Julius Schniewind, Die Seligpreisungen Matthäus 5,3-12 (NTD): „Das Fragen und Verlangen nach Gerechtigkeit auf Erden wird selig gepriesen, das brennende Verlangen (Hunger und Durst!) danach, dass Unrecht und Ungerechtigkeit aufhören möchten. Wo dies Verlangen brennt, ist es ein Fragen nach Gott und nach seiner Gerechtigkeit, und das bedeutet allerdings eine Haltung des ganzen Lebens, ein Warten; die Antwort auf dies Warten ist die von Christus geschenkte Tat.“

Wie Julius Schniewind (1883-1948) die Seligpreisungen der Bergpredigt 1936 biblisch-theologisch auf ein „Heute“ auszulegen vermochte, erweist sich immer noch als tiefsinnig:

Die Seligpreisungen Matthäus 5,3-12 (vgl. Lk. 6,20-26)

Von Julius Schniewind

3 Selig, die im Geiste arm sind, denn ihrer ist die Himmelsherrschaft. 4 Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden, 5 Selig die demütigen, denn sie werden das Erdreich erben. 6 Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. – 7 Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit empfangen. 8 Selig, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen, 9 Selig die Friedebringer, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. 10 Selig die um Gerechtigkeit verfolgten, denn ihrer ist die Himmelsherrschaft.
11 Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und gegen euch alles Böse sagen, um Gerechtigkeit willen. 12 Freut euch und frohlockt, denn euer Lohn ist groß im Himmel; denn so haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch waren.

11.12 Wir haben schon im Druck die Verse 11 und 12 abgehoben. Sie nehmen V.10 in neuer Gestalt wieder auf. Die eigentliche Kette der Seligpreisungen reicht von V. 3 bis V.10. Das zeigt sich schon darin, daß die erste und die letzte Seligpreisung die gleiche Verheißung haben: ihrer ist die Himmelsherrschaft. Innerhalb der Reihe ist eine deutliche Einsenkung vor V.7. Dies zeigt sich schon äußerlich darin, daß die V. 3-6 und 7-10 zwei genau gleiche Strophen bilden. Die Gleichheit geht im griechischen Text bis auf die Zahl der Wörter, was nicht zufällig sein wird (Wilh. Weber): darin bezeugt sich die Feierlichkeit des Ganzen. V. 3-6 heben sich auch dadurch vom Folgenden ab, daß sie Parallelen bei Lukas haben; V. 7-10 aber sind Sondergut des Matthäus. Dennoch sind die Seligpreisungen bei Lukas ähnlich aufgebaut wie bei Matthäus: Matthäus hat zweimal vier Seligpreisungen, Lukas vier Seligpreisungen und vier Weherufe. Und bei Matthäus heben sich die zwei Strophen der Seligpreisungen inhaltlich ab: die erste (V. 3-6) spricht von einem Warten, die zweite (V. 7-16) von einem Sein der Selig-Gepriesenen.

