

Daß mit dieser Ordnung ein neuer Anfang gemacht wird, heißt nicht, daß die Kirche sich selbst neu begründen oder durch eine neue Ordnung selbst erneuern könnte, auch nicht, daß die Zeichen der Zeit als Aufforderung zu einer Neuordnung gedeutet werden, sondern daß die Forderung der tatsächlichen Buße auch der ganzen Kirche durch die täglich neue Gnade ihres Herrn gestellt und die er­kannten Fehlentscheidungen der letzten Jahrzehnte als solche betrach­tet werden, die wesentlich durch ein falsches Selbstverständnis der Kirche und durch das aus diesem falschen Verständnis hervorgegan­gene bisher gültige Kirchenrecht verursacht waren. Es gilt gerade nicht für die Kirche, daß sie auf den Zwang der Not warten oder nur mit Worten Buße tun darf oder erst auf innere Belebung der Gemeinden hinarbeiten muß, ehe sie abtut und ausscheidet, was in ihrer Ordnung vor der eigenen Verkündigung nicht bestehen kann. Es geht um eine gläubig und fröhlich, aber auch verantwortungsvoll und tatkräftig zu unternehmende Reform der Gestalt der Kirche und ihrer Be­ziehungen nach außen, um den Entschluß und die Entschlossenheit, in die Freiheit zurückzukehren, zu der uns Christus befreit hat, sich los­zumachen von den Satzungen nach der Welt und zu beweisen, daß der Glaube mächtiger ist als das geschichtlich Gewordene.

Die Offenhaltung, beziehungsweise Öffnung der Grenzen zu den Gemeinden reformierten Bekenntnisses in der Bezeugung der Gemeinschaft der Kirche Jesu Christi, die sinngemäß auch für die Gemeinden der preußischen Union gilt, bedeutet nicht die Ausschaltung der Lehrdifferenzen bezüglich des rechten Verständnisses von Wort und Sakrament, wohl aber die Erkennt­nis, daß ehrlicher­weise dort und hier nicht mehr von kirchentrennender Irrlehre, sondern nur von Lehrausprägungen verschiedener Richtungen geredet werden kann, wie sie im vergangenen Jahrhundert in viel stär­kerem Ausmaß innerhalb der Landeskirche ertragen und vielfach auch überwunden werden konnten. Der notwendige ernste Versuch, zur Einheit lauterer Verkündigung zurückzukehren, umfaßt damit von vornherein auch die reformierte Lehraus­prägung und den unierten Verwaltungszusammenschluß der beiden Kirchen. Was von den Frei­kirchen und Sekten gesagt ist, gilt damit in anderer Weise auch von den Gemeinden reformierten Bekenntnisses. In anderer Weise inso­fern, als hier in stärkerem Maße beide Teile auf die Kritik und Zu­stimmung der Gegenseite neu zu hören haben, da hier nicht ein deut­licher Abfall, eine Lostrennung nach der Richtung einer Sonder­kirche der Gerechten wie bei den Sekten vorliegt, sondern ein unausgetragener Streit der Reformationszeit selber auf Austrag und Bereinigung wartet, und bei der Union nur eine verwaltungsmäßige und unechte Bereinigung vorschnell beendet worden, also gerade keine kirchliche Einigung erfolgt ist. Die Gemeinschaft im Kampf gegen die Irrlehre der Deutschen Christen läßt die Einigungsbemühungen ernster, aber auch aussichtsreicher als im 16. Jahrhundert und im Unionsstreit erscheinen, da dabei ein gemeinsamer Grundschaden bei­der Kirchen zutage getreten ist.

Anders steht es hinsichtlich der Stellung zur katholischen Kirche. Außer der scharfen Ablehnung der reformatorischen Grundlehre von der freien Gnadenwahl Gottes und von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben, die im Trienter Konzil erfolgte, machte der Sieg des Papa­lismus im Vatikanum und die Herrschaftsordnung ein­schließlich des ganzen Eigengewichts des katholischen Kirchenrechts eine Kirchengemeinschaft mit dieser Kirche unmöglich und die gegen­seitige Beurteilung als abtrünnige Kirche heute noch unaufhebbar. Aber auch nach dieser Seite darf die Verantwortung zur Prüfung, Ver­mahnung und die Bereitschaft zum selbstlosen Hören nicht einer eigenen und darum überheblichen Selbstgewißheit so wenig wie einer endgültigen Resignation weichen; wohl aber schließt das Evangelium eine bloß äußerliche Angleichung ebenso aus wie einen Konkurrenz­kampf um Macht und Einfluß. Gerade in der Freiheit der Ordnung und in ihrer rechten Unterordnung unter die Verkündigung muß eine rechte evangelische Ordnung der Kirche die echte Trennung von der römisch-katholischen Kirche bewähren.

Einzelgemeinde und Gesamtkirche

Jede einzelne der in der württembergischen Landeskirche ver­einigten Kirchengemeinden ist im selben Sinn die Kirche Jesu Christi wie es die Gesamtkirche ist. Diese neutestamentliche Voraussetzung bestimmt die Ordnung aller Beziehungen zwi­schen Einzelgemeinde und Landeskirche. Die einzige Gewähr für die tatsächliche Einigkeit in der Landeskirche ist der durch den Einen Geist gewirkte Glaube an den Einen Christus in der Einen Schrift. Dieser Glaube schließt jeden Versuch einer ander­weitigen Sicherung dieser Einigkeit aus.

Für die Einzelgemeinde bedeutet dies die denkbar stärkste Verpflichtung, sich um die Einigkeit mit der Gesamt- kirche zu bemühen. Diese Einigkeit kann nur aus der Einheit von Lehre und Verkündigung kommen. Deshalb werden die Organe der Einzelgemeinde darüber wachen, daß in ihr keine falsche Verkündigung Raum gewinnt. Sie werden weiterhin für dieses Wächteramt den Dienst der von der Gesamtkirche dazu bestellten Organe in Anspruch nehmen, so wie sie umgekehrt diesen gegenüber dasselbe Wächteramt zu üben haben.

Wenn es auch „nicht not ist zu wahrer Einigkeit der Kirchen daß allenthalben gleichförmige Zeremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden“ (Conf. Aug. VII), so wird doch jede Einzelgemeinde darauf bedacht sein, in der Ordnung des Gottesdienstes und dem Gebrauch der Agenden, in der Bildung und Bewahrung kirchlicher Sitte und Zucht jede Willkür zu vermeiden. Sie wird um der Liebe willen überall da gemeinsame Ordnungen der Landes­kirche freiwillig übernehmen, wo diese zur Stärkung in der Gemeinschaft des Glaubens dienen können.

Die Gesamtkirche wird den von den Einzelgemeinden ihr aufgetragenen oder von diesen erbetenen Dienst in der Weise übernehmen, daß sie dabei keine Herrschaft über die Einzel­gemeinde ausübt. Sie hat sich in grundlegendem Unterschied von allen Verhältnissen der Über- und Unterordnung bei welt­lichen Behörden an das Wort Christi zu halten: „Die weltlichen Fürsten herrschen und die Oberherren haben Gewalt. So soll es nicht sein unter euch, sondern so jemand unter euch will gewaltig sein, der sei euer Diener und wer da will der Vor­nehmste sein, der sei euer Knecht. Gleichwie des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Matth. 20, 25—28).

Die Einzelgemeinde und nicht die Landeskirche ist die primäre Ge­stalt des Leibes Christi, weil nur unter der konkreten Verkündigung von Wort und Sakrament, wie sie in der Einzelgemeinde geschieht, die Kirche sich jeweils konstituiert. Weil das Amt der Verkündigung Christi Alleinherrschaft verkündigt, so hat die Landeskirche ihre Auf­gaben und ihren Dienst von den Gemeinden und nicht umgekehrt. Dazu kommt, daß der geographische Gebietsumfang, also Württem­berg, für das Wesen dieser Kirche vollständig gleichgültig ist. Damit wird ja nicht bestritten, daß es landschaftliche und historische Eigen­art gibt, wohl aber daß sie kirchlich etwas bedeutet. Die Verfassung und die Ordnung der Landeskirche kann im strengsten Sinn nur eine Bundesverfassung und Bundesordnung der Gemeinden sein, in keiner Weise aber ein Übergewicht der Landeskirche über die Gemeinden begründen und rechtfertigen. Unabhängigkeit der Gemeinden (Indepentismus) gibt es nicht, weil jede Gemeinde durch Christus ver­antwortlich ist für das unablässige Trachten nach Einigkeit im Geist und damit im gegenseitigen Dienst der Liebe. Selbständigkeit der Landeskirche über den Gemeinden gibt es aber ebenfalls nicht, weil sie durch Christus verantwortlich ist für den Einsatz aller ihr übertragenen Aufgaben unter das Predigtamt der Gemeinden. Eine Kirchenleitung kann nur ein Versuch sein, den Mißbrauch des Dien­stes zur Herrschaft so gut wie möglich zu verhindern und die Frei­heit der Wortverkündigung so gut wie möglich zu fördern. Gegen­seitiges Zeugnis, gegenseitige Verantwortung und gegenseitiger Dienst muß die Bewährung rechter Ordnung sein.

