Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik (1958)
Da schrieb ein junger Pfarrer zusammen mit einem Kollegen – vermittelt durch Max Geiger –einen siebenseitigen anonymen Brief an Karl Barth im Sommer 1958. Der Briefschreiber schilderte die Lage der Christen in der DDR und richtete zum Abschluss acht konkrete Fragen an Barth. Ende August 1958 schrieb Karl Barth seine Antwort auf diese Fragen nieder und veröffentlichte sie als «Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik». Der Adressat dieses Briefes blieb unbekannt:
Lieber Unbekannter und Wohlbekannter!
Ihr Brief, begleitet von dem, was Sie an unseren gemeinsamen Freund geschrieben haben, hat mich erreicht, und ich habe Alles aufmerksam und mit großer Teilnahme gelesen und wieder gelesen. Sie möchten etwas von mir hören zu Ihrer dortigen Lage und ihren Problemen, und Sie sind mir dabei mit einem ausführlichen Situationsbericht (auf den ich mich aber im Folgenden aus dem Ihnen bekannten Grund nicht direkt beziehen werde) und schließlich mit acht konkreten Fragen zu Hilfe gekommen.
«Warum eigentlich sagt Karl Barth nicht einmal auch uns ein wegweisendes Wort?» Lassen Sie mich fürs Erste an diese Ihre an unseren Freund gerichtete Frage anknüpfen. Sie konnte mich für einen Augenblick an das Warum? erinnern, das ich vor bald zwei Jahren, als die Ost-West-Wogen auch bei [6] uns wieder einmal besonders hoch gingen, von einem vielgenannten amerikanischen Theologen in aller Öffentlichkeit zu hören bekam: «Why is Karl Barth silent about Hungary?» Dazu habe ich damals kein einziges Wort gesagt. Es war mit Händen zu greifen, daß das keine echte Frage war. Sie kam nicht aus der praktischen Bedrängnis eines Christen, der mit einem anderen Austausch und Gemeinschaft sucht, sondern aus der sicheren Burg eines hartgesotten westlichen Politikers, der, wie Politiker es zu tun pflegen, einen Gegner aufs Glatteis führen, mich entweder zu einem Bekenntnis zu seinem primitiven Antikommunismus zwingen oder mich als heimlichen Prokommunisten entlarven und mich so oder so auch als Theologen diskreditieren wollte. Was hätte ich dazu sagen sollen? Ihre Frage ist — obwohl ich ein fernes Grollen auch in ihr nicht überhöre — von ganz anderer Art. Sie reden mich jedenfalls von einem Ort aus an, wo das sterile Anti oder Pro praktisch nur die kleinste Rolle spielen kann, weil man sich täglich, und, koste es was es wolle, mit dem Willen, das Beste daraus zu machen, mit der Wirklichkeit des Kommunismus auseinanderzusetzen hat. Und Sie befürchten doch nach Ihrem eigenen Ausdruck «nichts mehr als eine Befreiung im Sinne Adenauers, die uns zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückführen würde». Sie würdigen den Sozialismus Ihres Staates als respektablen Versuch, ein Neues zu pflügen, und wünschen ihm, ohne sich durch die [7] düsteren Prognosen des Westdeutschen Rundfunks irre machen zu lassen, eine gesunde, freiheitliche Entwicklung. Sie führen dann freilich eine Reihe von harten Tatsachen an, die Ihnen als Christ und Pfarrer in der deutschen Ostzone schwerste Mühe machen. Und was Sie von mir wollen, ist ein diesen Tatsachen in «bitterer Nüchternheit» gerechtwerdendes Mitdenken und Beraten. Sie bringen mir aber das Vertrauen entgegen, daß ich dessen fähig sein möchte — und also fähig, Ihnen ein «väterliches» und eben: ein «wegweisendes», mehr noch: ein «befreiendes» und «froh machendes» Wort zu sagen. Ob, was ich Ihnen sagen kann, diese hohen Eigenschaften auch nur zu einem kleinen Teil haben wird? Das ist sicher: wenn man mich so fragt, kann, muß und will ich, so gut es mir gegeben ist, zu antworten versuchen.
Vorerst also: Warum ich es nicht längst getan habe? Ich weiß sehr wohl, warum nicht! Einmal: weil ich überhaupt je länger desto weniger gern mitrede, wo ich nicht irgendwie sehr direkt dazu genötigt und dann auch von mir aus gedrängt bin, etwas Bestimmtes zu sagen. Es hat mich aber bis jetzt noch niemand so ausdrücklich und dringlich, wie Sie es jetzt getan haben, dazu aufgefordert, etwas zum Problem der christlichen und theologischen Existenz in der deutschen Ostzone zu sagen. Ferner: Müßte man nicht eigentlich alle die Jahre mit Ihnen dort zugebracht, den wachsenden Druck, unter dem [8] Sie dort stehen, selber erfahren, die verschiedenen Möglichkeiten, ihn auszuhalten, selber ausprobiert haben, um Ihnen nicht mit irgend einer Weisheit zu kommen, die, unter mangelnder Sach-, Situations- und Personenkenntnis ausgesprochen, den Punkt oder die Punkte, wo Ihre Fragen sitzen, gar nicht treffen möchte? Ferner: Ich gestehe Ihnen, daß ich, statt Ihnen dort von weither dreinzureden, zehnmal lieber zu meiner eigenen Belehrung und Erbauung lese, was gute Leute in Ihren eigenen Reihen zur Sache schreiben. Ich denke dabei im Augenblick an den ausgezeichneten Aufsatz, den Johannes Hamel unter dem Titel «Die Verkündigung des Evangeliums in der marxistischen Welt» zu der in diesem Sommer erschienenen Thurneysen-Festschrift beigesteuert hat. «Sie haben Mose und die Propheten…», hätte ich beinahe mit Vater Abraham gesagt! Ferner: Vor 15 bis 25 Jahren hatte ich noch des Atems genug, um mit der rechten Hand «Kirchliche Dogmatik» und mit der linken allerhand «wegweisende» Worte — zuerst zum deutschen Kirchenkampf, nachher zu Nutz und Frommen meiner um 1940 etwas von Knieweichheit bedrohten schweizerischen Landsleute, aber doch auch an die angefochtene Christenheit in Frankreich, Holland und anderswo — zu schreiben. So bin ich heute zeit- und kräftemäßig nicht mehr dran. Und vor die Wahl gestellt, bin ich geneigt zu denken, es möchte denen diesseits wie denen jenseits des «Eisernen Vorhangs» [9] im Grunde und im Ganzen besser als mit direkten Anreden gedient sein, wenn ich für die Dogmatik tue, was mir zu tun noch vergönnt sein mag. Ein Letztes schließlich, das ich Ihnen, wenn das anginge, am liebsten bloß ins Ohr sagte und das nun in der Reihe der anderen Argumente für mein bisheriges Schweigen doch nicht fehlen kann: Wie soll ich Ihnen schreiben, ohne merken zu lassen, daß ich zum Geist und zur Sprache, zu den Methoden und Praktiken des bei Ihnen herrschenden Systems so wenig Ja sagen kann wie zu den Mächten und Gewalten, die hier im Westen über uns sind? Daß ich, wenn das sichtbar wird, der kleinen Glorie eines immerhin «fortschrittlichen» Theologen, deren ich mich im Osten bisher manchen Ortes erfreuen durfte, leicht verlustig gehen könnte, möchte zu tragen sein. Wie soll ich es aber sichtbar machen, ohne ungewollt allerlei Scheiter in das hierseits ohnehin wüst genug lodernde und sicher bei Ihnen erst recht fort und fort glimmende Feuer des Antikommunismus zu werfen und dann von Leuten gelobt und benützt zu werden, die ich für die notorisch schlimmeren Feinde aller Wahrheit, aller Gerechtigkeit, alles Friedens halte? — Aber nun genug davon: alle diese Argumente haben ja auch ihre offenkundigen Schwächen. Ich will sie also für einmal beiseite schieben, meinem Herzen einen Stoß geben und also mit dem, was mich, wenn ich lese, was Sie mir geschrieben haben, bewegt, ein wenig herausrücken. [10]
