Von Helmut Thielicke
Wie sollen sich die Christen in der Sowjetzone zum Pankower Staat stellen? Die Frage wird seit kurzem, vor allem seitdem Karl Barth seinen „Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik“ veröffentlicht hat, wieder mit Leidenschaft diskutiert. Im folgenden Beitrag unternimmt es Professor Helmut Thielicke, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Thielicke, dessen Einstellung sich von der seines Baseler Kollegen Barth sehr unterscheidet, ist seit dem Jahre 1954 Ordinarius für Systematische Theologie an der jungen Theologischen Fakultät der Hamburger Universität.
Immer wieder erreichen mich von jenseits des Eisernen Vorhangs verzweifelte Briefe von Christen, die nicht mehr wissen, wie sie sich ihrem Staat gegenüber verhalten sollen. Wenn ich einmal den Versuch mache, die wesentlichen Gedanken, die sich in solchen Briefen finden und die in einer qualvollen Monotonie immer wiederkehren, zusammenzufassen, dann sieht dies etwa folgendermaßen aus:
Das Neue Testament sagt, daß jede Obrigkeit von Gott stammt und daß wir ihr darum untertan sein sollen. Außerdem gehört zur christlichen Tradition von jeher der Glaubenssatz, daß der Staat ein gnadenvolles Geschenk Gottes ist, das er in diese Welt eingebracht hat, um das Chaos zu verhüten und um Ordnung zu ermöglichen. Denn eine Welt, die von Aufstandsmächten bedroht ist, eine Welt, in der Einzel- und Gruppenegoismen zur Herrschaft drängen und in der sich das Diesseits von Gott gelöst und selbständig gemacht hat, eine solche Welt bedarf einer mit Macht ausgestatteten Ordnung, um die Welt vor ihren zentrifugalen und rebellischen Kräften zu bewahren.
Die Not des Gewissens
Aber, so fragen die Stimmen von drüben: Gleicht denn dieser unser „Staat“ auch nur in irgendeinem wesentlichen Zug jenem göttlichen Entwurf? Ist er nicht, statt einen Wall gegen das Unrecht zu bilden, selber eine Legalisierung des Unrechts? Drängt er nicht zynisch und unter Mißachtung der Menschenrechte, ja sogar unter Mißachtung seiner eigenen feierlich proklamierten Verfassungssätze auf gewaltsame Durchsetzung seiner Ideologien? Übt er nicht Gewissenszwang aus und ist er nicht vom Leitbild eines unmenschlichen Termitenstaates bestimmt? Und einen solchen Staat sollen wir noch als Obrigkeit, als göttliches Mandat achten und ehren? Begreift ihr im Westen unsere Verwirrung und unsere Gewissensnot? Eure Propaganda – so sagen die Stimmen von drüben weiter – gibt uns nicht selten zu verstehen, daß wir nur in der Opposition gegenüber diesem Staat, also in der konsequenten Verneinung leben sollten. Aber geht das denn so einfach? Wir fragen euch: Kann denn ein Mensch, und gerade ein junger Mensch, staatenlos leben? Ist das nicht eine abstrakte, unwirkliche Existenz? Müssen wir nicht Kontakte suchen, wo sie einigermaßen möglich sind? Können wir denn überhaupt den finanziellen und moralischen Bankrott dieses Staates wünschen? Wir alle können doch nicht fliehen! Muß man nicht um aller Menschen willen, die hier bleiben müssen, irgendeine Form der Kollaboration und der Loyalität finden – auch wenn wir dann vielleicht später einmal als „Kollaborateure“ eine neue Form der Entnazifizierung über uns ergehen lassen müssen?
Auch ihr westlichen Theologen – so lassen sich die Stimmen weiter vernehmen – macht uns vielfach noch verwirrter, als wir sowieso schon sind. Einige von euch sagen uns: Euer Staat sei ja gar nicht antichristlich, sondern nur handfest achristlich, nutzt die Möglichkeiten, die er euch immerhin noch läßt.
Aber es stimmt ja doch gar nicht, daß unser Staat auch nur eine Spur von Neutralität hätte. Er erobert mit seiner atheistischen Ideologie die Schulen, er raubt uns die Jugend und nötigt die Heranwachsenden zu der antichristlich gemeinten Jugendweihe, er sperrt unsere Studentenpfarrer ein, er hindert unseren seelsorgerlichen Dienst an denen, die in ihren Konflikten und Gewissensqualen zu uns kommen.
