Peter Gross über die Erledigung der Ewigkeit in der Multioptionsgesellschaft: „Der Tod löst nur noch Feindseligkeit aus, gleichgültig, wie und wo er stattfindet. Er wird aus dem Gesichtskreis verbannt. Seine Verdrängung zeigt zwar, daß man ihm nicht teilnahmslos gegen­übersteht, aber man weiß nicht, was man mit ihm anfangen soll. Er irritiert, weil er sinnlos ist. Am liebsten ist einem, wenn jemand stirbt wie ein Tier, sich absondernd oder klinisch sauber im Spitalbett, von wo der direkte Weg via Kühlhaus ins Grab oder Krema­torium erfolgt. Kämpfen, schreien, sich wehren gegen den Tod – das ist schwer zu ertragen, nicht der Tod!“

Erledigung der Ewigkeit (Die Multioptionsgesellschaft)

Von Peter Gross

Der Tod als zerlumpter, abstoßender Knochenmann, als mähen­der Schnitter, diese angstmachende Figur im großen Welttheater ist den Leuten geblieben. Aber er ist verschmolzen mit dem Ge­storbenen selber, mit der allgemeinen Entvölkerung des Himmels, ist gewissermaßen in den Sterbenden und besonders in den Toten hineingekrochen. Es sei den Menschen zugute gehalten, daß man sich des Todes, nicht des gestorbenen Menschen, Vaters, entledi­gen will. Das ist die individuelle Inversion der Thanatologie: Der Tod verschmilzt mit den Toten. Anfang und Ende der Welt fallen mit Geburt und Tod eines einzelnen Menschen zusammen. Diese Deutung des Todes hat weitreichende Folgen für das Leben.

Eben hat ein leichter Luftzug den zwei Tage vor dem Tode mei­nes Vaters in einer Zeitung erschienenen Rückblick meines Vaters auf sein Leben auf den Boden geweht. Der letzte Satz lautet: »Ich wühle in alten Pappschachteln… in meinen Erinnerungen versu­che ich, Zusammenhänge zwischen Wünschen und Geschehen zu ergründen und versuche, sie zu beschreiben. Doch heute weiß ich: wichtiger als schreiben ist streichen, durchstreichen, wegschnei­den.« Ich, wir wissen mit dem Satz nicht allzuviel anzufangen und können Vater leider nicht mehr fragen. Man hat ihm, dem toten Vater, mit einem Kinntuch den Mund zugebunden. Oder doch? Meinte er, daß alles Unwichtige im Angesicht des Wichtigen gelas­sen werden muß, daß das Leben mehr ist, als Leben beschreiben? Hat er sich in voller Konzentration jener Zukunft zuwenden wollen, die nun eingetreten ist? Hat er sich auf jenen ungleichen Kampf mit dem Sensenmann vorbereitet, dessen Sieg immer schon feststeht? Wie viele hundertmal hat mein Vater den Sieg des Todes über seine Mitchristen auf der Kirchenorgel begleitet. Als Orga­nist hat er nach und nach alles aufgegeben. Vor zwei Jahren hat er uns anläßlich seines achtzigsten Geburtstages noch eine von ihm bespielte Kassette übergeben. An den Totenmessen hat er festge­halten, zur Einstimmung, wie er sagte, auf das eigene Ende.

Nun ist er also von uns gegangen. Wußte er wohin? War ihm der Tod noch nicht das furchterregend Sinnlose, wie für die meisten von uns? Beginnt er, der keine Zäsur, sondern das endgültige Ende bedeutet, nicht schon sehr früh, zumindest von der Mitte des Le­bens an, unser Tun und Lassen zu begleiten, nicht als Hoffnung, sondern als Drohung? Ist der Tod, seit er endgültig ist, nicht ge­genwärtiger als zu Zeiten, wo er etwas anderes verhieß? Ist das nekrophile Hineinkriechen in den Toten, die Vereinigung mit ihm, die Vervielfältigung und gleichzeitige Individualisierung der ein­heitlich allegorischen Gestalt (jeder wird zum Tod!) nicht auch der Grund, warum man ihn möglichst rasch – würdelos – wegfährt? Man fährt den personifizierten Tod ins Kühlhaus, nicht den Vater. Die heute bei uns üblichen Verhältnisse machen den Tod würde­los.

Im Mittelalter war der Tod zwar fürchterlicher: Ein am Arm verletzter Ritter konnte Monate dahinsiechen, bis er an Wund­brand starb. Daher die Trostbüchlein, die mit Gebeten und Lie­dern das Leiden lindern und den Sinn des Lebens erkennen ließen. Heute sind körperliche Schmerzen abgesagt. Es gibt keinen »gro­ßen Tod« (Rilke) mehr, nicht einmal mehr den kleinen. Man wünscht eine Art technisches Gleiten vom Leben in den Tod. Aber (auch deswegen!) ist der Tod trostloser geworden und psycholo­gisch belastender. Interessanterweise gibt es etwas Ähnliches bei Hinrichtungen. Als die Henker von Paris am Anfang des 19. Jahr­hun­derts nicht mehr selber das Beil schwangen, sondern nur noch ein Handzeichen gaben, damit die Gehilfen ihrerseits das Fallbeil durch Hebel auslösen konnten, da fielen sie in psychische Angst­zustände (vgl. Michael Sukale, Der Henker von Paris, MS. Bamberg 1990)! Die erste Frage, die eine Frau, die neben meiner Mutter im Wochenbett lag, an den Arzt gerichtet hatte, lautete: »Hät’s Chlumpfüessli?« Beim Tod fragt niemand mehr danach. Wenn man in einzel­nen Familien durch das Aufbah­ren des Toten zu Hause ihm eben diese Aufmerksamkeit angedeihen lassen will, wendet sich die Gesellschaft verblüfft oder schau­dernd davon ab. Denn dem Tod folgt nichts, er ist kein Übergang, sondern Ende.