Alle einzelnen Sprüche sind gleichartig aufgebaut. In jedem Vordersatz steht ein „selig“, und das bezieht sich auf die Gegenwart, „selig sind“ …; es ist nicht die ewige Seligkeit gemeint, sondern der griechische wie der Zugrunde liegende aramäische Ausdruck meint einen feierlichen Segenswunsch, etwa wie Ps. 1: „wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen“. Wir behalten den Ausdruck „selig“ dennoch aus der Luther-Bibel bei, um das Feierliche des Klanges wiederzugeben; übrigens heißt in älterer deutscher Sprache „der ist selig zu begrüßen …“ das gleiche wie „er ist glücklich zu preisen“, und in der Übersetzung Luthers steht im Neuen Testament ständig „selig ist“ in den gleichen Zusammenhängen, wo im Alten Testament „wohl dem“ übersetzt wird. So sprechen die Seligpreisungen den Hörern feierlich Zu, was ihre unmittelbare Gegenwart neu gestaltet. Die Begründung aber, die jeder Spruch durch seinen Nachsatz findet, weist jedesmal in die Zukunft. Alle Nachsätze tragen diese Form: hier ist immer an das künftige Gericht und an die künftige Welt Gottes gedacht. And die beiden einzigen Sprüche, die die Form der Gegenwart tragen, V. 3 und 10, meinen gerade damit Zukünftiges. Denn „ihrer ist das Himmelreich“ bedeutet, daß Gott den Seinen an seiner Zukünftigen Welt Anteil gibt; noch mehr: sie werden Anteil an der Herrschaft Gottes haben; sie werden die Himmelsherrschaft, das ewige Leben „erben“ (Mt. 25,34; 1.Kor. 6,9; Gal. 5,21; Mk. 10,17; Mt. 19,29). Die Auslegung wird zeigen, daß jedesmal Vordersatz und Nachsatz fest aufeinander bezogen sind, daß alles, was als gegenwärtig zugesprochen und als Zukünftig verheißen wird, in großer Mannigfaltigkeit dennoch eine Einheit bildet, die mit dem einen Wort „Himmelsherrschaft“, das am Anfang und Ende steht, umschrieben wird. Alle diese Nachsätze sind „indirekte Gottesrede“: sie sind Verheißungen, die von Gottes Handeln in der seit dem Alten Testament bekannten Verhüllung reden; der Name Gottes wird nicht genannt, und doch ist jede einzelne Verheißung eine feierliche Umschreibung des Namens Gottes in seinem Tun. (Indirekte Gottesrede liegt auch in 5,21.27.33 vor.)

3 Die erste Seligpreisung lautet bei Lukas anders als bei Matthäus. Lukas hat eine Seligpreisung der Armen überhaupt, während Matthäus selig spricht, „die im Geiste arm sind“. Gemeint ist beidemal dasselbe. Das zugrunde liegende Wort meint „arm“ in einem doppelten Sinn. Er hat sich in der Zeit Deuterojesajas, während und nach der Babylonischen Gefangenschaft herausgebildet. Die soziale Oberschicht, auch der Priesteradel, erliegt weithin der heidnisch-hellenistischen Kultur. Die Frommen aber, die am alten Gottesglauben und an der Strenge der Gottesgebote festhalten, gehören fast ausschließlich zur unteren sozialen Schicht, von da aus werden fast gleichwertig die Worte fromm, gerecht, gottesfürchtig einerseits und arm, gering, niedrig andrerseits. Das zeigt sich besonders in den Psalmen. Luther übersetzt die betreffenden Wörter vorzugsweise mit elend und arm. Es ist eine Haltung gemeint, die Zugleich äußerlich und innerlich ist. Menschen sind gemeint, deren äußere Lage sie dahin treibt, daß sie alles von Gott erwarten müssen, und deren innere Haltung so ist, daß sie wirklich alles allein von Gott erwarten. Sie müssen alles von Gott erwarten, denn (so ist durchgängig die Schilderung in den Psalmen, s.z. Mk. 14,49) diese Frommen, die Gott die Treue halten, sind verfolgt und verspottet, sie werden gedrückt und ihnen geschieht Anrecht; sie ringen mit dem Tode, mit Todeskrankheit, mit Anklagen der Sünde und mit dämonischen Mächten. Aber sie sind in dem allen schlechthin auf Gott angewiesen und warten auf sein Gericht, sein Heil, seine Hilfe. Sie sind die „Stillen im Lande“ (Ps. 35,20); und bis zu Jesu Zeit hat es diese Schar der „Geringen“, der „Niedrigen“, der Armen gegeben. Sie sind den Pharisäern darin verwandt, daß sie sich streng zum Gesetz halten und auf Gottes künftiges Gericht hoffen, unterscheiden sich aber darin vom Pharisäismus, daß ihnen die securitas (s.z. 3,9), die Sicherheit vor Gott, fehlt, daß sie wirklich Wartende sind. In dies Warten hinein spricht Jesus die erste Seligpreisung und alle Seligpreisungen; schon hierin zeigt sich, daß die Seligpreisungen nicht neue Erkenntnisse bringen, sondern von einer Tat Gottes sprechen; und daß die Angeredeten nickt wegen irgend einer Tugend selig gepriesen werden, sondern, höchst auffälligerweise, wegen eines Mangels.