Es geht also nicht um die Verlagerung der Befugnisse von der Landeskirche auf die Gemeinden, auch nicht um das Gleichgewicht der Kräfte oder um die Trennung von gesetzgebender, ausübender und richterlicher Gewalt und um die Stärkung der Einheit durch Zen­tralisierung, sondern der Schwerpunkt aller Ordnung liegt in dem verbindenden und zwischen Einzelgemeinde und Gesamtkirche, das heißt in der Lebendigerhaltung der Gegenseitigkeit, der Verbunden­heit, der Bezogenheit, in der freien Beweglichkeit dienstwilligen Eifers zur Bezeugung der Macht des Evangeliums vor der Welt, weil wie­derum die Gesamtkirche durch die Einzelgemeinde den Heiden, der Nichtkirche, der Welt die herrliche Freiheit des Dienstes Christi zu beweisen hat. Deshalb die Betonung des Glaubens als des Garanten der Einigkeit, die Betonung der Liebe als der Feindin der Willkür, die Betonung des Dienstes als des Sinnes der Verschiedenheit von Über- und Unterordnung und in allem die Betonung der freiwilligen Verantwortung unter und vor Christus. Organisation ist eigentlich Werkzeugbeschaffung, Arbeitsvorbereitung. Je beweglicher und freier, leichter und flüssiger die Ordnung der Kirche ist, desto kirchlicher, fruchtbarer und arbeitsförderlicher wird sie sein. Der Leib Christi hat keinen Verfassungstypus, sondern ist Vorbild der Reinheit und der Hingabe im Opfer (Röm. 12, 1).

Das Kirchenregiment

Der Herr der Kirche ist Jesus Christus. Er regiert als das himmlische Haupt die Kirche als seinen Leib durch sein Wort und hat diese Herrschaft an niemand abgetreten.

Alles von Menschen geübte Regiment in der Kirche dient ausschließlich diesem Herrsein Christi, der durch sein Wort lehre, straft, ermahnt und tröstet. Der Anspruch des Kirchenregiments auf Gehorsam ist ausschließlich der Anspruch des Wortes selbst, die von ihm gehandhabte Gewalt ist ausschließlich das Geltendmachen des Wortes in seiner entscheidenden und die Geister scheidenden Bedeutung. Für alle Ämter in der Kirche gilt, was das Augsburger Glaubensbekenntnis vom bischöflichen Amt sagt: „Derhalben ist das bischöfliche Amt, nach göttlichen Rech­ten das Evangelium predigen, Sünde vergeben. Lehr urteilen und die Lehre, so dem Evangelio entgegen, verwerfen und die Gottlosen, deren gottlos Wesen offenbar ist, aus christlicher Gemeinde ausschließen, ohne menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort“ (Conf. Aug. XXVIII, 20 f.).

Es gibt keine kirchenregimentlichen Funktionen und Ämter in der Kirche neben und außer diesem Dienst am Wort, viel­mehr vollzieht sich das Kirchenregiment ausschließlich durch den Dienst am Wort selbst. Dieser ist ein Amt nur weil und sofern er dieser Dienst ist.

Den Auftrag und die Vollmacht zu diesem Dienst hat Chri­stus seiner Gemeinde gegeben. Sie übt dieses Amt aber nur ausnahmsweise in ihrer Gesamtheit selbst aus, überträgt es viel­mehr jeweils an einzelne Personen.

Die Form der Übertragung dieses Amtes ist menschliches Recht, das sich den jeweiligen Erfordernissen anpaßt. Die Über­tragung selbst geschieht im Namen des dreieinigen Gottes; die Ausübung des Amtes erfolgt deshalb mit der Vollmacht und Verheißung des Wortes Christi an seine Apostel: „Wer euch höret, der höret mich und wer euch verachtet, der verachtet mich. Wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat“ (Luk. 10, 16).

Die Ausübung des einen, der Gemeinde übertragenen Amtes geschieht in verschiedenen Funktionen, teils durch Organe der Einzelgemeinde, teils durch solche der Gesamtgemeinde.

Der Einzelgemeinde kommt das Predigt- und Schlüsselamt zu. Sie beruft zu seiner Ausübung den Pfarrer. Es ist der Gemeinde nicht freigestellt, ob sie das Predigt­amt durch einen bestimmten Diener am Wort besetzen oder etwa diesen Dienst ohne äußere Berufung wechselseitig aneinander ausüben will. So gewiß das Letztere die stets gebotene Pflicht aller Glieder der Gemeinde ist, die durch das Predigtamt nicht aufgehoben wird, so kann die Gemeinde doch nicht ohne das sichtbare Predigtamt sein, das Christus selbst eingesetzt hat und durch das er in seinem Wort der Gemeinde gegenübertritt. Ohne dieses würde der Verkündigung des Evangeliums die Verbind­lichkeit fehlen nach ihren beiden Seiten, dem Lösen und dem Binden. Es gäbe keinen Ort, an dem mit göttlicher Vollmacht die Sünden vergeben, aber auch der unbußfertige Sünder in Zucht genommen wird.

Die Gesamtkirche übt das von der Gemeinde ihr über­tragene Aufsichts- oder Bischofsamt aus. Es hat grundsätzlich keine andere Vollmacht als das Predigtamt des Pfarrers und unterscheidet sich von diesem nur durch die Be­rufung in einen umfassenderen Amtsbereich. Im Umfang dieser Berufung sind die Gemeinden und Pfarrer verpflichtet, ihm den Gehorsam von Luk. 10, 16 zu leisten. Der Bischof kann aber nicht über den Kopf von Gemeinde und Pfarrer hinweg das Schlüsselamt an sich ziehen, sondern muß es mit diesen gemein­sam ausüben.

Wo das Bischofsamt versagt, fallen die ihm übertragenen Funk­tionen wieder an die Gemeinde zurück.

Neben dem Predigtamt stehen in der Einzelgemeinde die Äl­testen, denen in der Gesamtkirche die Versammlung der Sy­node entspricht. Durch sie überträgt die Gemeinde nach einer bestimmten Ordnung das ihr übertragene Amt des Dienstes am Wort an Pfarrer und Bischöfe, und schafft und überwacht die Ordnungen, die der Gemeinde zur rechten Verkündigung und Unterweisung dienen. Die Ältesten haben aber auch selbst An­teil am Amt der Kirche, soweit sie mit dem Predigtamt zusam­men Lehre und Leben in der Gemeinde überwachen und in Zucht nehmen. Besonders gilt das für jene Fälle, wo beim Versagen von Bischöfen oder Pfarrern das Amt der Kirche an sie zurück- fällt und sie es selbst wahrnehmen müssen. Versagen auch sie, so fällt es entsprechend wieder an die Versammlung der gesam­ten Gemeinde zurück.

Die Vollmacht des Kirchenregiments ist eine menschliche, weil durch Wahl von Menschen übertragen; sie ist eine begrenzte, weil durch Kirchenordnung festgelegt; und sie ist eine persön­liche, weil sie in vollem Umfang persönlich verantwortet werden muß. Aber zugleich ist diese Vollmacht eine göttliche, da sie im Gehorsam gegen Gottes eigenes Wort ausgeübt wird; zugleich ist sie eine unbegrenzte, da sie die Vollmacht der Schlüssel des Himmel­reichs ist; und zugleich ist sie die ungeteilt gemeinkirchliche Vollmacht, da alle in Einem Leib und in Einem Geist dem Einen Herrn in der lückenlos allseitigen Verantwortung der Liebe zu dienen haben.

Die Schlüsselgewalt ist die oberste Gewalt der Kirche; deshalb kann keiner Gemeinde ein Pfarrer aufgezwungen werden. Sie ist aber auch die einzige Gewalt der Kirche; deshalb gibt es keine Aufteilung des Kirchenregiments in juristische und seelsorgerliche Funktionen. Kirchenrecht kann nicht mangelnde Übereinstimmung in der Lehre ersetzen. Auch die Form aller Ordnungsvollzüge, also aller Verordnungen muß erkennen lassen, daß es sich um ein gepre­digtes Recht, um Verkündigung im Namen des Herrn handelt, die der Zustimmung der Gemeinden bedarf. Gesetze müssen nicht nur im Geist des Glaubens erlassen, sondern auch nur als solche zu verstehen sein. Weil die Gemeinde durch ihr Amt bindet und löst, kann sie selber nicht anders gebunden sein als durch die Einhelligkeit des Glau­bens mit der Landeskirche. Sie kann von der Prüfepflicht gegenüber allen kirchenregimentlichen Funktionen nicht entbunden werden noch sich selbst entbinden. Die Schlüsselgewalt ist ferner ausschließlich Gewalt des Wortes. Diese ist größer und kräftiger als alles Ver­trauen zu den die Gewalt ausübenden Personen, aber auch als alle weltliche Gewalt der Drohung und des Zwanges und der Strafen. Es kann nur geistliche Strafe in der Kirche geben: Bestrafung durch das Wort. Ausnahmen können sein: Behebung von Notstän­den 1. in Ausübung der von den Eltern übertragenen Gewalt in der Kinderzucht und 2. in Ausübung der vom Staat allen Bür­gern zuerkannten Gewalt der Notwehr in Verhinderung von Stö­rung des Hausfriedens, das heißt eben des Wesens der Kirche, des Gottesdienstes.

Tut von euch selbst hinaus, wer da böse ist (1. Kor. 5, 13) heißt entschlossene Trennung von der Anarchie des Götzendienstes durch Lossagung und Absonderung in der Bereitschaft zur Vergebung und Wiederaufnahme. Diese geistliche Kirchenzucht kann im Versagen der Sakramente, des Patenamts, des Wahlrechts und der Steuer­annahme, der Konfirmation und des kirchlichen Begräbnisses bestehen, nicht aber in der Verwehrung des Zutritts zum Gottesdienst. Eine kasuistische Lebensordnung, nach der bei bestimmtem Verhalten automatisch kraft Gesetzes die entsprechenden Rechtsfolgen eintreten, hat mit geistlicher Kirchenzucht nichts zu tun.

Amtsübertragung als menschliches Recht, das sich den jeweiligen Erfordernissen anpaßt, heißt nicht weltliches Recht in dem Sinne, daß die jeweiligen Erfordernisse den Wünschen des Staates oder der Förderung landeskirchlicher Zentralgewalt Rechnung zu tragen hätten. Das heißt vielmehr nur, daß die Form (Wahl, Zuwahl, Vorschlags­recht, Stimmenverhältnis, Festlegung der Voraussetzungen für die Übertragung eines Amtes, zum Beispiel theologische Prüfungen u. a.) eine frei gewählte ist wie die ganze Kirchenordnung selbst. Es han­delt sich also immer um die Erfordernisse der Kirche und um die geistliche Vernunft der Menschen, die an die Autorität der Schrift gebundenes Recht setzen. Heutiges Erfordernis dürfte zum Beispiel die Abschaffung des Patronats sein.