Wer die Augen schließt, kommt nicht in den Himmel oder in die Hölle, sondern ins Kühlhaus. Die Geburt wird, gegenüber früher, gesellschaftlich wichtiger als der Tod, obwohl dessen Abstrahlung auf den mittleren Lebensabschnitt intensiver ist als je. Gerade hat man in einem europäischen Land das staatliche Sterbegeld gestri­chen. Im Mittelalter war der Tod als individuelles Ereignis unwich­tig, als gesellschaftliches hat er eine einzigartige Bedeutung gehabt. Die mittelalterliche Ikonologie zeigt den Tod und das Sterben in allen Varianten; der Tod dreht sich auf den Kirchtürmen, ziert die Vanitas-Bilder, die Märtyrer stehen mit den Marterinstrumenten, mit denen sie zu Tode gepeinigt worden sind, in den Kirchenschif­fen. Die Reliquien liegen überall in vollem Ornat, wunderlich verziert und geschmückt unter den Meßtischen, eine selbstver­ständliche Einheit zwischen Lebenden und Toten. Und heute?

Der Tod löst nur noch Feindseligkeit aus, gleichgültig, wie und wo er stattfindet. Er wird aus dem Gesichtskreis verbannt. Seine Verdrängung zeigt zwar, daß man ihm nicht teilnahmslos gegen­übersteht, aber man weiß nicht, was man mit ihm anfangen soll. Er irritiert, weil er sinnlos ist. Am liebsten ist einem, wenn jemand stirbt wie ein Tier, sich absondernd oder klinisch sauber im Spitalbett, von wo der direkte Weg via Kühlhaus ins Grab oder Krema­torium erfolgt. Kämpfen, schreien, sich wehren gegen den Tod – das ist schwer zu ertragen, nicht der Tod! Selbst die Todesurteile werden im gesellschaftlichen Dunkel vollstreckt. Es ist furchtbar, wenn man sich die Einsamkeit vorstellt, in der z. B. in einigen Bundesstaaten der USA die Verurteilten ihre elektrischen Stühle besteigen oder ihre Gaskammern betreten, obwohl den Hinrich­tungen, so grausam es erscheint, ein gesellschaftlicher Sinn noch zugesprochen werden kann. Es ist unstatthaft, aus heutiger Sicht, dagegen die öffentlichen Hinrichtungen im Mittelalter abzuwä­gen. Aber der Tod war ein öffentliches Ereignis, währenddem er heute weder öffentlich noch privat ist; er wird vor der Öffent­lichkeit bis auf einige weiterhin eingehaltene Konventionen, wie Todesanzeigen und öffentliche Beerdigung, versteckt. Denn er, um den es eigentlich geht, ist nicht einmal als Hülle mehr da, es wird an der Haustüre kondoliert für einen Toten, der nicht im Haus ist, wie wenn er in der Fremde gestorben wäre.

Was für eine ungeheure gesellschaftliche Aufmerksamkeit wird nun – ganz im Gegensatz zur Todesvergegenwärtigung – dem Ein­tritt ins Leben zugewandt! Wie viele Bücher gibt es, welche die ersten Tage, die ersten Wochen, die Wochen und Monate vor der Geburt behandeln, werdenden Müttern und Eltern Anleitung für diese Zeit geben! Wie viele Bücher gibt es über die letzten Tage mit Sterbenden, wie viele über die letzten Tage mit Verstorbenen? Die Todesanzeige meines Vaters enthielt Kinder und Enkelkinder, alle unter Freuden und Schmerzen ins Leben gebracht. Alle sind aus den Eltern hervorgegangen, mit denen sie jetzt leben. Sie sind nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Leib ihrer Mutter ins Leben getreten, der, wie es die Bibel ausdrückt, ein Fleisch mit dem des Vaters geworden ist. Während nach dem Tod nichts kommt, der Tod der Ein- oder Übertritt (bei allen Hilfskonstruk­tionen, etwa daß man in Bäumen oder in Kindern weiterlebe) ins Nichts ist, tritt man ins Leben nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Leib einer Mutter, die wiederum leiblich eingebunden ist in einen unendlichen Strom der Generationen. Es gibt eine Vergan­genheit, aber keine Zukunft für den Einzelnen. Jeder wächst auf einem Stamm, der fest verwurzelt im generativen Erdreich steht – aber jeder Zweig, jedes Blatt stirbt ab, verdorrt, obwohl die Stammbäume, die wir von unseren Familien übernehmen, ein Bleiben im Geäst suggerieren. Sie bleiben als Vorfahren, so könnte man das auch sehen, aber die einzige Zukunft, die man sehen kann, ist die Vergangenheit für die eigenen Nachfahren. Die Ge­sellschaft richtet dementsprechend ungeheure Anstrengungen darauf, den Eintritt ins Leben politisch, rechtlich, technisch, pro­fessionell abzusichern, währenddem sie dem Austritt aus dem Leben, weil er nutzlos, sinnlos scheint, keine besondere Aufmerk­samkeit widmet. Aber geschieht der Vergangenheit, auch der individuell-generativen, nicht ähnliches?

Quelle: Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 92-95.

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