Wenn Matthäus das Wort „arm“ näher erläutert, so geschieht dies darum, weil mit der ersten Seligpreisung die innere Haltung, mit der nah verwandten dritten Seligpreisung die äußere Lage bezeichnet wird. Der Zusatz „arm im Geist“ klingt ähnlich wie Jes. 57,15: „Der ich in der Höhe und im Heiligtum wohne und bei denen, die zerschlagen und niedrig im Geist sind“. Die Armut, die Jesus hier meint, ist die Armut vor Gott, die Armut im Geist, d.h. im innersten Herzen; Wortbildung und Sinn ist ähnlich wie in V.8, wo von denen gesprochen wird, die „rein im Herzen“ sind.

Was die erste Seligpreisung preist, bezeichnen wir gewöhnlich mit „Demut“; nur wird hier deutlich, was unter Demut zu verstehen ist. Es ist das Arm-sein vor Gott, von dem Luthers letztes Wort spricht: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Es ist das Niedrig-sein vor Gott, von dem Jes. 57,15, überhaupt Propheten und Psalmen, reden, und das in der Verkündigung Jesu immer wiederkehrt (s.z. Lk. 16,15; 18,14).

5 Wir übersetzen mit dem Wort „demütig“ die dritte Seligpreisung. Man könnte auch hier wieder übersetzen: arm, niedrig, gering. Nur ist hier auf die andere Seite der Lage gewiesen: gepriesen werden die, die setzt auf Erden gedrückt, bedrängt, verachtet sind. Einst werden sie „das Land erben“, so sagt Ps. 27,11; aber zur Zeit Jesu wird dieses Wort auf die ganze Weite der Erde bezogen. Die setzt gedrückt und verfolgt, verachtet und geschmäht sind, sie werden einst die Weltregenten sein.

Man darf diese Erwartung nicht schnell mit tadelnden Worten ablehnen. Nietzsche hat das Wort „Ressentiment“ geprägt für eine Haltung, die den Starken beneidet und ihn darum moralisch herabzusetzen sucht. Steht hinter der Hoffnung, daß die Geringen einst Weltherrscher werden, solch ein Ressentiment? Hieraus ist zu erwidern, daß unsere Seligpreisung niemals von der ersten und von der vierten abgelöst werden kann. Es geht darum, daß auf Erden einmal Recht und Gerechtigkeit herrschen möge (V. 6), daß einmal Gott selbst herrschen wird (V. 3). Die Hoffnung unserer Seligpreisung ist also richtig zu würdigen nur aus dem Glauben an Gott und aus der Hoffnung auf sein Recht: nur von da aus entsteht sie, und nicht aus irgend einem Ressentiment der sozial Gedrückten. Wohl aber läßt sich fragen, ob der Grundsatz unserer Seligpreisung nicht auch schon jenseits des biblischen Gottesglaubens verständlich wird. Die Griechen kennen keinen größeren Frevel als die „Hybris“, den Wermut, der über die Schranken hinaus will, die uns Menschen gesetzt sind. Und es fragt sich schon mit dem Blick aus den Verlaus der Weltgeschichte, ob Reiche Bestand haben, die aus solch menschlicher Hybris beruhen (Alexander der Große, Napoleon), und ob nicht vielmehr Selbstbescheidung – „Demut“ – zum Wesen echten Herrschertums gehört. Vielleicht darf an Bismarck erinnert werden; es ist erst in letzter Zeit genauer bekannt geworden, wie fest er sich im Urteilen und Handeln an das Christentum der Bibel gebunden wußte.