Darf ich anfangen mit einer Erinnerung an den ersten Petrusbrief? Ich könnte mir denken, daß er ein Stück des Neuen Testamentes ist, das heute von Allen, die in der DDR mit Ernst Christen sein möchten, mit ganz besonderer Aufmerksamkeit gelesen wird. Da werden ja die Gemeinden, an die der Brief sich richtet, z.B. an der Stelle 5, 9 aufgefordert, «fest im Glauben zu widerstehen». Wem zu widerstehen? «Eurem Widersacher, dem Teufel», heißt es unmittelbar vorher — der wie ein brüllender Löwe umhergehe und sehe, wen er verschlingen möchte! Sicher ist da an eine ganz konkrete Bedrängnis, Versuchung und Gefahr gedacht, von der die Glieder jener Gemeinden damals bedroht waren. Der «Widersacher», an den heute bei Ihnen Viele — und je weiter man nach Westen kommt, sicher die Meisten — denken, mag der Kommunismus sein: ein gerade in seiner spezifisch deutschen und darum gründlichen und konsequenten Art gewiß besonders laut brüllender und aufs «Verschlingen» besonders bedachter Löwe! Immerhin: es ist da doch wohl überall ein auf einer gefährlichen optischen Täuschung beruhender Irrtum im Spiel, wo man jenen «Löwen» ohne weiteres mit dem Kommunismus an sich und als solchem identifiziert und folglich bei dem den Christen gebotenen «Widerstehen» schnurgerade an irgendeinen Widerstand gegen den Kommunismus als solchen (an irgendeinen grob oder fein zu betätigenden «Antikommunismus») denkt. Die Sache ist komplizierter: [11] Natürlich hat auch der Kommunismus als solcher Einiges und nicht einmal ganz wenig mit jenem «Widersacher» zu tun, aber genau genommen doch nur, sofern er die Gestalt und Macht eines Versuchers hat, der die Menschen und insbesondere die Christen zu verkehrten Einstellungen und Verhaltungsweisen ihm gegenüber — etwa zur Angst, zur blinden Unterwürfigkeit, zum blinden Haß, zur Halbherzigkeit, zur Doppelzüngigkeit, zu einer Schlangenklugheit, deren Wesen nicht die Taubeneinfalt ist, zum Heulen mit den Wölfen oder zur Furcht, von ihnen gefressen zu werden, zum Kollaborieren oder zur Obstruktion, zur Sorge und so zum Gebrauch all der falschen Mittel und Waffen, nach denen der besorgte Mensch auch anderswo zu greifen pflegt, kurzum: zur tätlichen Gottlosigkeit, die die wahre, ernstlich so zu nennende Gottlosigkeit ist — veranlassen und verführen mag. Wo er und sofern er das tut — streng genommen nur da und nur insofern! —, ist er der heute umgehende spezifische Ostlöwe! Dem Kommunismus, der diese Zerstörung anrichten will, gilt es zu widerstehen. Aber nun lautet ja die Fortsetzung jener neutestamentlichen Stelle dahin, daß die in so besonderer Weise angefochtenen Christen doch ja bedenken möchten, «daß die gleichen Leiden eure Bruderschaft in der ganzen Welt treffen». Da Sie mir schreiben, Sie fürchteten nichts mehr als «eine Befreiung im Sinne Adenauers», darf ich annehmen, daß wir in dem, worauf [12] ich zunächst hinausmöchte, einig sind: der brüllende Löwe hat auch noch andere, nicht minder bedrohliche Gestalten als die, in der er Ihnen dort zu begegnen scheint. Sie werden wissen, daß man im 16. Jahrhundert — damals im Blick auf den Türken und auf den Papst — vom östlichen und vom westlichen Antichrist gesprochen hat. Gerade mit dem Begriff des «Antichrist», den ich seinerzeit auch auf Hitler lieber nicht angewendet wissen wollte, möchte ich freilich weder im Blick auf die heutige Ostmacht noch im Blick auf die heutige Westmacht arbeiten. Den «Antichrist» möchte ich mir nämlich wesentlich einleuchtender, einladender, weil freundlicher und überzeugender vorstellen als die Gestalt des Türken oder des Papstes von damals oder als die des unseligen Hitler oder als die der beiden Antagonisten von heute. Der wirkliche Antichrist wird sich ja von Christus lange nicht so deutlich wie diese alle abheben, sondern selber eine Art Christusgestalt sein: wer weiß, irgendwie auf der Linie des Thorwaldsenschen Christusbildes! Und es dürfte sich überhaupt lohnen, mit solchen größten, letzten Worten etwas sparsamer umzugehen, als es in der Hitze des Gefechtes häufig zu geschehen pflegt. Es ist aber — und darum erinnere ich an jene alte Gegenüberstellung — schon so: man kann die heutige Ostmacht, in deren Bereich Sie leben — man kann ihr besonderes Wesen und Treiben bestimmt nicht so sehen und verstehen, als wäre ausgerechnet und ausschließlich sie die Ge-[13]stalt des umhergehenden «Widersachers» der Christenheit. Die heutige Westmacht hat mit jener das durchaus gemeinsam, daß in der ihr eigenen Weise auch sie der Gemeinde das ausreden und praktisch verunmöglichen möchte, was sie zur christlichen Gemeinde macht: das nicht nur halblaute, sondern laute Ausrichten des der Welt fremden, des sie störenden Zeugnisses von Gottes nahe herbeigekommener und in ihrer letzten Offenbarung auf sie zukommender Herrschaft, von seinem Reich in seiner Überlegenheit und Sieghaftigkeit gegenüber allen wirtschaftlichen, politischen, ideologischen, kulturellen, auch religiösen Menschenreichen. Sie sprechen in Ihrem Brief mehrfach von einer leider offensichtlich zunehmenden «Christusfeindschaft» Ihres Staates. Gibt es so etwas — ob und inwiefern es so etwas gibt, wird noch zu überlegen sein —, dann jedenfalls nicht nur im kommunistischen Osten, sondern, wenn auch in anderer Form, auch in der angeblich «freien» Welt des Westens. Sie wissen das offenbar. Aber verlassen Sie sich darauf, daß es höchst real so ist, und halten Sie es sich täglich vor Augen: die der Gemeinde aufgetragene Botschaft von Christus als dem Inbegriff jener kommenden Gottesherrschaft ist dem Westen genau so widrig und peinlich wie dem Osten: wer weiß, im Grunde vielleicht noch widriger und peinlicher. Diesem Zeugnis wirkt jedenfalls nicht nur ein östlicher, sondern auch ein westlicher Ungeist und Unsinn fast übergewaltig entgegen: nicht nur [14] der offene Totalitarismus bei Ihnen, sondern auch der schleichende bei uns, nicht nur das Schalten und Walten der allmächtigen Partei, Propaganda und Polizei dort, sondern auch das der ebenso allmächtigen Presse, Privatwirtschaft, Protzerei und Publikumsmeinung hier. Um dieses Zeugnisses willen gilt es hier wie dort «fest im Glauben zu widerstehen». Wer etwa dem Westlöwen nicht mit aller Kraft widerstünde, der kann und wird bestimmt auch dem Ostlöwen nicht widerstehen, der weiß überhaupt nicht, was er sagt, wenn er von einem solchen redet. Mag sein, daß es uns hier wie dort weithin an der nötigen Phantasie fehlt, um genau zu sehen, was das gebotene Widerstehen für die Christen je auf der anderen Seite im Einzelnen bedeutet. Wir können und müssen es aber einander glauben, daß es der Gemeinde und jedem einzelnen Christen dort und hier schwer gemacht ist, den schmalen Weg immer wieder zu finden und zu gehen, der ihr Weg allein sein kann: sich der hier wie dort drohenden Zwangsdomestizierung und noch mehr eines sich hier wie dort immer wieder nahelegenden freiwilligen Konformismus zu erwehren, sich aber auch eines unfruchtbaren Trotzens und Opponierens zu enthalten, bei der Sache und bei der Stange, d.h. schlicht beim hier wie dort gültigen, hier wie dort seltsamen und unbeliebten Evangelium von der freien Gnade zu bleiben. Es geht nicht anders, als daß wir die uns damit auferlegte Last, so andersartig sie dort und hier gestaltet ist, als die eine [15] von der einen Gemeinde Jesu Christi unvermeidlich zu tragende Last erkennen und also miteinander tragen, aber auch — davon ist ja im ersten Petrusbrief und im übrigen neuen Testament viel die Rede — die eine Freude teilen, die Allen, die jene Last zu tragen haben, gewiß ist. Die Christen in der DDR sollen es hiemit hören, daß wir ihres Mitdenkens und ihrer Mitfreude nicht minder bedürftig sind als sie der unsrigen.