Die Sichtbarkeit des Predigtamtes entspricht der Sichtbarkeit der Gemeinde. Es muß aber dafür Sorge getragen werden, daß die Ent­mündigung der Gemeinden durch Landeskirchenregiment und Pasto­renkirche aufhört. Das müßte 1. durch die Möglichkeit aktiver Teil­nahme der Gemeinde an der Stellenbesetzung, 2. durch das Beschwerderecht der Gemeinde beim Visitator und 3. durch jährliche Kirchenzuchtsversammlungen der Gemeinde geschehen. Andererseits sollte das Recht des Wegzugs eines Pfarrers (Bewerbung um eine andere Stelle oder Annahme einer Berufung) an die Zustimmung der Gemeinde gebunden sein.

Das Bischofsamt der Landeskirche muß der Tatsache Rech­nung tragen, daß die Landeskirche nur ein Bund von Gemeinden ist. Es darf deshalb nicht monarchisch sein. Der Titel Bischof sollte wieder verschwinden. Gerade weil ein Ansichziehen des Schlüsselamts über die Gemeinden und Pfarrer hinweg verhindert werden soll, ist der Satz von der bloßen Unterscheidung des Bischofsamts vom Pre­digtamt durch den größeren Umfang des Amtsbereiches einzuschränken durch den Satz, daß weder die Summe der Gemeinden noch die Summe der Pfarrer eine allgemeine Pfarrei bilden, in welcher der Bischof Pfarrer wäre, daß vielmehr die Landeskirche eine Vielzahl von Pfarrern wie von Gemeinden hat, die in freiem Zusammenschluß kraft einhelligen Glaubens ein Wächteramt gesetzt haben, das über die Einhelligkeit der Verkündigung und die Eintracht der Ordnungen Aufsicht führt. Das Schlüsselamt ist allerdings dasselbe, aber der Umfang des Amtsbereiches ist verschieden hinsichtlich des Ein­satzes dieses Amts — Verbindung der Gemeinden, Ordination, Hilfepflicht u. a. — nicht bloß hinsichtlich des raum- und zahlen­mäßigen Bereichs, da hier ja nicht die sonntägliche oder regelmäßige Predigt selber, sondern die Hilfe zum Predigtamt im Mittelpunkt sieht. Das Landeskirchenregiment ist ein Kollegium, nicht ein bischöfliches Pfarramt. Insofern steht es unter dem Pfarramt der Gemeinden, aber es ist also solches von besonderer geistlicher Autori­tät und steht insofern auch über den Gemeinden. Es kommt hier eben alles darauf an, daß tatsächlich Aufsicht, aber geistliche Auf­sicht geübt wird. Das wird deutlich am Ältestenamt und am Synodal­amt. Diese bezeugen die Gemeinsamkeit der Verantwortung vor Chri­stus, die Verbundenheit von Gemeinde und Pfarramt, beziehungsweise von Gemeinden und Landeskirche, und die gemeinsame Mühe um die Reinheit und Einheit der Kirche Christi nach innen und außen. Diese Kollegien tragen das Amt mit allen seinen Funktionen; deshalb können sie es übertragen, aber müssen auch wachen, daß es geistlich und nicht fleischlich verwaltet wird und haben in allem an die Echt­heit des im Namen Jesu Christi zu erinnern. Es geht nicht um den Kreislauf von Akten und nicht um die genaueste Abgrenzung der Zuständigkeiten, sondern um den lebendigen Kreis der Verantwort­lichkeit Aller für jeden Einzelnen und jedes Einzelnen für Alle. Nicht die Personen halten Amt und System, aber auch nicht Amt und Sy­stem halten die Personen, sondern das bezeugte Wort Gottes be­fähigt die Personen zum geistlichen Urteilen, und das System dient dem Wort Gottes zur Vergewisserung des Auftrags und zur Vermin­derung des Mißbrauchs.

Grundlinien für die konkrete Gestaltung des Kirchenregiments

Kirchengemeinderat: Urwahl durch die Gemeinde auf sechs Jahre nach einer „Kirchlichen Wahlordnung“. Alle zwei Jahre scheidet ein Drittel aus. Nur einmalige Wieder­wahl.

Pfarrer: Prüfung und Vorschlag durch Landeskirche, aber Entscheidung und Verantwortung bei der Gemeinde. Bei erst­maliger fester Anstellung Probezeit, dann Urteil der Gemeinde. Bei Versetzung Zeugnis des Kirchengemeinderats der bisherigen Gemeinde.

Kreissynode: Die Gemeinden entsenden ihre Pfarrer und ebensoviele Kirchengemeinderäte. Zuwahl von Frauen der Dia­konie möglich.

Dekan (Visitator des Kirchenkreises): Vorschlag der Lan­deskirche unter Bevorzugung der Diözesanpfarrer. Wahl durch Kreissynode auf sechs Jahre. Einmalige Wiederwahl möglich.

Landessynode: Jede Kreissynode entsendet einen Pfar­rer und einen Laien, große Kreise entsprechend mehr. Sechs­jährige Periode. Die Synode kann zehn Mitglieder zuwählen.

Sechs Prälaten: auf sechs Jahre von der Synode ge­wählt. Wechsel von einem Drittel alle zwei Jahre. Nur ein­malige Wiederwahl. Unter ihnen ist

1 Präses der Synode, Visitator für Stuttgart,
4 Visitatoren der vier Landkreise,
1 Visitator für unständige Geistliche, zugleich Leiter der theologischen Ausbildung und Prüfung; Aufsicht über Theologiestudenten nach einer „Ordnung der theologischen Ausbildung“.

Sie bilden zusammen als Landeskirchenrat die engere Kirchenleitung. Diese hat Vorschlags- und Bestätigungs­recht bei der Pfarrstellenbesetzung und regelt alle gemeinsamen geistlichen Aufgaben bezüglich Predigt, Jugendunterweisung und Liebestätigkeit unter Heranziehung von Referenten für einzelne Sachgebiete. Letztere gehören nicht zur Kirchenleitung.

Ausschuß der Synode: Zehn bis fünfzehn Mitglieder, von der Synode gewählt. Gleichgewicht von Theologen und Laien. Sie bilden unter Vorsitz des Präses der Synode zusammen mit den Prälaten die weitere Kirchenleitung, welche die gesamtkirchlichen Fragen, die nicht in den Verantwor­tungsbereich der einzelnen Visitatoren fallen, nach einer „Geschäftsordnung für die Kirchenleitung“ regelt und die Kirche nach außen vertritt. Sie kann ebenso wie die engere Kirchenleitung Referenten für einzelne Sachgebiete heran­ziehen, u. a. Juristen für die Vermögensverwaltung und andere Fragen, die mit dem staatlichen Recht zu tun haben.

Grundsätzlich soll jeder Visitator und jeder theologische Referent zugleich ein wenn auch kleines Pfarramt versehen. Im Gehalt werden sie den Pfarrern gleichgestellt und bekommen nur eine Dienstauf­wandsentschädigung. Das entspricht dem Dienen von Matth. 20, 25 ff.: nicht ein Mehr an Macht, Geld oder Ehre, sondern nur an Arbeit und Verantwortung.

Die sechs Visitatoren versehen je in ihrem Bereich das bischöfliche Amt im Einvernehmen mit Gemeinde und Kreis­synode einerseits und der engeren Kirchenleitung andererseits, aber in eigener Verantwortlichkeit. Einzelheiten regelt die „Visitationsordnung“, die an die Stelle der bisher gel­tenden kirchlichen Erlasse und Gesetze einschließlich des Dis­ziplinargesetzes tritt. Sie regelt auch das Verfahren der Kir­chenzucht. Zu Amtsenthebungen muß die weitere Kirchen­leitung Stellung nehmen. Die letzte Entscheidung liegt in allen Fällen der Kirchenzucht bei der Einzelgemeinde. Entscheidet sich eine Gemeinde gegen den Rat der Kirchenleitung für einen Irrlehrer, so schließt sie sich damit selbst aus der Kirche aus.

Das kirchliche Vermögen

Alles kirchliche Vermögen gehört Christus als dem Herrn der Kirche und dient ausschließlich der Verkündigung des Evange­liums und dem Werk der Diakonie. Verfügungsberechtigt ist jeweils grundsätzlich, wer die Verantwortung für die Verkün­digung hat. Darnach regelt sich:

  1. Die Verteilung des Vermögens zwischen Einzelgemeinde und Landeskirche.
  2. Die Vermögensauseinandersetzung bei Kirchenzuchtsverfahren.

Zu 1. Die Einzelgemeinde ist Eigentümer des ortskirchlichen Vermögens. Ihr freies Verfügungsrecht ist zugunsten der Ge­samtkirche eingeschränkt einerseits durch ihre Verpflichtung, gesamtkirchliche Aufgaben mit zu finanzieren und andererseits durch ihren Anspruch an das gesamtkirchliche Vermögen im Falle der Bedürftigkeit. Beides gibt der Gesamtkirche Recht und Pflicht, die ortskirchliche Vermögens Verwaltung zu beaufsich­tigen, was aber die Selbstverantwortung der Gemeinde nicht aufheben und diese nicht entmündigen darf.

Die Landeskirche ist Eigentümerin des gesamtkirchlichen Vermögens, das nicht einer Ortsgemeinde gehört. Verfügungs­berechtigt ist die Kirchenleitung. Sie verwendet das Vermögen für gesamtkirchliche Zwecke und zum Lastenausgleich zwischen den Gemeinden. Sie hat dabei nach Billigkeit zu verfahren und insbesondere jede Ausübung eines finanziellen Drucks zur Durchsetzung kirchenregimentlicher Maßnahmen zu unterlassen. Einzelheiten regelt eine „Ordnung der kirchlichen Vermögensverwaltung“.