Freilich, unsere Seligpreisung redet vom Zukünftigen. Aber sie meint dies ganz bestimmt auch als eine Hoffnung für die Erde, nicht nur als Hoffnung auf etwas Unsichtbares, das jenseits aller irdischen Wirklichkeiten stünde. Die Hoffnung der Bibel trägt durchweg ein doppeltes Gesicht. Sie umfaßt eine Hoffnung für die Erde, die gewöhnlich nach Offb. 20,4 als „Tausendjähriges Reich“ benannt wird; und außerdem – darüber hinaus! – eine Hoffnung auf die Endvollendung, da „Gott alles in allem sein wird“ (1.Kor. 15,28). Man hat immer wieder versucht, diese beiden Hoffnungen in einem genauen System zu vereinen oder aber die erstgenannte „diesseitige“ Hoffnung ganz zu leugnen. Beides geht nicht an. Die Hoffnung auf eine Vollendung und Erneuerung der Erde ist mit dem Glauben an Gott als den Schöpfer gegeben, und damit, daß Gottes „Wort Fleisch wird“ (Joh. 1,14): Jesus geht über diese Erde und heilt Leid und Krankheit, stillt den Hunger und erfüllt die Hochzeitsfreude. So ist Jesu Leben in sich die Verheißung einer neuen Gestalt dieser Erbe. Zugleich aber ist Jesu gesamtes Leben ein Gang zum Tode und das Gericht über diesen ganzen „Äon“ (s.z. Mk.1,15; 1.Kor. 2,8). So kommt sein Werk erst zur Vollendung in der Auferstehung, die eine andere Gestalt trägt als alles, was jemals irdisch heißt: und Jesu Auserstehung ist der Anfang einer neuen Welt, in der irdische Ordnungen nicht mehr gelten (s.z. Mk. 12,18ff.; 1.Kor. 15,50).

4 Zwischen die erste und die dritte Seligpreisung ist V.4 eingeschaltet, die Seligpreisung der Trauernden. Das ist, da die erste und dritte Seligpreisung so nah verwandt sind, recht ausfällig. Man hat daher schon früh V. 5 vor V. 4 gestellt, ähnlich wie wir es in unserer Auslegung getan haben. Diese Umstellung ist wahrscheinlich schon im 2. Jahrhundert und auf syrischem Sprachgebiet erfolgt, wo die beiden in V. 3 und 5 gebrauchten Worte ebenso zum Verwechseln ähnlich klingen, wie in der Muttersprache Jesu selbst. Viele Forscher nehmen an, daß diese Reihenfolge (V. 3, 5, 4) die ursprüngliche ist. Aber dann bleibt schwer zu verstehen, weshalb man diesen klaren Text dadurch undeutlich machen konnte, daß man die Seligpreisung der Trauernden vorangestellt hätte, was hat diese mit der ersten Seligpreisung zu tun? Der Zusammenhang ist verborgen, aber deshalb gewiß ursprünglich: V. 3 und 4 zusammen sind eine Anspielung auf Jes. 61,1.2. Dort heißt es: „Der Geist des Herrn Jahwe ist auf mir, weil Jahwe mich gesalbt, die Freudenbotschaft den Elenden zu bringen mich gesandt hat, zu verbinden Herzgebrochene, … zu trösten alle Trauernden.“ Die Beziehung ist deshalb verhüllt, weil in Jes. 61 noch verschiedene andere Gaben des Geistgesalbten genannt werden. Aber das Wort aus Deuterojesaja beginnt mit der Seligpreisung der Elenden und endet mit dem Spruch vom Trost; man verstand damals solche Anspielungen auf Bibelworte, und die Anspielung gerade auf Jes. 61,1 kehrt in Jesu Worten noch in Mt. 11,5 und Lk. 4,18.19 wieder. Diese Anspielung ist ein verhülltes Messiasbekenntnis, verhüllt ist das Bekenntnis auch in Lk. 4 (s.d.), obwohl dort und auch in Mt. 11 (s.d. V. 3 und 6) die Beziehung auf die Person Jesu deutlicher ist als an unserer Stelle. Aber auch aus unseren Seligpreisungen konnte, „wer Ohren hat zu hören“, den Ruf des Messias vernehmen. Denn der Messias ist der mit dem Geist Gesalbte (s.z. Mk. 1,9ff.), er ist der „Freudenbote“, ist der „Tröster“: dies waren Messiasnamen der damaligen Erwartung; der Messias trägt also in der Erwartung der ersten Hörer Jesu all die Züge, die in Jes. 61 genannt sind und auf die unsere Stelle anspielt.