Was sollen wir also tun? Mit dieser bedrängenden Frage pflegen die Briefe von drüben zu schließen.
Was sollen wir, die wir im Westen leben, unseren Brüdern angesichts dieser Frage sagen? Trifft vielleicht die Fragestellung: „Ist dieser Staat überhaupt ein Staat?“ gar nicht das entscheidende Problem?
Zum Wesen des Staates gehört es in der Tat, daß er nur für die äußere Ordnung da ist. Wenn er dagegen den totalen und also auch den inneren Menschen beschlagnahmt, dann kann er das nur so, daß er bestimmte Ideologien vertritt und daß er eine bestimmte Gesinnung für sich beansprucht. Tut er das aber, dann muß er auch die inneren Bereiche des Menschen kontrollieren: dann muß er Bekenntnisse, Zustimmungen und Applaus verlangen, dann muß er „Resolutionen“ fordern. Er kontrolliert dann also nicht nur die Korrektheit des bürgerlichen Zusammenlebens, sondern er testet auch die Überzeugungen. So kommt er zur Gesinnungsschnüffelei, ja – wie in China – zu einer psychoanalytisch bestimmten Erforschung des Unbewußten und der geheimsten „bürgerlichen“ Relikte.
Staat wird zur Pseudokirche
Durch diesen Anspruch an den inneren Menschen ist der Staat in der Tat nicht mehr bloßer Staat, sondern er wird zur Pseudokirche. Entsprechend sucht er alle Lebensgebiete mit seiner Botschaft zu durchdringen. Es gibt keine Schulstunde, weder in Geschichte noch in Physik oder Biologie, die er nicht mit seiner marxistisch-leninistischen Theorie durchdringt. Jedes Stück Arbeit, das ein Mensch leistet, ob im Büro, am Fließband oder an der Hobelbank, soll zur Ehre des kommunistischen Pseudo-Evangeliums geleistet werden.
Man kann also strenggenommen gar nicht sagen: In meinem Fach, in meiner Branche, da arbeite ich nur durch meine „sachliche Leistung“ mit: Von dem ideologischen Zauber dagegen halte ich mich. fern. Es wäre schön, wenn es so einfach ginge. Aber das ist nicht der Fall. Denn diese Art der Tyrannei ist überall anwesend. Ich könnte mich ihr wirklich nur entziehen, wenn ich mich in meine vier Wände einschlösse und gar nichts mehr täte. Wie kann man denn noch Jurist oder Lehrer oder auch nur Straßenbahnschaffner sein, ohne ständig zur Ehre dieses Systems ausgenutzt zu werden?
Eben darum begreifen wir die verzweifelte Frage unserer Brüder: Wie sollen wir uns zu diesem Staate stellen?
Denn es geht offenbar nicht, daß man sich nur distanziert. Ich sehe vor allem zwei Gründe für diese Unmöglichkeit:
Wenn die Kirche sich gegenüber dem atheistischen Staat in eine totale Opposition drängen läßt, dann wird das begreiflicherweise auf der andern Seite so aufgefaßt werden, als ob das Christentum selber ein Machtfaktor sein wolle, um sich durch Sabotage, Streik und Aggression zur Geltung zu bringen und durchzusetzen. Vielleicht würde man das Christentum dann auch als Werkzeug eines politischen Machtblocks, etwa als Fünfte Kolonne des Westens auffassen. Das aber wäre tödlich für die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft. Denn es würde das marxistische Vorurteil bestätigen, daß das Christentum nur die Ideologie einer bürgerlichen Gesellschaft sei, die sich mit seiner Hilfe zu behaupten sucht. Wenn das Christentum sein Leben erhalten will, dann wird es dieses Leben gerade verlieren.
Der Herr der Christenheit hat die Reiche und Länder dieser Erde, er hat die Macht eben nicht aus der Hand des Teufels angenommen, sondern war zum Leiden bereit und hat sich ans Kreuz schlagen lassen. Die Kirche ist ihre Botschaft ja auch denen schuldig, die ihre Feinde sind. Auch für sie ist Christus gestorben. Darum darf sie sich nicht als Interessen-Institution unglaubwürdig machen. Darum darf sie sich niemals in ein reines „Anti“ hineinmanövrieren lassen. So sehr sich die Kirche vom Kommunismus auch distanziert, so sehr muß sie den Kommunismus suchen.