Zu 2. Wird ein Pfarrer seines Amtes enthoben, so hat er das in seinem Besitz befindliche Kirchengut an die Gemeinde zurückzugeben. Vor seinem Amtsantritt verpflichtet er sich, für diesen Fall auf Anrufung außerkirchlicher Gerichte zu ver­zichten.

Wird eine Gemeinde wegen Festhaltens an einem Irrlehrer aus der Landeskirche ausgeschlossen, so gehört das Vermögen der etwa verbleibenden landeskirchlichen Minderheit.

Fallen beim Versagen der landeskirchlichen Organe alle Rechte an die Gemeinde zurück, so verfügt diese auch frei über das Kirchenvermögen.

Als allgemeine Regel gilt, daß Ansprüche, die nicht durch Vereinbarung durchgesetzt werden können, nicht bei außer- kirchlichen Gerichten klagbar sind, sondern auf sich beruhen bleiben müssen.

Die Verpflichtung der Mitfinanzierung der Landeskirche wird jähr­lich neu übernommen in Festsetzung eines Pauschbetrags und bestimm­ter Kollekten. Eine Trennung von Orts- und Landeskirchensteuer ent­fällt. Das Überhandnehmen von Sonderfonds sollte verschwinden. Eine Ersparniswirtschaft kann heute christlich nicht gutgeheißen werden. Das landeskirchliche Aufsichtsrecht darf keine Änderung des Haus­haltplanes befehlen, sondern darf nur beraten, Vorschlägen und emp­fehlen. Streitfälle schlichtet der Vermögensausschuß der Landessynode.

Die Aufbringung der Gelder

Die finanzielle Beisteuer der Kirchenglieder ist ein freies Opfer des Glaubens und schließt jede Zwangsbesteuerung aus. An Hand einer allgemeinen Veranlagung besteuert sich jeder selbst. Es ist die Aufgabe der Verkündigung, zum Opfer als Frucht des Glaubens zu ermahnen und diesem Teil des Gottes­dienstes die gebührende Stellung im Bewußtsein der Gemeinde zu verschaffen.

Werden ausgesprochen oder tatsächlich mit einer Gabe For­derungen kirchenfremder Einflußnahme verbunden, sei es von Privatpersonen oder öffentlichen Stellen, so ist die Gabe ab­zulehnen.

Wer sich am Opfer der Gemeinde nicht beteiligt, obwohl er dazu in der Lage wäre, kann in Kirchenzucht genommen werden.

Bei der kirchlichen Versorgung einer Gemeinde durch die Landeskirche ist deren Opferwilligkeit zu berücksichtigen.

Staatsleistungen an die Kirche sind soweit zu beanspruchen, als sie Entschädigungen für eingezogenes Kirchengut darstellen.

Andere von Staat oder bürgerlichen Gemeinden freiwillig übernommene finanzielle Verpflichtungen aus früherer Zeit bleiben freiwillig, auch wenn die Kirche einen Rechtsanspruch darauf erlangt hat.

Staat und Kirche

Die Kirche als der Leib Jesu Christi, der als Licht und Salz das Heil für die Welt durch die Menschwerdung Christi sicht­bar verkörpert, ist ihrem Wesen nach ein „öffentlicher Körper“. Sie ist das durch die Stiftung Christi in Kraft ihrer eigenen geistlichen Vollmacht, unabhängig davon, ob und in welcher Form der Staat sie als solche anerkennt.

Für die Form dieser Anerkennung wird die Kirche dem Staat von sich aus folgenden Vorschlag machen:

Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche werden nicht einseitig durch Staatsgesetz geregelt, sondern durch gegenseitige Vereinbarung in einem Staatsvertrag. Dieser hat im wesentlichen folgende Punkte zu enthalten:

  1. Der Staat erkennt die Kirche an unter einer nur für sie geltenden Rechtsform. Sie untersteht weder dem Körperschafts- noch dem Vereinsrecht, sondern ist eine juristische Person sui generis.
  2. Der Staat erkennt die Kirchenordnung als innerkirchliches Recht an und enthält sich aller Eingriffe in die durch diese be­stimmte Verkündigung, Lehre und Ordnung der Kirche.
  3. Der Staat schützt die Gottesdienste und Einrichtungen der Kirche (z. B. Sonntagsruhe) und gibt der Kirche alle ihr not­wendig erscheinenden Möglichkeiten des öffentlichen Auftretens.
  4. Die Staatsleistungen aus dem eingezogenen Kirchengut werden neu geregelt.
  5. Die Kirche verpflichtet sich, alljährlich einen Prüfungsbe­richt durch einen öffentlich zugelassenen Wirtschaftsprüfer über ihre Vermögensverwaltung anfertigen zu lassen und dem Staat vorzulegen. Haben die staatlichen Behörden und Gerichte in Finanzangelegenheiten mit der Kirche zu tun, so ist die „Ord­nung der kirchlichen Vermögensverwaltung“ für sie geltendes Recht in bezug auf die Kirche.
  6. Läßt der Staat evangelischen Religionsunterricht in den staatlichen Schulen erteilen, so hat er der Kirche mit dem Auf­trag zu diesem •Unterricht auch die Auswahl der Lehrer und die Beaufsichtigung des Unterrichts zu überlassen. Kem Lehrer darf zur Übernahme dieses Unterrichts gezwungen werden.
  7. Die evangelisch-theologische Fakultät in Tübingen ver­bleibt im Rahmen der staatlichen Universität. Die Besetzung der Lehrstühle erfolgt wie bisher durch Senat und Kultmini­sterium. Die Kirche hat ein Vetorecht, wenn der Staat einen‘ Professor berufen will, der nicht auf dem Boden des Bekennt­nisses der Landeskirche steht.
  8. Die Errichtung von privaten oder kirchlichen Bekenntnis­schulen (einschließlich der theologischen Seminare) wird erlaubt, und über die staatliche Beaufsichtigung des Unterrichts eine be­sondere Vereinbarung getroffen.

Der Begriff öffentlicher Körper bezeichnet die Sichtbarkeit, Öffent­lichkeit und Rechtskraft der Kirche, schränkt aber in keiner Weise das Wesen der geglaubten Kirche als der geglaubten Gemeinschaft der Heiligen ein. Diese Kirche fordert Anerkennung ihres Wesens nach ihrem eigenen Selbstverständnis. Auch der Staat soll sich ihren Dienst gefallen lassen. Er soll in freier Vereinbarung ihre Öffentlichkeit schützen und fördern. Die Kirche hat keine Ansprüche im weltlichen Sinne; sie herrscht schon durch das Wort Christi in der Knechtschaft. Der Staat hat keine Ansprüche über die Kirche; er dient sich selbst am besten, wenn er die Freiheit der Religion schützt, ohne deren Mißbrauch zur Erlangung weltlicher Macht Vorschub zu leisten. Es hängt von der Kraft des Glaubens an die Autorität des Wortes und damit von der Reinheit der Verkündigung ab, inwieweit auch dem Staat die Heilsbedeutung der Kirche und damit auch die Beschränkt­heit seiner eigenen Macht einsichtig wird. Wie der Staat das Wort paritätisch, also die Gleichberechtigung der Konfessionen verstehen will, kann ihm nicht vorgeschrieben werden, aber die Verkündigung der Alleinherrschaft Christi gilt auch ihm; und je mehr evangelische Christen für den Staat verantwortlich denken und handeln, und je selbstloser die Kirche Kirche ist, desto leichter wird sich das Verhält­nis von Kirche und Staat von Fall zu Fall regeln.

Gerade an der für die Kirchen äußerst wichtigen Stelle, nämlich bei der Besetzung der theologischen Lehrstühle, wo es um das Ver­hältnis von Glaube und Wissenschaft geht, droht die Diktatur einer Weltanschauung des Staates. Aber gerade hier kann die Kirche nur dankbar sein, wenn ihr von der Humanität her auch die Gefahr des engen Konfessionalismus und Klerikalismus immer neu aufgedeckt wird und sie auch von der Welt her zu freier Verantwortlichkeit aufgefordert ist und sie überhaupt zur Rechenschaft ihres Glaubens und ihrer Hoffnung aufgerufen wird von der Welt.

Richtlinien für eine kirchliche Wahlordnung

Das Wahlrecht in der Kirche, das heißt das Recht, über ihre Leitung und Ordnung mitzubestimmen, beruht auf dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen. Dieses bedeutet, daß grundsätzlich jeder Christ durch seine Taufe berufen ist, jedes Amt innerhalb der christ­lichen Gemeinde auszuüben. Nur weil er selbst der Träger dieses Amtes ist, kann er es einem andern übertragen — um es im Notfall auch selbst auszuüben. Darum ist jede kirchliche Wahlhandlung für den Christen eine Betätigung seines Priestertums.

Das kirchliche Wahlrecht unterscheidet sich damit grundsätzlich von dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht einer demokratischen Staatsverfassung, bei aller formalen Ähnlichkeit. Der kirchliche Wäh­ler verfügt in seinem Wahlakt nicht selbst über die „Kirchengewalt“, so wie der bürgerliche Wähler über die „Staatsgewalt“ verfügt, son­dern darüber verfügt allein Christus als der Herr der Kirche. Der Priesterdienst des Wählens wie nachher der des Gewählten schafft nicht die Kirchengewalt, sondern ist ein jeweils neuer Dienst an der immer schon bestehenden Kirchengewalt Christi zum Zweck ihres jeweils neuen Wirksamwerdens.