Die Tröstung, die in der messianischen Zeit anbricht, umfaßt alles, was Leid heißt. Man darf unsere Seligpreisung nicht verengen, etwa auf die Tröstung des Sündenleides. Es ist vielmehr alles umspannt, was Macht des Todes heißt, und man erinnert mit Recht an Worte wie Ps. 126,5; Offb. 7,17. Nur wird in der Bibel die Macht des Todes in unmittelbare Nähe gerückt Zur Macht der Sünde und des Satans (Röm. 5,12ff.; 6,23; 1.Kor. 15,56; Hebr. 2,14f.); unsere Scheidung von Gott ist das, was dem Tode den Schrecken und die Macht verleiht. And so ist Jesus als der Messias der, der dem Tode die Macht nimmt, in seinen Taten (Mk. 5,35ff.; Lk. 7,11ff.; Joh. 11,23ff.) und Worten (Mt. 11,5; 8,22; Lk. 15,32), durch sein Sterben und Auferstehen (2.Tim. 1,16 u.v.a.).

Auch wenn wir so die Beziehung der beiden ersten Seligpreisungen zu Jes. 61 erkennen, bleibt der Zusammenhang mit V. 5 verständlich, V. 5 führt vom neuen Himmel zur neuen Erde herab, von der jenseitigen zur diesseitigen Hoffnung. Jenseitig ist die Hoffnung auf Gottes Königsherrschaft (1.Kor. 15,28), jenseitig die auf Überwindung des Todes (Lk. 26,35.36). Von der neuen Erde aber reden V. 5 und V. 6. Doch auch dies lag in der Nähe von Jes. 61. Unmittelbar vor dem Spruch, auf den die beiden ersten Seligpreisungen anspielten, steht Jes. 60,21: „And dein Volk besteht aus lauter Gerechten, auf ewig werden sie das Land besitzen“ (man kann das letzte auch übersetzen: sie werden das Erdreich ererben). Dieser Spruch zeigt zugleich, wie eng V. 6 und V. 5 zusammenhängen. Die erneuerte Erde wird eine Stätte der Gerechtigkeit sein (2.Petr. 3,13), und alle Psalmen reden davon, daß Gott endlich die Hoffnung der Gedrückten und Armen erfüllen, ihnen Recht verschaffen wird.