Und nun zürnen Sie mir nicht, wenn ich mit einer Binsenwahrheit fortfahre: Es wird wohl auch Ihnen nichts übrig bleiben, als im Blick auf Ihre ganze Lage, Sorge und Bedrängnis auf die prima et ultima ratio zurückzugreifen, das ABC zu exerzieren, das den Christen zum Christen macht, nämlich schlicht: an den Gott ernstlich und fröhlich zu glauben, den zu bezeugen dort Ihr wie hier unser Auftrag ist. An ihn glauben, heißt aber, wie Sie so gut wissen wie ich: Ihn, sein Reich und seine Gnade und also unseren Herrn und Heiland Jesus Christus über alle Dinge fürchten und lieben, Ihn in allen großen und kleinen Problemen als den, der er war, ist und sein wird, anerkennen und gelten lassen, unser persönliches wie unser soziales Leben daraufhin wagen, daß wir alles Gute von Ihm und von Ihm alles Gutes zu erwarten haben. Das ist auch in der DDR der einzige Schlüssel, der einzige Schatz, der einzige Harnisch. Eben das ist dann aber auch dort wie hier Schlüssel, Schatz und Harnisch sondergleichen. — [16] Er über alle Dinge! Ich möchte das, indem ich bedenke, was Sie mir geschrieben, etwas auszulegen und anzuwenden versuchen. Er als der, der auch über dem ist, auch das so gewollt und gefügt hat, daß die Christenheit ihrer Gabe und Aufgabe inmitten der übrigen Menschheit dort nun eben im Bereich der Fremdmacht des von Moskau inspirierten und dirigierten Sozialismus gewiß und froh zu sein hat! Fremdmacht? Doch wohl nicht nur Fremdmacht, da auch sie mit Allem, was sie als solche charakterisiert, bestimmt nur Sein Werkzeug sein, eine Funktion in Seinem Plan erfüllen kann. Die gerichtliche Funktion einer Zuchtrute? Sicher auch das! Diese Macht wäre ja nicht über Sie gekommen ohne all das, was in Gesellschaft, Staat und Kirche von Führern und Volk in der Vergangenheit gesündigt worden ist. Sicher geschieht jetzt bei Ihnen ein schmerzliches Aufräumen und Verbrennen, wie es über kurz oder lang in irgendeiner andern Form auch der westlichen Welt (vielleicht von Asien und Afrika her!) nicht erspart bleiben wird. Aber wer sitzt da im Gericht? Nicht jenes Werkzeug, sondern der, der es braucht und führt: der Gnädige und Barmherzige, der, auch wenn er zürnt und schlägt, und dann erst recht, nicht will, daß Jemand verloren gehe, sondern daß Alle — die Christen und die Menschen insgemein — gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Er richtet nur, wo, weil und indem er im [17] Begriff steht, zu lieben und zu segnen. Hoffnung auf eine bessere Entwicklung jenes Sozialismus? Warum nicht? Aber der Westdeutsche Rundfunk könnte ja auch recht haben mit seinem Funken und Unken: daß da, soweit das Auge reicht, nicht viel zu hoffen sei. Auf Gott aber, der auch über jenem Sozialismus und indem er sich seiner bedient, an Seinem Werke ist, wird auch in dessen Herrschaftsbereich Keiner umsonst hoffen. Die christliche Gemeinde in der Ostzone dürfte jetzt zu unser aller Beschämung und Ermunterung ein einziger Bund von solchen Leuten werden, die, ohne sich Illusionen zu machen, aber auch ohne zu murren und sich zu sperren, allein auf Gott, auf Ihn aber wirklich hoffen, um dann früher oder später sicher auch große und kleine Anlässe zur Dankbarkeit zu bekommen, vielleicht (wie auch Sie andeuten) wirklich schon jetzt zu haben. Aber unendlich viel besser als Alles, was ich Ihnen zu der Frage Ihrer grundsätzlichen Einstellung zu der über Sie gekommenen «Fremdmacht» sagen kann, ist das, was der Prophet Jeremia nach dem 29. Kapitel seines Buches an die Verbannten zu Babylon geschrieben hat. Ich kann Ihnen nicht dringend genug nahelegen, dieses Kapitel genau zu lesen, wie wenn Sie es das erste Mal täten, und, was dort gesagt ist, ungehindert durch alle sonstigen Erwägungen zu Ihnen in Ihrer Lage sprechen zu lassen.
Gott über alle Dinge! Er auch über dem Atheismus und Materialismus, mit dem es Ihr Staat ja wirk-[18]lich etwas toll zu treiben scheint. Ich kenne doch das große Lehr- und Bilderbuch, das mit den Nebelflecken anfängt und mit den Portraits von Karl Marx, Lenin und (in meinem Exemplar) noch von Stalin endigt! Aber Gott auch darüber! Oder meinen Sie, daß man mit dem, was sich unter jenen Titeln breit macht, wirklich dem lebendigen Gott und wirklich auch nur einem einzigen Menschen — ob Kind oder Erwachsener, Gebildeter oder Ungebildeter — real und effektiv zu nahe treten kann? Mit ein bißchen oder auch sehr viel Materialismus (nach so viel üblem Idealismus, mit dem wir es ja lange genug auch ziemlich toll getrieben haben!) schon gar nicht. Ruhig Blut: die Blase eines reinen und ebenso üblen Materialismus wird — die Meisterwerke des dortigen Hofdichters werden daran nichts ändern können — zu ihrer Stunde ebenso platzen, wie jene andere zu ihrer Stunde platzen mußte. Und wie ist es mit dem Atheismus? Meinen Sie nicht auch, daß das Allermeiste, was sich dafür ausgibt, nur insofern ernst zu nehmen ist, als es auf Mißverständnisse zurückgeht, an denen u.a. die Christenheit mit ihrer bisherigen Lehre, Haltung und Praxis nicht eben wenig, sondern sehr viel Schuld trägt? Nach einer ebenso hübschen wie nachdenklichen Anekdote, die ich neulich hörte: Ein Berliner gesteht dem anderen, er sei nun aus der Kirche ausgetreten. Darauf der Andere: «Ja, glaubst du denn nicht an Gott?» Darauf der Erste: «An Gott wohl, aber nicht an sein Bodenper-[19]sonal». Geht es nicht in der Regel um das «Bodenpersonal» und also um uns Christen, vielleicht besonders um uns Theologen, wenn die Leute sich für Atheisten halten und ausgeben? Was sie leugnen können, kann doch nur die Existenz eines ihnen bekannten Begriffsgötzen sein, nicht das Sein und Wirken des lebendigen Gottes, den sie nicht kennen — der aber sie umso besser kennt. Als ob Er, der sich in Jesus Christus eines jeden Menschen und so auch ihrer angenommen hat, damit «menschlos» würde, daß Etliche es sich beikommen lassen, «gottlos» sein zu wollen! Als ob sie Ihm damit entlaufen könnten! Als ob es uns Christen erlaubt wäre, sie als solche anzusehen und zu betrachten, denen die Flucht vor Ihm gelungen wäre oder gelingen könnte, oder die gar die Macht hätten, ihm andere Menschen aus der Hand zu reißen! Wollen Sie meinen Rat hören, so kann er in dieser Hinsicht nur lauten: Sie möchten grundsätzlich und praktisch Keinen unter den Menschen Ihrer dortigen Umgebung, und wenn er sich (solche Kunden gibt es nun wirklich nicht nur im kommunistischen Osten!) noch so ungläubig gäbe und gebärdete, als den starken Mann, der er sein möchte, respektieren! Sie möchten vielmehr gerade seinem Unglauben mit einem fröhlichen Unglauben an die Möglichkeit dieses seines Unternehmens begegnen. Es möchte Ihnen gegeben sein, wie sich selbst, so auch Ihre Atheisten getrost zu Gott zu rechnen, als sein Eigentum anzusprechen. Ob sie sich (oder ob [20] gar Sie sie!) je bekehren werden, mag mehr als zweifelhaft sein, ist aber eine Frage zweiter Ordnung. Das ist sicher, daß Gott nicht gegen, sondern auch für sie ist. Und eben das dürfen und müssen Sie Ihrerseits für sie, an ihrer Stelle glauben, um dann auf dieser gesunden Basis mit ihnen, mit den «Christusfeinden», die doch nicht wissen, was sie tun, leben, ihnen Zeuge des auch für sie gestorbenen und auferstandenen Herrn sein zu dürfen. Man müßte ja aus einem Christen sofort selber zu einem Ungläubigen, Atheisten und Christusfeind werden, wenn man es anders halten wollte.