Der kirchliche Wähler ist in seiner Entscheidung gebunden und nicht frei, so wie es der bürgerliche Wähler ist. Dieser kann zum Bei­spiel sein Wahlrecht dazu benützen, um Grundlage und Zweck des Staates völlig zu verändern. Wenn er sich dabei der Mittel bedient, welche von der Verfassung als der für alle Wähler gültigen Ab­machung vorgesehen sind, ist dieses Bestreben nicht rechtswidrig. Der kirchliche Wähler dagegen kann den Zweck und die Grundlage der Kirche nicht verändern — eben weil er nicht über die Kirchengewalt verfügt —, sondern er kann durch sein Wählen nur dazu mithelfen, die bestehende Grundlage der Kirche in ihrer Leitung und Ordnung zur Geltung zu bringen. Würde er durch sein Wahlrecht die Freiheit in Anspruch nehmen, auch gegen diese Grundlage der Kirche zu han­deln, so wäre das rechtswidrig, auch wenn es auf verfassungsmäßigem Wege geschehen würde.

Eine kirchliche Wahlordnung wird daher immer eine doppelte Aufgabe haben: einerseits die rechte Betätigung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen in der Ausübung des Wahlrechts zu er­möglichen, andererseits aber dessen falsche, das heißt ungebundene und willkürliche freie Betätigung zu unterbinden, soweit das mög­lich ist.

Die Wahlordnung hat von der Voraussetzung auszugehen, daß sie es in den Gliedern der Gemeinde mit Christen zu tun hat, was in den bisherigen Wahlgesetzen mit ihrem grundsätzlichen Mißtrauen gegen den Wähler keineswegs selbstverständlich ist. Die Kirche hat diese Wähler getauft, und diese haben sich in der Konfirmation zu ihrem Christsein auf Grund ihrer Taufe bekannt (vergleiche Frage 3 bis 5 des württembergischen Konfirmandenbüchleins). Es mag sein, daß viele Wähler das nicht oder nicht mehr ernstnehmen; aber die Kirche hat das um so mehr zu tun, indem jedenfalls sie die Wähler bei ihrem Christsein behaftet. Sie fordert darum alle Gemeindeglie­der zur Betätigung ihres Priestertums in der Wahl auf.

Die Wähler bekunden ihre Bereitschaft dazu, indem sie sich in die Wählerliste eintragen. Wer diesen Willen nicht zum Ausdruck bringt, kann auch nicht wählen. So wird die Eintragung in die Wäh­lerliste als Voraussetzung für die Wahl eine gewisse Scheidung unter den Wählern vollziehen, die aber durchaus in die eigene Entschei­dung der Wähler gestellt bleiben muß.

Wer sich in die Wählerliste eingetragen hat, bekundet damit seinen Willen, als getaufter Christ seine Verantwortung für die Leitung und Ordnung der Kirche zu betätigen. Nunmehr hat die Gemeinde durch ihre verantwortliche Vertretung zu prüfen, ob der Betreffende auch fähig ist, das zu tun. Nach welchen Gesichtspunkten hat das zu ge­schehen?

Vor allem kann der Glaube selbst beim Wähler nicht geprüft werden. Das darf auch nicht indirekt geschehen, indem man aus einem bestimmten Verhalten positiv oder negativ auf den Glauben schließt, zum Beispiel Gottesdienstbesuch, Teilnahme am Abendmahl, Betäti­gung in kirchlichen Vereinen, kirchliche Trauung usw. Gewiß kommt der Glaube aus der Predigt und kann nicht in Ordnung sein ohne rechten Gebrauch des Gnadenmittels von Wort und Sakrament; aber man kann über das Maß dieses Gebrauchs kein Gesetz aufstellen, nach dem man dann auch den Glauben messen könnte.

Anders ist es, wenn es sich um eine Verachtung dieser Gnadenmittel handelt, die für die Gemeinde erkennbar ist und Ärgernis erregt. Diese kann etwa darin liegen, daß jemand sein Kind nicht taufen läßt, daß er ein getauftes Kind der christlichen Unter­weisung entzieht, daß er sich an einer Sektiererei beteiligt, daß er unbußfertig einen lasterhaften Lebenswandel führt usw. In diesen Fällen ist er in Kirchenzucht zu nehmen. Diese verfügt über kein anderes Zuchtmittel als das Wort und über keine andere Strafe als dem Versagen des Wortes in bestimmten Fällen, also im Ver­sagen der Sakramente, der Konfirmation, der kirchlichen Trauung oder Beerdigung, nicht aber in der Verwehrung des Zutritts zum Gottesdienst. Dem in Kirchenzucht Genommenen kann die Ausübung bestimmter Funktionen seines priesterlichen Dienstes in der Ge­meinde untersagt werden, etwa das Patenamt, das Wahlrecht, das Bezahlen der Kirchensteuer. All das geschieht mit der Absicht, den Betreffenden dadurch auf den Weg der Buße zu weisen, in der steten Bereitschaft zur Vergebung und Wiederaufnahme.

Es läßt sich kein allgemeingültiges Gesetz darüber aufstellen, in welchen Fällen die Kirchenzucht einzusetzen hat. Das hängt wesentlich davon ab, wieviel geistliches Verantwortungsbewußtsein die Gemeinden selbst, vor allem aber auch ihre Pfarrer und Ältesten haben. Es ist durchaus denkbar, daß die eine Gemeinde schon das beharrliche Fernbleiben vom Gottes­dienst zum Gegenstand der Kir­chenzucht macht, während die andere erst bei sehr viel auffallenderen Verstößen einsetzt. Wieviel man hier einer Gemeinde zumuten kann, läßt sich nicht von außen her bestimmen, etwa durch allgemeine An­ordnungen der Kirchenleitung. Es läßt sich auch nicht nach dem Be­lieben des Pfarrers festsetzen, ohne Rücksicht auf den Erkenntnis- Stand der Gemeinde. Da die Kirchenzucht nur durch das Wort geübt wird, ist sie nur dort möglich, wo zugleich das Wort in seiner heils­entscheidenden Bedeutung verkündigt wird und so sein Charakter als Gnadenmittel der Gemeinde bekannt ist. Kirchenzucht und rechte Verkündigung bedingen sich gegenseitig, und es wird eine de> wich­tigsten Aufgaben der Visitation sein, beides in Einklang zu bringen und eben dadurch das geistliche Verantwortungsbewußtsein in der Gemeinde zu fördern.

In den meisten evangelischen Kirchen gibt es eine sogenannte „Lebensordnung“, in der alle Fälle einzeln aufgeführt werden, in denen die Kirche einen Verstoß gegen ihre Ordnung sieht, und welche Strafen daraus folgen. Sie sind genau nach dem Vorbild der katholischen Kirche gemacht, auch darin, daß die Kirchenleitung von diesem Gesetz dispensieren kann. Damit wird den Hütern der Ge­meinde ihre Verantwortung nicht etwa erleichtert, sondern abge­nommen und eine geistliche Kirchenzucht absolut unmöglich gemacht.

Zu dieser gehört, daß bestimmte Menschen dem irrenden Bruder gegenüber persönlich die Verantwortung für ihre Ermahnung und ihre Maßnahmen tragen und vor der Gemeinde dafür einstehen. Sie müssen selbst urteilen, ebenso wie sie selbst vergeben müssen. Bei­des kann ihnen nicht durch ein Gesetz abgenommen werden, das zu­dem auch keine individuelle Behandlung des einzelnen Falles zuläßt.

Was von einer solchen Lebensordnung zu sagen ist, gilt in glei­cher Weise von den Bestimmungen über das ,,Ruhendes Wahl­rechts“. Die württembergische KGO enthält zum Beispiel in §16 Abs. 3 eine solche Aufzählung von Fällen, in denen das Ruhen des Wahlrechts als Rechtsfolge von selbst eintritt (Unterlassung der evangelischen Trauung, evangelischer Kindererziehung usw., auch Rückstand mit der Bezahlung der Kirchensteuer). Das ist aus den genannten Gründen mit einer geistlichen Kirchenzucht unvereinbar. Nur wenn der Kirchengemeinderat in einem solchen Fall den Betref­fenden eigens in Kirchenzucht genommen hat, kann er als Folge da­von das Ruhen des Wahlrechts verfügen; dies kann aber nicht kraft Gesetzes von selbst eintreten.

In Abs. 2 ZifI. 3 ist als Grund der „Ausschließung vom Wahlrecht“ genannt, daß jemand „durch unehrbaren Lebens­wandel oder schwere Verfehlungen öffentliches Ärgernis gegeben hat“. In diesem Fall bedarf es nach dem Gesetz eines entsprechenden Beschlusses des Kirchengemeinderats. Damit könnte an sich die Wahl zum Anlaß für einen Akt echter Kirchenzucht werden, womit die Sache in Ordnung wäre, falls auch sonst, vor oder nach der Wahl, in der Gemeinde Kirchenzucht geübt würde. Aber so ist es nicht ge­meint, sondern der Ausschluß von der Wahl ist nur der Ersatz für die sonst fehlende Kirchenzucht und hat außer dem Entzug des Wahl­rechts keine Bedeutung.

Das Wahlrecht wird damit aus einer Funktion des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen zu einem kirchlichen Ehrenrecht gemacht, das mit der Erfüllung gewisser Pflichten gegeben ist und dessen Verlust geistlich gar nichts zu bedeuten hat — genau so wenig wie sein Besitz. Mit all dem befinden wir uns überhaupt nicht mehr auf dem geistlichen Boden der Kirche, sondern im Gebiet des staat­lichen Denkens mit seinem Gesetz.

Eine kirchliche Wahlordnung kann als einzigen Grund für das Versagen des aktiven Wahlrechts enthalten, daß der Betref­fende in Kirchenzucht genommen ist. Dem Kirchengemeinderat, der dafür allein die Verantwortung trägt, kann lediglich durch allge­meine Ratschläge in der Wahlordnung und vor allem durch die spe­zielle Visitation zur rechten Ausübung dieser Zucht geholfen wer­den. Die Formulierung in der Wahlordnung könnte etwa lauten:

„Das Wahlrecht ruht, solange einem Kirchengemeindeglied im Ver­lauf eines Kirchenzuchtverfahrens durch den Kirchengemeinderat die Befähigung zur Ausübung des Wahlrechtes abgesprochen worden ist.