6 So nämlich ist V. 6 zu verstehen, das Wort vom Hungern und Dürsten. Es ist hier nicht in erster Linie daran gedacht, daß die Seliggepriesenen Gerechte werden möchten, Menschen, die Gerechtigkeit üben, gerechte Taten tun. Davon wird freilich in der Bergpredigt genug gesprochen (vgl. 5,10.20; 6,1(?).33). Aber in unserer Stelle werden nicht, die Gerechtigkeit tun, gepriesen, sondern die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten; es sind also Menschen gemeint, die etwas empfangen wollen. Hunger und Durst sind schon Jes. 55,1; Ps. 42,2; Baruch 2,18 Bilder für das Verlangen nach Gott; ebenso ist es im Neuen Testament (vgl. Joh. 4,13ff.; 7,37; Offb. 21,6; 22,17). Unsere Seligpreisung meint also Menschen, die auf eine von Gott geschenkte Gerechtigkeit warten. Man darf aber nicht ohne weiteres an das denken, was Paulus von Gottes Gerechtigkeit schreibt. Es ist nicht unmittelbar daran gedacht, daß Gott beim Endgericht die anklagenden Mächte der Sünde, des Gesetzes, des Todes verstummen läßt (Röm. 8,33.38f.; 1.Kor. 15,55.56), daß Christus dann für die Seinen eintritt (Röm. 8,34.39; 2.Kor. 5,21), und daß dies alles schon jetzt im Evangelium den Glaubenden zugesprochen wird (2.Kor. 5,19ff; Röm. 1,16.17). Wahrscheinlich meint vielmehr unsere Seligpreisung das, was die Voraussetzung für Paulus ist, die Hoffnung der Psalmen und des Deuterojesaja; Jesus spricht ihr die Erfüllung zu. Die Hoffnung richtet sich in der Tat auf Gottes Endgericht, aber sie meint zunächst, daß Gottes Schar, die Schar der Geringen und Armen, dann Recht bekommt gegenüber allen Bedrängern. Doch schon in den Psalmen war (s.z. V. 3) hinter der Bedrängnis durch Gottes Feinde die Macht dämonischer Kräfte spürbar und die Anklage der Sünde; und wenn die Psalmisten auf Gottes Gerechtigkeit warten, so warten sie darauf, daß Gott die Seinen gerecht spricht, ihnen Recht verschafft gegenüber all diesen Anklagen. Von da aus ist schon im Alten Testament die Gerechtigkeit Gottes eine überpersönliche Macht, die gleichsam vom Menschen Besitz ergreift (Ps. 36,11; 46,11; 85,11; 89,15; 103,17). Und von da aus schließt die Erwartung auf Gottes Gerechtigkeit sofort das ein, was beim Menschen selbst „Gerechtigkeit tun“ heißen mag (Ps. 11,7; 85,10-12; 119,106.121). Diese Beobachtung wird sich an den weiteren Stellen der Bergpredigt bewähren. Bei der Gerechtigkeit, die Menschen üben, ist immer an eine Macht Gottes gedacht, die vom Menschen Besitz ergreift.

Aber es ist zunächst wichtig, unsere Seligpreisung in ihrer Schlichtheit zu belasten. Das Fragen und Verlangen nach Gerechtigkeit auf Erden wird selig gepriesen, das brennende Verlangen (Hunger und Durst!) danach, daß Unrecht und Ungerechtigkeit aufhören möchten. Wo dies Verlangen brennt, ist es ein Fragen nach Gott und nach seiner Gerechtigkeit, und das bedeutet allerdings eine Haltung des ganzen Lebens, ein Warten; die Antwort auf dies Warten ist die von Christus geschenkte Tat. Es ist nämlich bei unserer Seligpreisung nicht anders als bei den drei vorhergehenden: die Erfüllung dieser Hoffnung wird von der messianischen Zeit erwartet. Der Messias wird den Namen tragen: Jahwe ist unsere Gerechtigkeit (Jer. 23,6; 33,16); er wird, vom Geist Gottes erfüllt, gerecht richten und den Elenden Recht verschaffen (Jes. 11,1-4; Psalmen Salomos 17,42; 18,8).

3-6 Hiermit ist die erste Strophe der Seligpreisungen abgeschlossen. Wartende, Fragende werden selig gepriesen, weil ihrem Warten hier mit Vollmacht (7,29) die Erfüllung zugesprochen wird. Es ist die Erfüllung der messianischen Zeit, auf die alle Gedrückten warten. And der diese Erfüllung zuspricht, gibt sich denen, die Ohren zu hören haben, als Messias zu erkennen: er ist der Freudenbote für die Armen, ist der Tröster, ist König der Gerechtigkeit. Aber dies alles wird nur verhüllt gesagt. Die christliche Gemeinde der alten Zeit, die aus den Psalmen und Propheten betete, wußte, was hier gesagt wird, und sie wußte noch um die Christusnamen: Freudenbote (Apg. 10,56; Eph. 2,17), Tröster (Lk. 2,25; 2.Thess. 2,16), Gerechtigkeit Gottes (1. Kor. 1,30; Röm. 10,3.4; 2.Kor. 5,21); sie wußte, daß all diese Seligpreisungen von Jesus als dem Christus her gelten. Aber sie verkündet ihn Zugleich so, daß er, Jesus selbst, der Arme, vor Gott und Menschen Niedrige ist (Mt. 11,29; 21,5), der ohne Trost, von Gott verlassen ist (Mt. 27,46), über den alles Anrecht einhergeht (Mt. 26,59ff.; 27,38ff.). Diese Seligpreisungen sind also Worte des Messias, aber sie sind verhüllt, weil dieser Messias selbst verhüllt ist, unköniglich von Gestalt, arm vor Gott und Menschen.