Er, Gott, auch über dem gesetzlichen Totalitarismus Ihres Staates! Fürchten Sie ihn? Fürchten Sie ihn nicht! Nicht, daß er totalitär, sondern daß er gesetzlich und darum ungöttlich und unmenschlich totalitär ist, ist die Grenze jenes Systems, an der seine Vertreter einmal Halt machen oder aber scheitern werden. «Totalitär», aufs Ganze gehend, jeden Menschen und jeden ganz für sich in Anspruch nehmend, ist ja auch die freie, die wahrhaft göttliche und wahrhaft menschliche Gnade des Evangeliums, die Sie dort wie wir hier verkündigen dürfen. Insofern könnte der kommunistische Staat wohl als deren, freilich arg verzerrtes und verfinstertes, Gleichnis bezeichnet und verstanden werden. Aber eben: Als Gnade, und zwar als freie und frei machende Gnade und gerade nicht als Gesetz geht sie aufs Ganze: gerade nicht als ein verfängliches Netz von Thesen und [21] Antithesen, gerade nicht zwängerisch und drängerisch auf deren Anerkennung und Durchführung bedacht, gerade nicht überwältigend und erdrückend, wo sie — und wo geschähe das nicht? — auf Widerspruch und Widerstand stößt. Die in ihrer Göttlichkeit und Menschlichkeit freie Gnade des Evangeliums siegt, überwindet, herrscht von innen nach außen, nicht von außen nach innen. Sie fordert nicht, sie schenkt. Sie vergilt nicht, sie vergibt. Sie unterjocht nicht, sie richtet auf. Sie richtet nicht Zorn an und tötet nicht, sie heilt, verbindet und versorgt wie jener barmherzige Samariter. Unter dem Gesetz muß und wird sich, wie es im Osten und im Westen beständig geschieht, auch das Gute, auch das Beste zum Bösen — unter der Gnade kann sich auch das Böse nur zum Guten, ja zum Besten wenden. Glauben Sie an Gottes freie Gnade? Natürlich tun Sie das. Dann müssen Sie aber das bei Ihnen herrschende System (und das unsrige gleich dazu!) in seiner entscheidenden Ohnmacht durchschauen, die eben in seiner Gesetzlichkeit besteht. Und Gottes Überlegenheit steht Ihnen dann auch in dieser Hinsicht klar und alle Furcht vertreibend, vor Augen. Das wird dann aber allerdings auch bedeuten, daß Sie es streng vermeiden werden, Ihren Machthabern auf der von ihnen leider gewählten Ebene entgegentreten und entgegenwirken zu wollen, ihrer groben mit feiner Ungöttlichkeit und Unmenschlichkeit zu begegnen. Das sehen und verstehen die offenbar nicht (die [22] Machthaber diesseits des eisernen Vorhangs übrigens ebenso wenig), das ist ihnen wohl auch noch nicht mit genügender Deutlichkeit sichtbar gemacht worden: daß die Gemeinde Jesu Christi ihnen mit dem Totalitarismus ihrer Botschaft auf einer ganz anderen Ebene gegenübersteht. Sie kann und darf ihnen ja eben nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Eben damit, daß sie das versuchte, würde sie aufhören, das Salz und Licht der Erde zu sein, das sie doch sein soll ganz abgesehen davon, daß ihr das auch niemals gelingen wird. Sie hat der Gesetzlichkeit des Staates gegenüber keine Gesetzlichkeit der Kirche zu entfalten, dem «Diamat» mit keiner christlichen Weltanschauung, der sozialistischen Moral und Politik mit keinem christlichen Gegenentwurf, der Partei- und Polizeigewalt mit keiner bischöflichen und auch mit keiner synodal-presbyterialen Amtsgewalt, der monotonen marxistischen Litanei, den Massenaufmärschen und den Spruchbändern des Systems mit keinem entsprechenden Zauber zu antworten. Sie darf es sich nicht gereuen lassen, allein auf das Wort und den Geist angewiesen zu sein. Sie kann nur unverzagt immer wieder davon ausgehen und immer wieder darauf zurück kommen, daß die Liebe des Gesetzes Erfüllung, die Täterin des allen Gesetzesmenschen notwendig entgehenden Guten ist. Sie kann nur «fest im Glauben» — in diesem Glauben! «widerstehen»: nie im Namen und zur Ehre irgendwelcher Prinzipien und Dogmen, nie um ir-[23]gend Jemandem deren theoretische oder praktische Anerkennung aufzunötigen. Sie kann nur immer Jesus nachfolgen, d.h. sie kann nur immer den gnädigen Gott und den Menschen, dem er gnädig ist — den freien Gott und den durch ihn zu befreienden Menschen in der Stunde und Situation ihrer Begegnung im Auge haben und dann gut oder schlecht, aber deutlich reden, rufen, in bestimmter Entscheidung handeln: fragend, mahnend, tröstend, auch einmal unmittelbar bekennend und dann wohl auch kämpferisch, auch einmal ausdrucksvoll schweigend und beiseite stehend — aber immer Gott und den Menschen dienend und also nie so, als ob sie ihrerseits über Gott und die Menschen verfügen wollte und könnte. Gerade so zu «widerstehen» wird sie bestimmt bei Ihnen wie bei uns nicht unterlassen können. Und gerade so wird sie dort wie hier fest, echt, ob sie Glauben findet oder nicht, jedenfalls glaubwürdig (weil selber aus dem Glauben) und erstlich und letztlich bestimmt nicht unwirksam «widerstehen». Es darf nur nicht irgend eine abstrakte Idee, Theorie und Gottheit und ihr Gesetz, es muß nur Gottes von Ewigkeit her mächtige und in Jesus Christus erschienene freie Gnade sein, die Sie und wir über alle Dinge fürchten und lieben.