Ein solches Verfahren kann auch erst durch die Prüfung der Wäh­lerliste veranlaßt sein. Die Aberkennung des Wahlrechts kann aber nur in Verbindung mit einer oder mehreren anderen Maßnahmen der Kirchenzucht geschehen (Ermahnung vor dem Kirchengemeinderat oder öffentlich vor der Gemeinde, Versagen der Sakramente oder einzelner kirchlicher Handlungen, Ausschluß vom Patenamt und vom Recht, Kirchensteuer zu bezahlen).

In Kirchenzucht genommen werden soll, wer durch Mißachtung des christlichen Glaubens, der Kirche, ihrer Lehre und Ordnungen oder durch seinen Lebenswandel der Gemeinde Ärgernis gegeben hat.

Über die Einleitung eines Kirchenzuchtverfahrens entscheidet der Kirchengemeinderat.“

Für das passive Wahlrecht kann als weitere Bestimmung nur hinzugefügt werden, daß der zu Wählende am Gottesdienst der Gemeinde teilnimmt und sich ausdrücklich vorher bereit erklären muß, die mit seinem Amt gegebene Verpflichtung auf sich zu nehmen. Wahlvorschläge kann jeder Wahlberechtigte beim Pfarramt einreichen, wenn er die dafür, je nach Größe der Gemeinde vorge­schriebene Zahl von Unterschriften vorweisen kann. Die Vorschläge sind auf einem einzigen Stimmzettel zu vereinigen, damit nicht nach Parteien gewählt wird.

Wird praktisch in den Gemeinden keine Kir­chenzucht geübt, so kann eben auch keine Wahl­zucht geübt werden. Dieses geistlich verantwortliche Han­deln in den Gemeinden ist die Voraussetzung für alles geistliche Verantwortungsbewußtsein in den kirchlichen Vertretungskörpern. Wo diese Voraussetzung fehlt, wird die Kirche nie erwarten kön­nen, daß ihre synodalen Organe kirchlich handeln werden; und sie wird umgekehrt durch deren Versagen sich veranlaßt sehen müssen, sich um diese Voraussetzung zu bemühen.

Alle anderen Versuche, die kirchlichen Wahlen sachgemäßer zu gestalten, sei es durch verschärfte gesetzliche Bestimmungen über die Erteilung des aktiven und passiven Wahlrechts, sei es durch eine Vorzensur der Wahlvorschläge oder sei es gar durch eine verstärkte Feierlichkeit bei der Wahlhandlung, sind ungeistlich und darum auch praktisch wertlos.

Der Mißbrauch des kirchlichen Wahlrechts zu einer kirchen­fremden Einflußnahme ist nur ein Spezialfall des allgemeinen Mißbrauchs des Evangeliums. Die Möglichkeiten, durch die Kirchenzucht der mißbräuchlichen Verkehrung der evangelischen Freiheit in die freie Willkür des natürlichen Menschen zu wehren, sind praktisch immer nur gering. Eine evangelische Kirche kann aber aus dieser Erfahrung nicht den Schluß ziehen, daß die Verkündigung des Evan­geliums zu gefährlich sei und man darum von vornherein einige Ab­striche machen und gesetzliche Sicherungen anbringen müsse. Sie wird vielmehr auf alle Gefahren hin wagen, das Evangelium rein und unverkürzt zu verkündigen. Anders kann sie die Menschen nicht zu der Freiheit rufen, „zu der uns Christus befreit hat“ (Gal. 5, 1). Ebensowenig kann sie wegen des möglichen Mißbrauchs des kirch­lichen Wahlrechts das allgemeine Priestertum, auf dem dieses beruht, einschränken und damit zunichte machen. Wenn sie durch Predigt und Taufe zur Gemeinde ruft, dann tut sie es allein im Glauben an die ihr gegebene Verheißung des Heiligen Geistes, der den Glauben wirkt und die Gemeinde erbaut. Sie kann dann aber nicht gleich­zeitig diesen Glauben praktisch widerrufen, indem sie ihr Handeln durch das Mißtrauen gegen die Gemeinden und ihre Glieder bestim­men läßt.

Die Gefahr, daß eine kirchenfremde Macht die Gewissen verwirrt und auf dem Weg über die Wähler zur Herrschaft in der Kirche zu gelangen sucht, besteht immer. Ihr kann aber durch kein Wahlgesetz begegnet werden, sondern allein durch die rechte Verkündigung des Evangeliums. An dieser hat es im Jahre 1933 gefehlt, als diese Ge­fahr akut wurde, und darum wäre diese Gefahr damals auch mit dem besten Wahlgesetz nicht zu bannen gewesen.

Nachwort: Kirchenordnung und Demokratie

Würde die Kirche, etwa um eine Wiederholung des Einbruchs der Fremdherrschaft im Jahre 1933 zu vermeiden, ein Wahl­recht einführen, das nicht allgemein jedem Kirchenglied — mit Ausnahme der in Kirchenzucht Genommenen — die freie Mög­lichkeit des Wählens gibt, so würde sie sich dem heute immer­hin gewichtigen Vorwurf aussetzen, „undemokratisch“ zu han­deln. Das brauchte an sich auf die Kirche noch keinen Eindruck zu machen, da sie ja nicht wiederum die Absicht haben kann, ihre Ordnung den jeweiligen politischen Verhältnissen anzu­passen. Sie könnte sogar, wenn sie sich die Abwehr sehr leicht machen wollte, erwidern, daß sich zuvor die Politiker darüber einigen sollten, was sie überhaupt unter „Demokratie‘ ver­stehen; das sei bislang noch keineswegs klar und eindeutig.

Nun ist aber der Kirche eine solche Einschränkung ihres Wahlrechts aus ihren eigenen, geistlichen Gründen verboten, weil sie unvereinbar wäre mit dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen, das sie verkündigt. Sie müßte sich schon darum hüten, sich die Abwehr allzu leicht zu machen. Würde gegen eine solche Einschränkung nicht nur aus der Kirche, sondern auch aus der politischen Welt Einspruch erhoben, so würde das natürlich nicht ohne weiteres heißen, daß die Widersprechenden über christliche Argumente und geistliches Urteilsvermögen ver­fügen. Sie könnten in der Tat nur eine neue „Gleichschaltung“ der Kirche im Auge haben.

Die Politiker könnten vielleicht aber auch so argumentieren: Wir haben im politischen Leben nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: entweder dem allgemeinen und gleichen Wahl­recht oder einer irgendwie gearteten Diktatur, sei es die einer Klasse (zum Beispiel das frühere preußische „Dreiklassenwahl­recht“ oder das Klassenwahlrecht des sowjetrussischen Staates vor dessen neuer Verfassung von 1936), sei es die eines Ein­zelnen (wobei die Wahl wie im Dritten Reich zur bloßen Akkla­mation wird). Wenn wir uns für die erste Möglichkeit entschei­den, so setzen wir das Dasein einer praktischen Vernunft vor­aus, die bei sachgemäßer Handhabung der politischen Dinge eine verantwortliche öffentliche Willensbildung und ein ent­sprechendes poetisches Handeln ermöglicht und gewährleistet. Wir wissen selbst um alle Einwände, die man aus vielfacher Erfahrung gegen diese Voraussetzung machen kann. Wir hatten keine Möglichkeit, diese Voraussetzung durch unsere politischen Erfahrungen zu befestigen. Wir haben sie aber auch nicht aus einer philosophischen Theorie über das Wesen des Menschen gewonnen, so viele derartige Versuche sich uns auch auf dräng­ten. Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir gestehen, daß alle unsere theoretischen Begründungen und Sicherungen, die wir für diese Voraussetzung zu haben meinten, gegen das bru­tale Faktum des Dritten Reiches nicht standhielten. Nun klam­mern wir uns wieder an diese Voraussetzung, gegen alle prak­tische Erfahrung, ohne alle zureichende theoretische Begrün­dung — einfach deshalb, weil wir unter einer Diktatur nicht menschenwürdig, und das heißt überhaupt nicht leben können. Diese simple Tatsache steht fest, wenn uns auch alles andere fragwürdig geworden ist.

Wir haben in dieser zwangsläufigen Situation, die ihr eine verzweifelte nennen mögt, von euch in der Kirche eine Hilfe erwartet, ohne freilich sagen zu können, worin sie besteht, da wir wahrscheinlich nicht als Christen gelten können. Und nun führt ihr in eurem eigenen Bereich eine Wahlordnung ein, die — wir reden politisch, wie wir es eben verstehen — nichts anderes bedeutet als wiederum eine Diktatur, eine solche der Kirchenleitung über die Gemeindeglieder oder der Christen erster Klasse über die Masse, der man keine Verantwortung anvertrauen kann. Wart ihr euch dessen bewußt, was das für uns in der politischen Welt bedeutet? Wir wissen, daß die Vor­aussetzung, von der wir leben, gleichbedeutend ist mit dem Glauben an die Macht des Geistes in der Welt, und dieser Glaube ist uns wahrhaftig schwer genug gemacht worden. Ihr verkündigt uns, daß die Voraussetzung eures Handelns der Glaube an die Wirksamkeit des Heiligen Geistes sei. Wir kön­nen wiederum nicht beurteilen, was das ist und in welchem Ver­hältnis dieser Heilige Geist zu dem steht, was wir Geist nennen. Aber wir stellen uns das etwa so vor, daß dieser Heilige Geist, weil durch ihn Gott selbst im Menschen handelt und wirkt, all das wirklich kann, was wir von unserem eigenen Geist erhoffen und glauben möchten, so fragwürdig es uns auch gemacht wor­den ist. Wir meinten also, daß wenigstens ihr jener Voraus­setzung, die wir machen müssen, für euer Zusammenleben sicher wäret. Darin haben wir uns offenbar getäuscht. Was für eine Hilfe können wir da von euch noch erwarten für die Ordnung unseres politischen Zusammenlebens?