Auch abgesehen von dieser Beziehung auf Jesu Person und Werk dulden unsere Seligpreisungen die weithin übliche Deutung nicht, als würde hier eine Reihe von besonderen Tugenden aufgezählt. Das Trauern als Tugend aufzufassen, geht nur dann, wenn man es als Bußleistung versteht – genau das Gegenteil von dem, was der Ruf zur Umkehr 5,2; 4,17 in Wahrheit bedeutet; zu schweigen davon, daß Trauer und Trost im weitesten Sinn verstanden werden muß­te. Das gleiche gilt von der ersten und dritten und von der vierten Seligpreisung. Aus der ersten und dritten Seligpreisung macht man eine Tugend der Demut, aus der vierten die Tugend des strebend Bemühten: das genaue Gegenteil von dem, was in Wirklichkeit gesagt ist. Die Seligpreisungen meinen in Wirklichkeit ein Warten auf Gott, dem die Verheißung dadurch zugesprochen wird, daß Gott selbst eingreift. Gottes Eingreifen aber heißt: Jesus. Wenn man aus den Seligpreisungen eine Aufzählung menschlicher Tugenden gemacht hat, so liegt das daran, daß die christliche Verkündigung weithin die letzte Frage nach Gott vergessen hatte. Gerade die „christlichen Tugenden“ haben oft ein schiefes und kraftloses Christentum ausgeprägt, dem die freudige gelingende Tat fehlte.

Der Vergleich unserer Verse mit Lk. 6,20.21 wird in der Lukasauslegung gegeben. Gewiß hat Lukas, der nur von den Armen und von den Hungernden spricht, einen Text, der ursprünglicher aussieht als der des Matthäus. Aber die Zusätze (arm im Geist, hungernd und dürstend nach Gerechtigkeit) gehen dem Inhalt nach in der Richtung der Lukasworte: unsere Erklärung gab die Voraussetzung für das, was auch Lukas meint. Ähnliches gilt bei der dritten Seligpreisung. Daß die Hoffnung zugleich die Erde wie den Himmel umspannt, ist die Voraussetzung aller Jesusworte, und das kommt auch im Lukasevangelium deutlich zutage (vgl. 4,18; 17,21; 22,29f.).

7-10 Die zweite Strophe der Seligpreisungen ergänzt nun allerdings die erste so, daß hier neben das Warten ein Verhalten gestellt wird, neben das Entbehren ein Sein. Aber auch hier werden nicht Tugenden genannt, zu deren Übung aufgerufen wird, sondern vielmehr ein Verhalten, das aus Gottes Tun stammt. Die zweite Hälfte aller Sätze meint auch in der zweiten Strophe der Seligpreisungen, ebenso wie in der ersten Strophe, durchweg das Endgericht und die neue Welt Gottes; die erste Satzhälfte nennt jedesmal ein Sein und Tun, an dem etwas von Gottes zukünftiger Welt schon hier in dieser Welt sichtbar wird.