Aber Er, Gott, seine freie Gnade nun wirklich auch über allen Gedanken, Vorstellungen und Gewohnheiten, in denen wir Christen selbst dort und hier hinsichtlich dessen, was uns zu seiner Ehre und [24] zum Heil der Menschen dienlich scheint, bisher gelebt haben mögen! Was haben wir da nicht alles für selbstverständlich notwendig gehalten! Die Existenz einer von der übrigen Gesellschaft und besonders vom Staat garantierten oder doch respektierten oder mindestens tolerierten, inmitten des sozialen Gefüges an ihrem Ort so oder so wohl aufgehobenen Kirche! Ihren Sonntag als anerkannten Ruhe- und Feiertag und ihre hohen Festtage, die sich so oder so (man frage nicht: wie?) auch im Leben des ganzen Volkes abzeichneten! Kindertaufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung als die christliche Markierung des Rahmens und der Existenz des Herrn Jedermann, in deren Vollzug die Kirche sich ihrer offenkundigen Unentbehrlichkeit immer wieder trösten mochte! Den Einfluß der Kirche auf die öffentliche Erziehung und Unterrichtung und Bildung der Jugend — mit dem Maximalanspruch: die Schule müßte von rechtswegen christliche Schule sein, mit dem Minimalanspruch: es dürfe dort dem «Christentum» doch nicht geradezu entgegengewirkt werden! Das Prestige oder doch die Würde ihrer öffentlichen Vertreter inmitten der Träger der übrigen Ordnungs- und Kulturmächte! Ihr direktes und indirektes, erwünschtes oder unerwünschtes, aber jedenfalls formal freies Mitreden in den allgemein menschlichen Angelegenheiten! War die Christenheit in dem allem wohl nie und nirgends ganz unangefochten (in den letzten Jahrhunderten schon gar nicht), so schien es uns [25] doch das Natürlichste von der Welt, daß die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus ungefähr in diesen Bahnen verlaufen sollte und daß unsererseits zu deren Erhaltung und Verteidigung (um Gottes und des Evangeliums willen!) das Mögliche getan werden müsse: was wir denn auch mit Geschick und Ungeschick, mit Erfolg und Mißerfolg eifrig und reichlich genug getan haben. Stand nicht hinter dem Ganzen die Annahme: das christliche Anliegen und Bekenntnis könne und müsse normaler Weise — mindestens unter dem Titel der freien Ausübung einer «Religion» — von Allen und Jeden formal verstanden und gewürdigt werden? Die Welt als solche sei verpflichtet, der Christenheit das Recht auf jene Existenzform in ihrer Mitte zuzubilligen? Was bei Ihnen in der DDR und wohl auch in den anderen marxistisch orientierten Ländern kommt, das scheint ein dicker Strich durch diese ganze Rechnung zu sein. Er ist wohl auch bei uns im Westen im Kommen. Bei Ihnen ist es nicht mehr zu übersehen, daß es kommt. Im Welt- und Menschenbild des Sozialismus, der bei Ihnen an der Macht ist und das Wort führt, hat die Christenheit in dieser Existenzform offenbar immer weniger Raum, scheint die Zeit nahe oder doch nicht ferne zu sein, in der sie in dieser Existenzform keinen Raum mehr haben: in der sie also dem Staat und der Gesellschaft nur noch eben fremd, verächtlich und reichlich suspekt, in der die Zugehörigkeit und das Bekenntnis zu ihr dem Ein-[26]zelnen, vom Schulkind angefangen, für seine ganzen sonstigen Lebensmöglichkeiten nur noch hinderlich, in der ihre Bewegungsfreiheiten auf ein Minimum zusammengedrückt sein, in der sie Alles, was ihr zu tun aufgetragen ist, gerade nur noch im Winkel, im Schatten, unter beständiger Störung, Behinderung und Sabotierung von außen tun, in der «Volkskirche» im Sinn von «Kirche des Volkes» nur noch ein Phantasiegebilde sein wird. Mag sein, daß es auch bei Ihnen noch lange nicht so weit ist und daß es auch dort an Kräften nicht fehlt, die dieser bei Ihren Machthabern offenkundig vorhandenen Tendenz noch und noch entgegenwirken. Aber daß diese Tendenz dort heute so offenkundig vorhanden ist, dürfte für Sie wie für uns genügen zu der Frage: ob die Christenheit ihrem Auftrag etwa wirklich nur in jener ihr bisher so selbstverständlichen Existenzform nachkommen kann? Nur im Licht jener öffentlichen Förderung, Anerkennung oder doch Duldung? Nur mit Hilfe jenes ganzen «volkskirchlichen» Apparates und unter Voraussetzung der Freiheit seines Spiels? Nur als fester Faktor unter den Faktoren des sozialen Gefüges? Nur im Besitz eines von rechtswegen bestehenden Anspruches auf Alle und Jede? Wo liest man eigentlich, daß die ersten Gemeinden Jesu Christi in Jerusalem, Rom, Korinth oder Kleinasien sich dieser Existenzform erfreuen durften? Und wo ist ihnen für die spätere Zeit gerade diese Existenzform verheißen? Woher wissen wir, daß es bei [27] deren Entstehung mit rechten Dingen zugegangen ist, daß die Kirche mit ihr stehe und falle, daß sie darum verpflichtet sei, sich auf alle Fälle gerade in ihr zu behaupten? Ich sage Ihnen mit dem Hinweis auf diese Frage nichts Neues. Es war ja einer Ihrer namhaftesten und besten Männer, Generalsuperintendent Günther Jacob in Cottbus, der vor einiger Zeit das Wort vom eingetretenen «Ende des konstantinischen Zeitalters» ausgegeben hat. Weil ich vor geschichtsphilosophischen Theorien aller Art eine gewisse Scheu habe, zögere ich, mir dieses Wort zu eigen zu machen. Aber das ist sicher, daß sich so etwas wie das Kommen dieses Endes heute ein wenig überall und in Ihrem Bereich nun eben in ganz besonders scharfen Kanten abzuzeichnen beginnt. Das ist sicher, daß wir alle Anlaß haben, uns jene Frage zu stellen und uns auf alle Fälle schon jetzt prompt und klar die Antwort zu geben: Nein, es muß hinsichtlich der kirchlichen Existenzform nicht Alles — als wäre jene die allein mögliche — weitergehen wie bisher. Denn nein, der Fortgang und Sieg der Sache Gottes, der die christliche Gemeinde mit ihrem Zeugnis dienen darf, ist nicht ausgerechnet an diese ihre bisherige Gestalt gebunden. Ja, die Stunde könnte kommen oder schon anbrechen, wo Gott dieser ihrer Gestalt wegen ihrer immerhin greifbaren Unwahrhaftigkeit und Unfruchtbarkeit zu unserem Leidwesen, aber zu seiner Ehre und zum Heil der Menschen ein Ende machen will. Ja, da möchte [28] es dann geboten sein, uns von der Bindung an jene Existenzform, auch indem sie noch Bestand haben mag, zunächst innerlich zu lösen — und positiv: uns unter der Voraussetzung, daß sie einmal ganz in Wegfall kommen möchte, nach neuen Wagnissen auf neuen Wegen umzusehen. Ja, wir dürfen uns als Gemeinde Gottes darauf verlassen, daß er uns, wenn wir nur aufmerksam sind, solche neuen Wege, die wir zur Zeit gewiß noch kaum ahnen können, zeigen wird und daß wir uns als die an Ihn Gebundenen auch in dieser Hinsicht jetzt schon für die durch Ihn unüberwindlich Gesicherten halten dürfen. Denn ja, seine Name ist über allen Namen, auch über dem, den wir menschlich, allzu menschlich in seinem Dienst bisher getragen und den wir mit dem seinen in einer gewissen säkularen Vergeßlichkeit allzu leicht verwechselt haben. Könnte es nicht sein, liebe Brüder in der so gefährdeten Ostzone, daß wir nun eben dort wie hier eingeladen sind, dem altbekannten «Soli Deo gloria!» gerade in dieser Hinsicht in ganz neuer Demut, Aufgeschlossenheit und Willigkeit gerecht zu werden und daß es Ihre besondere Berufung werden könnte, uns Anderen das Leben einer den neuen Weg einer Kirche für das Volk (statt des Volkes) suchenden und vielleicht schon antretenden christlichen Gemeinde als «Gottes (allen Ernstes besonders) geliebte Ostzone» exemplarisch vorzuleben? [29]
Ich wende mich zu einem Versuch, etwas zu Ihren acht konkreten Fragen zu sagen. Sie werden verstehen, daß ich hier nur teilweise so bestimmt reden kann, wie ich es im Vorangehenden in der Hauptsache getan habe. Eben um Ihnen hier etwas Brauchbares zu sagen, müßte ich wohl mit Ihnen mitten im Gewühl sein: schon um genau zu verstehen, wie Ihre Fragen gemeint und nicht gemeint sind. Auge in Auge würde es wohl besser gehen. Sie müssen mir also im voraus verzeihen, wenn ich beim besten Willen ein wenig mit der Stange im Nebel herumfahren sollte. Irre ich mich übrigens, wenn ich den Eindruck habe, daß nicht alle diese Fragen Ihre eigenen sind, sondern daß da auch andere Stimmen — ich vermute die des einen oder anderen Kollegen — laut werden? Wie dem auch sei: ich will versuchen, mein Bestes zu tun.
1. Ist es ausschließlich als Ungehorsam gegenüber dem Evangelium zu bewerten, wenn in einer verborgenen Herzenskammer die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung in Wohlstand und Freiheit westlicher Prägung zehrt?
Antwort: Solche Sehnsucht ist wahrhaftig wohl verständlich und gewiß auch nicht unbegründet. Ich denke, daß ich selbst sie, wäre ich an Ihrer Stelle, auch sehr lebhaft empfinden würde. Das Leben im Westen hat ja zweifellos viele und darunter auch durchaus echte Vorzüge. Und daß das Leben im Osten seine notorischen Nachteile hat, wird man [30] schon angesichts gewisser Vorgänge an der Zonengrenze unmöglich leugnen können. Es geht aber darum, welchen Raum und welche Stelle Sie jener Sehnsucht im Verhältnis zu Ihrem Gehorsam dem Evangelium gegenüber geben wollen. Schwerlich dürfte sie ja mit diesem einfach identisch sein. Oder haben Sie schon einen Christen getroffen, von dem Sie den Eindruck hatten, daß er dem Evangelium ausgerechnet darin gehorsam war, daß er diese Sehnsucht in sich nährte oder gar auslebte? Unterscheiden Sie aber deren Stimme von der des Evangeliums, dann werden Sie dieser auf alle Fälle damit gehorsam sein, daß Sie ihr die erste, jener anderen Stimme aber nur eine zweite, dritte oder vierte Stelle in der Ordnung Ihres Denkens, Wollens und Tuns einräumen. Nicht, daß Sie diese Sehnsucht haben, wohl aber, daß Sie ihr den Primat gegenüber Ihrer Verpflichtung auf das Evangelium zubilligen könnten, würde allerdings «ausschließlich als Ungehorsam» zu werten sein.