Es wird nicht zu bestreiten sein, daß die politische Welt heute so fragen und ihr Vorwurf des „undemokratischen“ Han­delns so gemeint sein könnte. Dann müßte die Kirche diesen Vorwurf aber sehr ernst nehmen. Es würde sich ja dann nicht mehr darum handeln, daß eine ihrer Sache selbst sichere Staats­gewalt die politische Gleichschaltung der Kirche fordert. Es handelte sich vielmehr umgekehrt um die Frage des Staates an die Kirche, ob sie ihm helfen kann, seiner Sache seihst sicherer zu werden. Und wenn tatsächlich diese Frage aus der politischen Welt an die Kirche gar nicht gestellt würde, so müßte sie die Kirche sich selbst stellen. Sie kann ja nicht wohl der Meinung sein, daß sie zu der Ordnung der politischen Dinge nichts bei­zutragen habe und die politische Welt mit ihren Nöten einfach sich selbst überlassen müsse.

Jene Politiker könnten auch noch weiter und noch dring­licher fragen: Wir nehmen mit Bedauern, und zwar um unserer selbst willen mit Bedauern zur Kenntnis, daß sogar die Gemein­schaft der christlichen Kirche nicht imstande ist, sich selbst eine Ordnung zu geben, die auf der freien und gleichen Mitverantwortung ihrer Glieder beruht. Aber nun fragen wir euch, und zwar euch als einzelne Glieder der christlichen Gemeinde, die ihr zugleich auch Bürger des politischen Gemeinwesens seid und euch als solche betätigen müßt: Was für Voraussetzungen bringt ihr für diese Betätigung aus eurem christlichen Glauben mit? Glaubt nun ihr an die Macht des Geistes, an die wir glauben möchten und glauben müssen, wenn wir uns nicht wieder einer Diktatur ausliefern sollen? Können wir darum von euch erwar­ten, daß ihr euch an unsere Seite stellen werdet, die wir eine rechtliche und sittliche Ordnung der praktischen Vernunft ver­wirklichen wollen, oder werdet auch ihr wie die Vielen resi­gniert und des politischen Treibens müde beiseite stehen und damit die Ordnung der politischen Welt wieder irgendeinem kommenden Diktator überlassen?

Wir werden uns der Dringlichkeit dieser Frage nicht mit dem Argument entziehen können, daß der christliche Glaube grund­sätzlich neutral sein müsse gegenüber jeder politischen Ordnungs­form. Wir sind gefragt, wie wir uns zwischen zwei gegebenen Möglichkeiten des politischen Handelns entscheiden wollen und können dieser Entscheidung nicht ausweichen. Die Frage ist zu­dem in einer ganz konkreten Situation gestellt: wir können jetzt nicht darüber diskutieren, ob es nicht verwegen wäre, etwa einen Negerkral nach den Grundsätzen der freien und gleichen Mit­verantwortung aller seiner Glieder regieren zu wollen, oder ob es nicht notwendig und zudem barmherzig wäre, ihm seinen autokratischen Häuptling zu lassen. Das kann sein, aber das geht uns im Augenblick gar nichts an. Wir haben die Frage für un­sere eigene politische Umwelt zu beantworten, die in ihren gei­stigen, rechtlichen und sittlichen Möglichkeiten nicht zuletzt auch dadurch bestimmt ist, daß sie seit vielen Jahrhunderten die christliche Kirche in ihrer Mitte hatte. In dieser politischen Welt sind wir aber nicht nur die Erben einer reichen Tradition, son­dern wir sind durch die Tatsache, daß trotz dieser Tradition ein Hitler möglich war, in stärkster Weise dazu verpflichtet, aus un­serer akademischen Reserve herauszutreten und dieser Tradition in verantwortungsbewußtem politischem Handeln gerecht zu werden.

So sind wir ganz konkret gefragt, welche Voraussetzungen wir aus unserem christlichen Glauben für das politische Handeln hic et nunc mitbringen, und wir werden darauf antworten müs­sen : Ja, wir glauben an die Macht des Geistes auch im politischen Leben, und wir werden darum an eurer Seite mitarbeiten an einer solchen rechtlichen und sittlichen Ordnung der politischen Dinge, die das Dasein einer praktischen Vernunft voraussetzt. Wir werden sogar das, was ihr vielleicht nur zwangsläufig und in stetem Kampf mit der Verzweiflung tun müßt, mit großer Zuversicht und Gewißheit tun.

Diese Zuversicht haben wir nicht aus unserer Erfahrung ge­wonnen; wir können euch auch keine theoretische Begründung dafür geben, daß ihr den Menschen all das zutrauen dürft, was ihr praktisch von ihnen erwartet. Wir wissen so gut wie ihr um all die Erfahrungen, die einen bei dem politischen Bemühen müde und verzweifelt machen wollen. Wir wissen sogar wahr­scheinlich noch besser darum als ihr, weil wir dort, wo ihr viel­leicht meint, nur gegen die menschliche Unzulänglichkeit und Dummheit ankämpfen zu müssen, das Böse als eine aktive Ge­genmacht des Guten am Werk sehen, die durch keine bloße Auf­klärung und durch keinen Appell an den guten Willen zu über­winden ist. Der Optimismus, von dem ihr weithin lebt und leben müßt, kommt für uns nicht mehr in Betracht. Wir können darum auch nicht mehr so unbefangen von „Menschenwürde“ und „Menschenrechten“ reden, auf die sich die Menschheit als auf ihr unverlorenes und unverlierbares Gut zurückbesinnen müsse. Dieser Regreß könnte auch ins Leere greifen.

Aber wir leben in der Welt, in welcher und für welche Jesus Christus gestorben und auferstanden ist. Damit ist diese Welt nicht mehr von Gott und allen guten Geistern verlassen. Dar­um haben wir es in ihr nicht mehr mit den Menschen als solchen zu tun, wie sie nach ihren natürlichen Möglichkeiten im Guten wie im Bösen sind, sondern für jeden einzelnen von ihnen wie für uns selbst ist Jesus Christus gestorben und auferstanden, da­mit wir wieder die objektive Möglichkeit haben, in der Freiheit der Kinder Gottes zu leben. Wir können keine systematische Theorie darüber aufstellen, wie sich der Heilige Geist zu dem Geist des Menschen, die Freiheit der Kinder Gottes zu der menschlichen Freiheit verhält und umgekehrt, aber soviel wis­sen wir jedenfalls, daß der Heilige Geist sich an unseren Geist wenden will — „derselbe Geist gibt Zeugnis unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind“ (Röm. 8, 16) — und darum können wir den Geist nicht verleugnen. Und wenn wir auch nur zu gut von den Dämonen und Dämonien wissen, welche diese Freiheit be­drohen, so kennen wir jene doch nur mehr als solche, die durch Christi Siegeszug entmächtigt sind. Wir wissen von ihnen als der steten Anfechtung unseres Lebens und Tuns, die aber von Christus schon überwunden ist. Wir können darum nicht mehr anders mit ihnen zu tun haben und uns anders auf sie einlassen als auf eine Möglichkeit, die im Glauben immer schon überwun­den ist.

So verkündigen wir unseren Glauben an die Auferstehung Jesu Christi als den Grund unserer Zuversicht, mit der wir mit­arbeiten, um die politische Welt nicht wiederum jenen Dämo­nien anheimfallen zu lassen. Es braucht uns niemand zu sagen, daß diese Welt noch nicht das Reich Gottes ist, und daß kein irdischer Staat in seinen Ordnungen die Ordnung des Reiches Gottes vorwegnehmen kann, die erst mit der Wiederkunft Christi auf die Erde kommen wird. Es ist dafür gesorgt, daß wir das nicht vergessen; und wir werden uns durch keinen, auch noch so eindrucksvollen Fortschritt in Richtung auf die Ver­wirklichung des Reiches der praktischen Vernunft zum Glauben an eine fortschreitende Vergöttlichung der politischen Welt ver­leiten lassen. Wir werden aber auch der uns immer wieder viel näher liegenden Versuchung nach der anderen Seite nicht nach­geben, die uns einreden will, daß wir vor einer fortschreitenden Verteufelung dieser Welt die Waffen strecken müßten. Wenn es in der Offenbarung des Johannes heißt, daß nicht nur die einzelnen Menschen in die auf die Erde herabgekommene Got­tesstadt eingehen werden, sondern daß auch die Reiche dieser Welt als solche und das heißt die irdischen Staaten durch ihre Herrscher ihre Macht und Herrschaft in sie einbringen werden (Kap. 21, 24 ff.), dann kann es so wenig wie beim einzelnen Menschen gleichgültig sein, in welchem Zustand sie sich an je­nem Tag befinden und was sie vorzuweisen haben werden. Wie sollte sich darum nicht gerade der Christ mehr als jeder andere verantwortlich wissen für die politische Ordnung des realen Staates, in dem er lebt? Dann gehört es aber auch mit zu der politischen Verantwortung der Kirche vor der Welt und für die Welt, daß sie ihre eigene Ordnung auf der freien und gleichen Mitverantwortung ihrer Glieder aufzubauen wagt.

Es war dagegen durchaus kein Zeichen von politischem Verantwortungsbewußtsein, als die Kirche nach 1918 ihre Verfas­sung der demokratischen Staatsverfassung anpaßte und das so­genannte Repräsentativsystem mit der Unterscheidung der drei Gewalten, der legislativen, exekutiven und richterlichen Gewalt auch für die Ordnung der Kirche übernahm. Das war vielmehr eindeutig ein Akt der politischen „Gleichschaltung“ der Kirche, und zwar wurde er freiwillig von der Kirche selbst vorgenom­men und kann deshalb nicht einmal, wie im Jahr 1933, mit dem Druck der Staatsgewalt entschuldigt werden. Es ist notwendig, sich das klarzumachen, weil man es heute in den Kirchenleitun­gen fast überall für selbstverständlich hält, daß jetzt, nachdem in der politischen Welt die Demokratie wieder zum Zug ge­kommen ist, an den demokratischen Errungenschaften der Kirchenverfassung nichts geändert zu werden braucht und auch nichts geändert werden darf. Und daß die Kreise der politischen Demokratie, die das ja nicht besser zu verstehen brauchen als die Vertreter der Kirche selbst, dem zustimmen, ist naheliegend.