Daraus folgt, daß der Christ und daß auch seine Kirche nur von Fall zu Fall Widerstand leisten dürfen. Auch dieser verruchte Staat ist ja so von Gott zugelassen, aucher hat Reste seiner Bestimmung in sich und übt immerhin bestimmte Ordnungsfunktionen aus. Darum kann sich niemand grundsätzlich und radikal von ihm dispensieren.
Gerade dadurch aber, daß ich den Staat auch in seiner pervertierten Möglichkeit bejahe, werde ich ja instand gesetzt, nur um so nachdrücklicher meinen Gehorsam aufzukündigen, wenn von ihm drastische Zumutungen gestellt werden, die den Geboten Gottes zuwiderlaufen. Ich sage ausdrücklich: drastische Zumutungen. Damit will ich sagen: In totalitären Staaten kann kein Mensch konsequent sein. Niemand kann ohne jeden Kompromiß leben. Wir haben das im Staate Hitlers ja selber erfahren: Auch wenn wir uns noch so frei von seinen Zumutungen hielten: wir sind auf seinen Autobahnen gefahren und haben ihm erlaubt, mit unseren Steuern seinen Krieg zu führen und seine Bonzen zu bezahlen. Darum wird der echte Widerstand sich nur dort entfalten können, wo ihm die zeichenhafte Kraft des Bekennens innewohnen kann. Ein solcher Schwerpunkt konfessorischen Widerstandes war in den letzten Jahren etwa der Kampf gegen die Jugendweihe. Vielleicht wird sich, je mehr der Staat selbst zu einem militanten Antichristentum übergeht, ein weiterer Schwerpunkt des Widerstandes bei der Frage ergeben, ob ein Christ Mitglied derjenigen Partei werden könne, die diesen Staat trägt?
In Treue widerstehen
Ein überaus besonnenes und hilfreiches Wort zu unserm Problem hat vor einiger Zeit die Synode in Berlin-Weißensee gesprochen. Dort heißt es: Wir können dem Staat nicht auf seinem Wege folgen, wenn er die marxistisch-leninistische Weltanschauung zu seiner eigenen Sache macht und mit seinen Mitteln durchsetzen will. Gerade dadurch, daß wir hier ein klares Nein sagen, verhelfen wir ihm zu seiner wahren Bestimmung und bewahren ihn davor, den Menschen seelisch zu vergewaltigen.
Ich halte das für ein sehr gutes Wort. Denn es fordert die Menschen drüben mit unüberhörbarem Gewissensernst auf, den Staat auch in seiner Fragwürdigkeit zu ehren – und zwar gerade dadurch, daß man ihm an entscheidenden Punkten und ganz sicher nicht ohne schwersten und gefährlichen Einsatz der eigenen Person widersteht.
Hier ist in einer Weise, die dem Herrn über die Kirche und über die Welt angemessen ist, in aller Dringlichkeit gefordert, daß der Widerstand eines Christen niemals nur negativ und destruktiv, sondern immer nur so sein soll, daß er seinem Gegenüber hilft, seine Bestimmung wiederzufinden. Diese Hilfe kann aber oft nicht durch gutes Zureden und durch christliche Programme geleistet werden, sondern diese Hilfe kann oft nur darin bestehen, daß einer in Treue widersteht, während er dem andern durch serviles Mitmachen die Wahrheit nur verdunkeln würde.
Noch ein letztes möchte ich sagen: Bei uns im Westen ist vieles faul; aber wir sollten doch, wenn wir die schweren Gewissenslasten unserer Brüder drüben – für einen Augenblick – denkend mittragen, ein kleines Dankgebet zum Himmel schicken. Dank, daß wir frei sein dürfen. Und dann sollten wir uns fragen, ob wir dieser Freiheit wert sind.
Freiheit – nur noch konsumiert?
Etwas präziser gestellt, lautet diese selbstkritische Frage so: Welches Verständnis von Freiheit vollzieht eigentlich der Westen? In der großen Politik ist Freiheit ganz offensichtlich und allen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz ein wenig ehrliches Synonym für das Recht des Stärkeren.