2. Kann man dem Staat der DDR angesichts der ihm inhärierenden Gefahren die von ihm gewünschte Loyalitätserklärung geben?
Antwort: Ich kenne den Wortlaut dieser Loyalitäts-Erklärung nicht, nehme aber an, daß der, der sie abgibt, nicht, wie es einst mit dem Hitlereid der Fall war («Ich schwöre Treue und Gehorsam dem Führer…»), eine Katze im Sack kaufen muß, son-[31]dern daß es sich bei dem Gegenstand der von ihm gewünschten Erklärung um eine Definition der dort aufgerichteten und bestehenden Staatsordnung handelt, über deren Wesen er durch die Verfassung der DDR unterrichtet ist. «Loyalität» dieser Ordnung gegenüber heißt (ich habe beim Folgenden die Stelle Röm. 13 vor Augen, aber durchaus auch mein eigenes Verhältnis zu der in ihrer Verfassung erklärten Ordnung der Schweizerischen Eidgenossenschaft!) ehrliche Willigkeit, ihren Bestand zu anerkennen und sich ihr — vielleicht unter Voraussetzung, aber unter praktischer Zurückstellung gewisser Bedenken (angesichts der ihr «inhärierenden Gefahren») —einzuordnen. «Loyalität» heißt nicht: Gutheißung der dieser Ordnung zugrunde liegenden Ideologie. Und «Loyalität» heißt nicht: Gutheißung aller und jeder Maßnahmen der faktischen Träger und Repräsentanten dieser Ordnung. «Loyalität» schließt den Vorbehalt der Gedankenfreiheit gegenüber der Ideologie, aber auch den Vorbehalt des Widerspruchs, eventuell des Widerstandes gegen bestimmte Explikationen und Applikationen einer vorgegebenen Staatsordnung in sich. Es gibt auch so etwas wie eine loyale Opposition. «Loyal» gegenüber einer vorgegebenen Staatsordnung ist und verhält sich der, der deren Gültigkeit und Maßgeblichkeit auch für sich anerkennt und entschlossen ist, sich in den Grenzen des ihm innerlich und äußerlich Möglichen an sie zu halten. — Ich würde an Ihrer [32] Stelle keine Schwierigkeit sehen, der DDR in diesem Sinn Loyalität entgegenzubringen und also die von Ihnen gewünschte Erklärung wahrheitsgemäß abzugeben.
3. Einer unserer theologischen Lehrer hat einmal behauptet, daß die «Stillen im Lande» das Dritte Reich weggebetet haben. Wäre ein gleiches Gebet uns in der heutigen Situation erlaubt?
Antwort: Jene Nachricht will mir darum nicht so recht gefallen, weil 1933 jedenfalls gewisse «Stille im Lande» (ich las die Lebensbeschreibung des großen Gemeinschaftsmannes und Diakonissenvaters Krawielitzki) zunächst ungemein kräftig beim Kommen des Dritten Reiches mitgewirkt haben. Ob Sie bei einem heute allfällig zu unternehmenden «Wegbeten» der DDR mittun dürfen und wollen, hängt davon ab, ob Sie es ernstlich verantworten können, dem lieben Gott mit solcher Bitte zu kommen? ob Sie nicht befürchten, daß er Sie in der Weise schrecklich erhören könnte, daß er Sie eines Morgens bei jenen «Fleischtöpfen Ägyptens», als einen dem «American way of life» Verpflichteten erwachen ließe? ob Sie es nicht fruchtbarer finden sollten, statt gegen, für die DDR zu beten und im Übrigen um Licht und Kraft zu einem rechten christlichen Sein und Tun nun gerade in der DDR? [33]
4. Inwieweit kann die Beschneidung des Öffentlichkeitsanspruchs der Kirche für uns noch ein Grund zum Widerstand sein, sofern man bedenkt, daß hier ein Hauptansatzpunkt der antikommunistischen Propaganda liegt?
Antwort: Der Begriff «Öffentlichkeitsanspruch der Kirche» ist als solcher tief problematisch. Eigentlichen und echten Öffentlichkeitsanspruch kann nur Gott selbst für sein Wort erheben. Die Kirche hat keinen «Anspruch» auf Öffentlichkeit ihres Wortes. Anspruch hat das Wort Gottes auf den treuen, genauen und gänzlich anspruchslosen Dienst ihres Wortes. Öffentlichkeit kann dieses nur bekommen, indem Gott in seiner unverdienten Gnade sie ihm geben will. Die «Beschneidung» des Öffentlichkeitsanspruchs der Kirche dürfte also gewiß als ein ihr durch das Werkzeug des sozialistischen Staates wider dessen Willen zugewendetes göttliches Liebeswerk zu verstehen sein, dem sich zu widersetzen nicht ratsam sein dürfte. Und um die «antikommunistische Propaganda» muß es, theologisch gesehen, schlimm stehen, wenn sie ausgerechnet hier ihren «Hauptansatzpunkt» hat.
5. Die angespannte Lage zerrt an den Nerven und reagiert sich nach innen ab. Gereiztheiten nahe dem Herzinfarkt führen buchstäblich zu kaum heilbaren Auseinander-setzungen. Daher: Dürfen wir uns trotz der Dringlichkeit dieser und ähnlicher Fragen noch solche Zerreißproben leisten? Ist es uns nicht zu Zeiten machtvoller Druckperio-[34]den geboten, der taktischen Rücksicht auf den inneren Zusammenhalt ein zwingenderes Gewicht zuzumessen als der Durchsetzung der eigenen besseren Erkenntnis?
Antwort: Die Frage erschüttert mich, weil sie selbst für den nur aus der Ferne Beteiligten so unmittelbar deutlich von Ihrem persönlich menschlichen Dransein redet. Ich meine zu sehen: Die Sache geht Ihnen auf die Nerven und schlägt von da aus nach innen. Sie und Ihre Brüder geraten, sogar von Herzinfarkt bedroht, in gegenseitiger Gereiztheit auseinander. Wie kann ich Ihnen da, wo ich ja fast einen Mediziner um Rat fragen sollte, etwas Hilfreiches sagen? Wenn überhaupt, dann vielleicht im Blick auf die Alternative, mit der Sie mich in Ihrer eigentlichen Frage bekannt machen: Ob angesichts der in der Diskussion der vier vorangehenden (und wohl auch der noch nachfolgenden) Fragen stattfindenden «Zerreißproben» die Durchsetzung der eigenen besseren Erkenntnis oder die «taktische Rücksicht auf den inneren Zusammenhalt» der Brüder untereinander zu bevorzugen sei? Sie scheinen sich der zweiten Möglichkeit zuzuneigen. Mir kommt es vor: diese Alternative als solche geht nicht in Ordnung. Wenn Christen, Pfarrer, Theologen unter sich uneinig sind, dann kann weder die Frage nach der «Durchsetzung der besseren Erkenntnis» noch die nach dem «inneren Zusammenhalt», so ernst beide sich stellen mögen, mehr als sekundäre Bedeutung haben. Die echte Alternative [35] muß dann lauten: Wollen wir im Blick auf jene Fragen alle miteinander (zunächst ohne Rücksicht sowohl auf das eigene bessere Erkennen jedes Einzelnen als auch auf die zu erhaltende oder zu suchende Gemeinsamkeit des Erkennens, wohl aber in größter Aufgeschlossenheit) noch einmal mit jenem Exerzitium des ABC anfangen, das den Christen zum Christen macht, d.h. noch einmal auf das uns alle angehende und verpflichtende, uns allen zur Bezeugung aufgetragene Wort Gottes zurückkommen, uns darüber Rechenschaft geben, was das Evangelium von seiner freien Gnade gerade uns und unseren Gemeinden gerade jetzt und hier zu sagen haben möchte — oder wollen wir das aus irgendeinem Grunde nicht tun? Wollen wir z.B. das erwähnte Kapitel Jer. 29 in jener vorbehaltlosen Offenheit zu uns sprechen lassen oder können wir uns dazu nicht bereit finden? Lassen Sie es doch (allererst ein Jeder in seinem Studierzimmer, aber dann auch bei Ihren gemeinsamen Tagungen) auf diese «Zerreißprobe» ankommen! Kann sein, daß es dabei Scherben gibt. Kann sein, daß dabei allerlei eigene, vermeintlich bessere Erkenntnis, die es doch nicht ernstlich verdient, durchaus «durchgesetzt» zu werden, vor die Hunde geht. Kann auch sein, daß dabei allerhand nur vermeintlicher «Zusammenhalt», der wohl faul und ungründlich war oder der nur in Unwahrhaftigkeit zu gewinnen wäre, unter die Räder kommt. Sicher ist, daß es dabei da und dort zu neuer [36] brauchbarer Erkenntnis und dann auch zu neuem echtem Zusammenhalt kommen wird. Sicher ist, daß dabei jene andere Alternative dahinfällt oder doch, wie es sich gehört, relativ wird. Und sicher ist die Aussicht — ich glaube sie Ihnen, ohne Mediziner zu sein, wirklich in Aussicht stellen zu dürfen -, daß diese «Zerreißprobe», welches auch ihr Ergebnis zunächst sein möge, die sämtlichen Nerven beruhigen und nicht noch mehr an ihnen zerren und daß dabei auch allen schon drohenden Herzinfarkten mindestens in gesunder Weise entgegengewirkt werden wird. Aber was rede ich da? «Das Wort, das Wort, das Wort muß es tun» — auf der ganzen Linie. Eben das Wort wird es aber auch tun.