Es wird, besonders nach den Erfahrungen mit dem Dritten Reich, keinen verantwortungsbewußten und verständigen Poli­tiker mehr geben, der wieder hinter den von Montesquieu auf­gestellten Grundsatz der Gewaltenteilung und die Nachprüfbar­keit der Verwaltung durch einen unabhängigen Richterstand zu­rückgehen wollte, weil sich niemand mehr getrauen wird, ohne diese Voraussetzungen eine rechtliche und sittliche Ordnung des politischen Lebens aufzubauen. Das ist es, was man heute ge­meinhin unter „Demokratie“ versteht, wenn man es auch, neben­bei gesagt, im Anschluß an Kant besser und unmißverständlicher als „Republik“ bezeichnen würde, weil eine bloße Demokratie, die nicht durch eine mit Autorität ausgestattete Regierung reprä­sentiert wird, jederzeit wieder in eine Diktatur, und zwar die Diktatur der Masse oder der Straße umschlagen kann. Was in dieser Republik die Rechtssicherheit gewährleistet, ist der von der Legislative wie von der Exekutive unabhängige Richterstand, der den zum Gesetz erhobenen Volkswillen vertritt, ‚indem er im Namen des Gesetzes eben diesem Volkswillen gegenüber­steht und ihm gegebenenfalls auch gegen dessen Widerstreben, gleichgültig ob dieses von der Regierung, der Volksvertretung oder einzelnen Volksgenossen kommt, Geltung verschafft.

Dieses Verfahren ist aber für die Kirche nicht anwendbar. Die christliche Gemeinde ist kein „Kirchenvolk“, die Synode kein „Kirchenparlament“, die Kirchenleitung keine „Kirchenregie­rung“. Und das ist deshalb so, weil die Herrschaft in der Kirche, die „Kirchengewalt“ weder der Kirchenleitung noch der Synode noch den Kirchengliedern einzeln oder in ihrer Gesamtheit zu­steht, sondern allein dem Herrn der Kirche, Jesus Christus. Er übt diese Herrschaft aus durch sein Wort, nicht in der Weise, daß aus der Bibel als „Gesetzbuch“ unmittelbar Vorschriften für die Ordnung der Kirche oder das Verhalten ihrer Glieder abzu­lesen wären, sondern dadurch, daß dieses Wort mit der Voll­macht des Predigtamtes in der konkreten Situation jeweils neu verkündigt wird und durch den Heiligen Geist Glauben findet. Richtig gehandelt wird in der Kirche dann, wenn das Handeln aus dem Glauben geschieht. Zu diesem Glauben kommt es durch die jeweils neue Konfrontation mit dem Evangelium in der per­sönlichen Verantwortung des Handelnden vor demselben.

Zu diesem Handeln aus Glauben durch den persönlich ver­antwortlichen Einzelnen muß die Kirchenordnung helfen. Sie kann dieses Handeln aber nicht ersetzen. Der letztere Ver­such kann in der monarchischen Form des römisch-katho­lischen Kirchenrechts gemacht werden: das kirchenrechtlich legi­tim vollzogene Handeln der Hierarchie, das in den Kathedral­entscheidungen des Papstes gipfelt, garantiert ex opere operato die Zustimmung des Heiligen Geistes und damit die unfehlbare Gültigkeit der Entscheidungen. Dieses System weiß sich als Gan­zes in Übereinstimmung stehend mit der Heiligen Schrift. Dar­um ist es nicht mehr notwendig, das Handeln im einzelnen vor dieser auszuweisen. Es ist aber auch gar nicht mehr möglich, das zu tun, da die Heilige Schrift doch nur noch mit den Augen der durch die Hierarchie sanktionierten und umgekehrt diese be­gründenden Tradition gelesen werden kann. Gegenüber diesem monarchischen Prinzip, wie es in seiner protestantisch erweichten Form des bischöflichen Führertums auftrat, hat die Barmer Bekenntnissynode in ihrem vierten Satz erklärt: „Die verschie­denen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft des einen über die andern, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Füh­rer geben oder geben lassen.“

Das bedeutet aber nicht, daß nun an die Stelle des monarchi­schen Prinzips das demokratische treten könnte, um durch eine als Parlament verstandene Synode dieses Handeln aus dem Glauben zu garantieren, und das heißt praktisch durch Gesetzes­beschlüsse zu ersetzen. In unseren demokratischen Kirchenver­fassungen vertritt die Synode als Parlament die Legislative, die Kirchenleitung als Regierung die Exekutive, und ein unabhän­giges Disziplinargericht sorgt für die formale Einhaltung des Gesetzes. Man erhebt dabei zwar theoretisch nicht den Anspruch der römisch-katholischen Kirche, daß in dem Funktionieren die­ses Apparates der Heilige Geist selbst am Werk sei und betont dagegen den bloß menschlichen Rechtscharakter dieser Ordnung. Aber praktisch bedeutet das, daß innerhalb dieses Systems die persönliche Verantwortung des Einzelnen vor dem Evangelium ebensowenig notwendig und möglich ist wie bei dem monar­chischen Führerprinzip. Die formelle Gültigkeit der von der Le­gislative beschlossenen Gesetze läßt sich durch keine Berufung auf das Evangelium mehr anfechten; die Exekutive ist an diese Gesetze gebunden; und das Disziplinargericht kann ebensowenig diese Gesetze an dem Evangelium nachprüfen, sondern hat nur ihre formale Durchführung zu überwachen. Der Heilige Geist, der durch das Wort der Schrift die Kirche regieren will, ist hier in derselben Weise an das System gebunden wie dort und hat genau so wenig Möglichkeiten, an diesem vorbei durch den per­sönlich verantwortlichen Glauben des Einzelnen zu wirken.

Es ist darum ein völlig gegenstandsloser Streit, wenn gefragt wird, ob für die Kirche eine bischöflich-monarchische Verfassung angemessener sei als eine synodal-demokratische. Es sind beide Formen gleich unmöglich, wenn man sie, wie das gemeinhin geschieht, vom Politischen her versteht und darum mißversteht. Der Heilige Geist ist in beiden Fällen gleichermaßen ausgeschlos­sen, weil er nur durch die persönliche Verantwortung des mit dem Evangelium konfrontierten Einzelnen hindurch wirkt und nicht als Agens in ein System eingeht.

In der von uns vorgelegten Kirchenordnung gibt es keine Ge­waltenteilung. Die von der Gemeinde mit der Ordnung der Kirche beauftragte Synode sorgt auch selbst für die Durchfüh­rung dieser Ordnung. Die von ihr beauftragten Organe der Lei­tung, die selbst Glieder der Synode sind, handeln in Bindung an die Kirchenordnung, müssen aber ihr Handeln persönlich im Glauben vor der Heiligen Schrift und den Bekenntnissen der Kirche verantworten. Für dieses Handeln sind sie der Synode und durch diese den Gemeinden Rechenschaft schuldig, be­son­ders auch dann, wenn dieses Handeln sie in Gegensatz zur Kir­chenordnung führen sollte. Die Synode hat dann wieder in der Verantwortung -vor der Schrift die Kirchenordnung zu überprü­fen und gegebenenfalls den Betreffenden in Kirchenzucht zu nehmen. In dieser Ordnung, in der alle dem Einen Herrn in der allseitigen Verantwortung der Liebe zu dienen haben, kann sich keine selbsttätig herrschende Ordnung des Gesetzes festsetzen, die durch die Verantwortung des Glaubens nicht mehr anzu­fechten wäre. Sie hat auch keinen Raum für eine Kirchenregie­rung, die nur das persönlich nicht verantwortliche Organ zur Aus­führung von Parlamentsbeschlüssen wäre. Und weil in ihr nicht die „Disziplin“ unter dem formalen Recht die Ordnung auf­rechterhält, sondern der persönliche Glaube in gegenseitiger Verantwortung und Zucht, hat sie neben der Ordnung der Kir­chenzucht keine Verwendung mehr für eine unabhängige Disziplinargerichtsbarkeit. Die eine, unteilbare Herrschaft Christi über die Kirche läßt keine Teilung der Gewalten im Kirchenregiment zu.

Von außen, das heißt mit den Augen des Politikers gesehen, wird man diese Kirchenordnung sowohl monarchisch wie demo­kratisch nennen können, je nachdem man an die große persön­liche Verantwortung der leitenden Organe denkt oder aber an Recht und Pflicht aller Gemeindeglieder, von jenen Rechenschaft zu verlangen. Praktisch wird auch meist das Gewicht nach der einen oder anderen Seite verlagert sein, je nachdem der Wille und das Vermögen zu verantwortlichem Handeln bei den Män­nern der Leitung oder bei der Synode stärker ist. Das braucht kein Fehler zu sein — man denke etwa an die Bedeutung des einen Mannes Calvin innerhalb seiner synodalen Kirchenord­nung — wenn nur die Kirchenordnung die Möglichkeit gibt für die allseitige Verantwortung vor der Heiligen Schrift. Indem sie das tut und auf Grund des allgemeinen Priestertums aller Gläu­bigen sich an die Verantwortlichkeit aller Gemeindeglieder wen­det. wird sie, gerade indem sie ihre Ordnung nicht politisch „gleichschalten“ läßt, indirekt auch jene Verantwortlichkeit im politischen Leben fördern, deren die Demokratie bedarf.


[1] Der Kommentar von Paul Schempp ist kursiv gesetzt.

Hier der Text als pdf.

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