Und Freiheit im individuellen Leben? Ist sie hier etwas anderes als die Freiheit, sich einen bestimmten Lebensstandard leisten zu können? Gehört die Freiheit nicht mit Eisschrank und Fernsehgerät zu den Gebrauchsgütern des westlichen Komforts, die man braucht, verbraucht und eben auch verschleißt? Wir sind „Konsumenten“ von Freiheit geworden. „Produzieren“ wir sie eigentlich noch in unserm Leben? Haben wir noch eine Nachschubquelle? Woher und von wem beziehen wir die Ermächtigung zur Freiheit?
Das scheint mir unsere eigentliche Schicksalsfrage im Westen zu sein. Die lediglich konsumierte und nicht mehr produzierte Freiheit verbraucht sich. Wir verschleißen damit nur eine ausrollende christliche Tradition, die einmal den Ursprung der wahren Freiheit kannte und ihm nahe war. Die nur konsumierte Freiheit ist kein legitimes Äquivalent gegenüber dem Osten und seinen dynamischen Parolen. Diese Art Freiheit verliert auch für unsere Brüder in Mitteldeutschland, die den Stolz der Armut kennen und die sich nach ganz anderen Ufern sehnen, ihren Reiz.
Die notvollen Fragen, die sie an uns stellen und mit denen ich diesen Artikel begann, werden! zu einer kritischen und – will’s Gott! – auch hilfreichen Anfrage an uns selber. Wir sind weniger Antwortende als Befragte. So helfen wir uns gegenseitig.
Karl Barths gebrochene Haltung
Als dieser Artikel geschrieben war, kam mir die neuerdings vielgenannte Schrift von Karl Barth „Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik“ in die Hand. Ich gebe zu, daß hier den Brüdern drüben einiges gesagt wird, das ihnen hilfreicher sein könnte als vieles, was Barth früher – etwa vor dem ungarischen Aufstand von 1956 – geschrieben hat.
Aber auch hier stehe ich wieder fassungslos vor einigen Äußerungen: einmal vor der Tatsache, daß derselbe Mann, der seinerzeit überaus eindeutige Worte gegenüber dem Nationalsozialist mus fand, angesichts des totalitären Ostens eine so merkwürdig gebrochene Haltung einnimmt. Ich empfinde die künstlichen Versuche, diese Differenz durch einen grundsätzlichen theologischen Unterschied zwischen den beiden Totalitarismen zu rechtfertigen, als keineswegs überzeugend.
Das andere Unfaßliche ist für mich die völlige Einebnung von Ost und West zu gleicher Verdammnis. Daß das Leben im Westen einige „echte Vorzüge“ habe, gibt der Schweizer Barth gerade noch eben zu. Aber sie sind für ihn doch ausgesprochen sekundärer Art. Das schlimmste nämlich, was nach Barths Worten seinem Gesprächspartner aus der DDR passieren könnte, wäre, wenn Gott ihn „eines Morgens bei jenen Fleischtöpfen Ägyptens als einen dem AMERICAN WAY OF LIFE Verpflichteten erwachen ließe“.
Diese theologisch begründete allgemeine Weltnacht, die sich über Orient und Okzident gleichermaßen gelegt hat und in der alle Katzen grau sind und jede Entscheidung zwischen den Systemen theologisch gegenstandslos wird, hat jedenfalls nichts mit dem zu tun, was ich oben mit der Selbstkritik des Westens ausdrücken wollte.
DIE ZEIT, Nr. 04, 23. Januar 1959.
Als die DDR gegründet wurde, war ich 7 Jahre alt, und ich habe bis zu ihrem Ende da gelebt. Es war nicht schön, und die Wende war für mich eine freudig begrüßte Befreiung. Aber so schlimm, wie hier dargestellt, war es in der DDR nicht.
„Denn es geht offenbar nicht, daß man sich nur distanziert.“ – Doch, es ging – selbst als Lehrer (Mathematik) an einer Ingenieurhochschule, wo ich allerdings auf hinterhältige Weise am Promovieren gehindert wurde. Und wie bei mir war es bei vielen Menschen, die ich gut kannte: innere Emigration, hat funktioniert. Zu Hause natürlich nur Westfernsehen, wo es empfangbar war: ZDF ARD = Zentrales Deutsches Fernsehen Außer Raum Dresden.