6. Ist uns nicht doch auch die Selbstverteidigung der Kirche auferlegt, da uns doch sonst der Raum für eine ungehinderte Verkündigung ganz verloren gehen könnte? Dient nicht die Mahnung der «Friedenspastoren», «den Angriff der Liebe Christi in die Welt hinauszutragen», letztlich nur denen, die uns den Raum der Verkündigung nehmen wollen?
Antwort: Nach dem früher Ausgeführten werden Sie, was ich dazu zu sagen habe, gewiß im voraus erraten können. Ich kann an eine der Kirche gebotene oder auch nur erlaubte «Selbstverteidigung» so wenig glauben wie an einen ihr legitim zukommenden «Öffentlichkeitsanspruch». «Raum für eine ungehinderte Verkündigung» zu bekommen, kann [37] sie vom Staat und von der Gesellschaft wohl in guter Hoffnung erwarten, und wenn sie ihn bekommt, dankbar davon Gebrauch machen. Ein zu verkündigendes Recht darauf hat sie nicht, und auf ein solches zu pochen, hat keinen Sinn. Hat sie nicht alle Hände voll mit der Frage zu tun: ob denn das, was sie in dem ihr zugebilligten großen oder kleinen oder kleinsten Raum zu «verkündigen» gedenkt, die Verkündigung dessen, was ihr aufgetragen ist, die Ausrichtung der guten Botschaft vom Reiche Gottes wirklich ist? — und mit der immer wieder neu aufzunehmenden Bitte und Arbeit, daß es das immer mehr, strenger, fröhlicher, einseitiger werden möchte? Denken Sie nicht auch, daß diese Botschaft, sofern wir dort und hier — aber das dürfte weder dort noch hier einfach vorgegeben und vorauszusetzen sein — ihre Botschafter wirklich sind, Macht genug hat, sich, wo die alten «Räume» uns versagt oder empfindlich geschmälert werden, neue Räume zu schaffen, über deren Existenz sich die Bedränger vielleicht eines Tages fassungslos wundern könnten? Lassen Sie es, ohne mit Maßnahmen zur Verteidigung der alten Räume viel Zeit und Kraft zu verlieren, darauf ankommen, wessen Licht, wenn die Dinge auf unserer Seite in Ordnung gehen, länger brennen wird! — Die von Ihnen erwähnten «Friedenspastoren», deren von Ihnen zitierte «Mahnung» in meinen Ohren freilich etwas schwülstig klingt, kenne ich nicht: vielleicht daß Einige von ihnen es [38] recht oder doch nicht schlecht meinen, vielleicht daß Andere unter ihnen nur eben Kollaborationisten sind. Mein Rat geht dahin: Sie möchten sich weder positiv noch negativ an ihnen orientieren, sondern Ihr Gesicht, wie ich es einst den Deutschen Christen gegenüber zu tun empfohlen habe, «steif nach Jerusalem» wenden.
7. Ist es nicht als ein leichtsinniges Wagen, mutwilliges Vorpreschen, voreiliges Experimentieren zu beurteilen, wenn die angeblich «brüchige Fassade» der Kirche schneller abgebaut wird, als es die Umstände mit sich bringen? Oder sollte die Stunde eines umfassenden anderen Aufbaus der Kirche gekommen sein? Gibt es ein Kriterium, die Entscheidungsgeladenheit einer Stunde annähernd werten zu können?
Antwort: Die Stunde für den umfassenden anderen Aufbau der Kirche dürfte, schon da Sie noch so — gewissermaßen akademisch — nach ihren Kriterien fragen können, auch bei Ihnen noch nicht geschlagen haben. Und wer weiß, ob das in Frage stehende Abbauen und Aufbauen überhaupt je die Sache einer bestimmten einzelnen «Stunde» sein wird. Es könnte ja auch — und in der Geschichte aller menschlichen Möglichkeiten und Verwirklichungen scheint das sogar die Regel zu sein — in einer jahrzehntelangen Folge von Lösungen aus einzelnen bisher mächtigen Bindungen und von einzeln vernehmbar werdenden Erlaubnissen und Befehlen [39] zu neuen Versuchen Ereignis werden. Ich würde an Ihrer Stelle solchen einzelnen Augenblicken entgegensehen, die dann nicht nur laut irgendwelcher Kriterien «entscheidungsgeladen» sein, sondern die Notwendigkeit und Freiheit zu unmittelbar zu vollziehenden Entscheidungen mit sich bringen werden. Ich würde «wachen», d.h. mich zu solchen unmittelbar gebotenen und erlaubten Vollzügen bereit halten, was freilich ohne zu «beten» nicht wohl tunlich sein wird — und so nicht dem, was die «Umstände» mit sich bringen, sondern den unter diesen oder jenen «Umständen» zu erwartenden göttlichen Weisungen entgegensehen. Von «leichtsinnigem Wagen, mutwilligem Vorpreschen, voreiligem Experimentieren» wird dann gar keine Rede sein können. Was dann zu tun ist, wird, eben weil es auf erwartete und erbetete «Weisung» hin getan wird, in der Entschlossenheit der «Weisheit» getan werden dürfen und müssen. Ich möchte, ohne Sie in dieser Hinsicht drängen und bedrängen zu wollen, nicht versäumen, hinzuzufügen, daß die Christenheit, soweit ich sehe, zwar zu weitausgreifenden, womöglich «eschatologischen» Meditationen und Betrachtungen zu allen Zeiten sehr willig, zum mutigen Wagnis gerade im Einzelnen und Konkreten öfters sehr unwillig, weil schläfrig und ängstlich gewesen ist: daß sie viele von jenen Augenblicken, in denen — nicht Alles, aber Etwas hätte geschehen können und müssen, versäumt hat. Könnte es nicht sein, daß es Ihnen in der deut-[40]schen Ostzone bestimmt ist, uns auch in dieser Hinsicht — nicht mit großen, spektakulären, aber mit kleinen und dafür bestimmten Schritten in der Richtung jenes Abbaus und Neubaus voranzugehen? Ich frage nur, aber ich frage.
8. Republikflüchtige Pfarrer werden in der Regel ihres Amtes enthoben. Widerspricht diese Anwendung rechtlicher Gewalt nicht dem Wesen einer rechten Kirche, deren Chance darin besteht, sich qualitativ von den Mitteln des Staates zu unterscheiden? Ist die Ausübung des Disziplinarrechtes in diesem Fall ein legitimer Weg, die Kirchenzuchtsgewalt der Gemeinde wahrzunehmen?
Antwort: «Republikflucht» eines Pfarrers wird doch wohl praktisch immer heißen, daß er seine Gemeinde, die ihm ja bei solcher Flucht nicht folgen kann, nach eigenem Gutdünken im Stich läßt. Es mag Fälle geben, in denen sich das menschlich verstehen und insofern entschuldigen läßt. Aber auch dann ist solches Tun doch wohl gleichbedeutend damit, daß der Mann sich selbst seines Amtes enthoben hat. Was heißt dann «Ausübung des Disziplinarrechtes» seitens der Kirchenbehörde Anderes als Bestätigung des Faktums des von dem Betroffenen selbst vollzogenen Ausscheidens aus dem Dienst seiner Gemeinde und der dortigen Kirche? Daß die Chance der Kirche darin besteht, sich in den von ihr zu wählenden Mitteln ihrer Aktionen von denen des Staates zu unterscheiden, ist wohl [41] wahr. Ich kann aber nicht verstehen, daß ihr damit verwehrt sein sollte, zu jenem nicht von ihr geschaffenen Faktum sanftmütig, aber bestimmt die entsprechende Feststellung zu machen. Wer dort — seine Gründe mögen sein, welche sie wollen — die DDR, d.h. praktisch seine Gemeinde verläßt, kann doch wohl weder vor den Menschen noch vor Gott in Anspruch nehmen, nach wie vor den Charakter eines Pfarrers und die allenfalls mit diesem verbundenen Rechte zu besitzen. Ob ihm Beides auf Grund bestimmter praktischer Erwägungen anderswo wieder zugesprochen werden kann, ist eine Frage für sich, zu der ich nicht Stellung nehmen möchte. Eine Erinnerung: Mir erzählte einst der mir befreundete römisch-katholische Dechant der Stadt Köln, daß er im Frühjahr 1945 den sämtlichen Klerikern seines Bereiches beim Herannahen der Amerikaner strikte verboten habe, sich der damals weit um sich greifenden Fluchtbewegung der Bevölkerung nach Osten anzuschließen, und wie er dann an der Spitze seiner Geistlichkeit dem anmarschierenden Feind feierlich entgegengezogen sei. Und noch eine Erinnerung: Wir hatten in Basel bis vor kurzem eine ganze Reihe von ostdeutschen Theologie-Studenten, die gerade auch bei mir eifrig und gescheit mittaten und ihre Zeit im «Westen» auch sonst in sehr sinnvoller und verantwortlicher Weise ausgenützt haben. Ich hoffe immer noch, daß die Sperre, die dann eingeführt wurde, gerade in der Richtung Basel eines Tages [42] wieder aufgehoben werden möchte! Wissen Sie, wie das war, als diese jungen Leute uns wieder verließen? Sie haben mir, wenn ich mich nicht irre, ohne Ausnahme, von sich aus und ausdrücklich gesagt, daß sie nun gerne wieder gerade in die Ostzone zurückkehrten, weil sie wüßten, daß sie genau dort ihren Ort und ihre Aufgabe hätten. Mag sein, daß ich allerlei besondere Voraussetzungen und Umstände in Ihrem Feld nicht kenne und darum nicht zu würdigen weiß. Vorläufig muß ich doch gestehen, daß mir, was damals in Köln geschah, und daß mir diese unverzagte Rückkehr meiner Studenten in die Ostzone christlich und theologisch richtiger erscheint als die Absetzbewegungen einzelner evangelischer Pfarrer, von denen Sie reden, und daß es mir darum vorläufig unmöglich erscheint, das Verhalten Ihrer Kirchenbehörden in dieser Sache zu tadeln.
Ich bin am Ende. Darf ich aber, bevor ich schließe, noch ein gutes Wort zugunsten der — westdeutschen Bruderschaften bei Ihnen einlegen, auf deren ungenügendes Verständnis für Ihre Lage und deren Probleme Sie leise unwillig angespielt haben. Es mag wohl sein, daß die Brüder im Westen sich praktisch zu wenig um Sie und um das, was bei Ihnen vorgeht, kümmern. Aber sehen Sie, das könnte nun eng mit dem zusammenhängen, was ich hier am Anfang im Anschluß an 1. Petr. 5, 9 zu sagen versuchte. Die west-[43]deutschen Bruderschaften stehen seit Jahr und Tag im anstrengendsten Handgemenge mit den Mächten und Gewalten, den Geistern und Dämonen im Lande des «Wirtschaftswunders», mit seinem gedankenlosen Anschluß an die Nato, mit seiner Remilitarisierung, seinem Militärseelsorgevertrag, seiner Atomwaffen-Aufrüstung, seiner panischen Russenangst, seinen Kreuzzugsstimmungen, seinen alten Nazis, mit all dem Fatalen, was «Bonn» und CDU dort sachlich und personell auch nicht zuletzt in der evangelischen Kirche bedeuten. Es sollte nicht so sein, aber ich fürchte, es ist so: sie haben einfach den Raum nicht, daneben auch noch in kräftigerer Weise direkt auch an Ihrem Sein und Tun teilzunehmen. Rechnen Sie es ihnen zugute, daß sie nun eben an ihrer Stelle dem ihnen nun eben in so ganz anderer Gestalt als Ihnen begegnenden «Widersacher» gegenüber, so gut sie es können, ihren Mann stehen, ihre Solidarität mit Ihnen nun eben damit bewähren. Daß sie Sie dabei nicht einfach vergessen können, dafür dürfte gesorgt sein, und das müssen Sie ihnen auch dann zutrauen, wenn Sie das Gefühl haben, von ihnen nicht in einer Sie befriedigenden Weise mitgetragen zu sein. Sehen Sie zu, daß Sie Ihrerseits die westdeutschen Bruderschaften in ihrem wahrhaftig auch nicht leichten Kampf nicht vergessen! [44]
Wo ich das alles schreibe? In einem Bauernhäuschen auf einer einsamen Höhe im bernischen Emmenthal. Und ich wollte wohl, daß ich Sie die Matten, Wälder und Höfe, die Vorberge und Schneeberge, die ich, wenn ich aufblicke, vor Augen habe, schnell ein wenig sehen lassen könnte. Alles geographisch und sonst sehr weit weg von den Städten, Dörfern und Feldern in der Mark, in Pommern, im Warthegau, in Thüringen, Sachsen und den anderen Landen, in denen Sie und Ihre Brüder zu arbeiten, zu «widerstehen», zu leiden haben! Sie müssen mir die große Entfernung zugute halten, wenn Sie den Eindruck haben sollten, daß ich da und dort reichlich ungenau gezielt und getroffen haben möchte. Anders steht es damit, daß Sie gewiß die Empfindung haben möchten, daß ich da und dort und vielleicht im Ganzen offene Türen eingerannt, Ihnen Dinge gesagt habe, die Sie auch und vielleicht besser wüßten. Das würde mich nicht nur nicht verdrießen, sondern freuen. Liest man nicht auch in den Episteln des Apostels Paulus (mit denen ich diesen Brief damit nicht verglichen haben will!) an mehr als einer Stelle: «Ihr wisset, liebe Brüder …»? Was kann ein Christ anderen Christen sagen, was die nicht im Grunde auch schon und vielleicht in der Tat viel besser wissen? Wir sind es uns nun einmal schuldig, uns gegenseitig gerade daran zu erinnern, es uns also wieder und wieder zu sagen.
Ob dieser Brief Sie erreichten wird, ist eine Frage für sich. Wenn doch Ihre gestrengen Herren die [45] Gnade und die Einsicht hätten, es zuzulassen, daß er Sie erreichen darf: Sie und die Anderen, denen er so oder so hilfreich sein könnte, die ich jedenfalls beim Schreiben beständig mit in meinen Gedanken hatte! Ich denke aber, daß er Ihnen in irgendeiner Form zukommen wird, auch wenn ich ihn nicht — wie es während des Krieges mit einem meiner Briefe nach Holland gemacht worden sein soll — mikrographiert im hohlen Zahn eines Sonderkuriers auf die Fahrt schicke.
Damit für diesmal Gott — wirklich Gott befohlen! «Betet für uns, wir tun es auch für euch!»
Ende August 1958
Ihr Karl Barth
Quelle: Karl Barth, Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik, Zollikon: Evangelischen Verlag, 1958.
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