7 Das Gericht Gottes ist in der fünften Seligpreisung gemeint mit den Worten: Barmherzigkeit empfangen, vor Gottes, des Majestätischen und Heiligen, Gericht gilt nichts als sein Erbarmen; kein Mensch kann vor ihm einen Anspruch erheben. Dies geht schon durch das ganze Alte Testament; dies war auch zur Zeit Jesu noch nicht vergessen, obgleich das pharisäische Judentum den Verdienstgedanken ausgebildet hatte; aber man hals sich, ähnlich wie in den gleichartigen Bewegungen der römisch-katholischen Frömmigkeit, mit der Ausflucht, daß Gott als der Barmherzige dem Menschen gestattet, Verdienste zu erwerben (Psalmen Salomonis u.a.). Und so würde unsere Seligpreisung gut pharisäisch heißen: Selig die Gerechten, denn Gott wird sich ihrer erbarmen. Das Jesuswort aber setzt hier wie in allen Seligpreisungen das, was das Endgericht bringt, in unmittelbare Beziehung zum gegenwärtigen Verhalten. Der Satz ist ohne weiteres einleuchtend, und ebenfalls den Zeitgenossen Jesu geläufig, daß, wer nicht Barmherzigkeit übt, auch bei Gott keine Barmherzigkeit findet (Jak. 2,13). Und das Vaterunser nimmt diesen an sich so selbstverständlichen Satz auf (6,12.14f.): wie kann der um Gottes Vergebung bitten, der selbst nicht vergeben hat? Aber nun sind diese Sätze im Munde Jesu nicht so gemeint, als erwürbe der erbarmende, vergebende Mensch mit diesem seinem Verhalten ein Verdienst, einen Anspruch auf Gottes Erbarmen und Vergebung. Das Gleichnis vom bösen Knecht (Mt. 18,21ff.) Zeigt unwiderleglich das Gegenteil: vor Gott ist unsere Schuld unendlich, und diese Schuld ist uns erlassen; unser Vergeben wäre also nur die selbstverständliche Folgerung aus dem, was wir erfahren. Das gleiche sagt Lk. 6,36: barmherzig sein, wie unser Vater barmherzig ist. Barmherzig sein ist Gottes Art – und darum gilt: wohl dem, der Barmherzigkeit übt; er trägt etwas von Gottes Art; denn barmherzig zu sein, stammt nicht von uns Menschen, die wir ungeneigt sind, Liebe zu üben (7,11, s.d.), sondern es geschieht uns selbst zum Trotz, gleichsam über uns selbst hinweg. So werden dann auch die „Werke der Barmherzigkeit“ geschildert, Mt. 25,34ff.: die Täter wissen selbst nicht um ihr gutes Werk. Es ist die gleiche Anschauung vom Werk, die auch in Mt. 5,16; 6,3 erscheint (s.d.). Es wird also dem, der gedrängt und gezwungen ist, Barmherzigkeit zu üben, zugesprochen, daß dies nicht von ihm selbst stamme, sondern von Gott und seiner zukünftigen Welt.

8-10 Das gleiche gilt von den drei noch folgenden Sprüchen. Es läßt sich schwer entscheiden, nach welchem Grundsatz V. 8 und 9 hier angereiht sind (V. 10 bildet wie von selbst den Schluß). V. 9 ist V. 7 sehr ähnlich; möglich, daß 7 und 8 einerseits, 9 und 10 andererseits je ein Paar bilden, wobei in V. 7 und V. 9 mehr ein tätiges Verhalten, in V. 8 und 10 ein Sein bezeichnet wird.

8 Bei den reinen Herzen darf gewiß an Keuschheit gedacht werden (vgl. 5,28), aber nicht nur hieran. Rein bedeutet soviel wie lauter; „einfältig“, nicht zwiespältig (6,22; Röm. 12,8); klar, nicht getrübt (2.Kor. 1,12; Phil. 1,10; 2,15). So bezieht sich die Seligpreisung auf das ganze Leben, und man kann, wie an die Keuschheit, auch an die Lauterkeit in der Stellung zum Geld (6,22), an die Wahrheit und Einfalt des Redens (5,37; Eph. 4,29) denken. All dies umspannt das Wort „reines Herz“ schon im Alten Testament (Ps. 24,4; 51,12; 73,1). Und diese innere Reinheit steht im Gegensatz zur äußerlich kultischen Reinheit, schon im Alten Testament; und noch im Spätjudentum wußte man darum (Himmelfahrt des Mose 7,1ff.). Wenn im Neuen Testament (etwa Röm. 2,28f.; Apg. 15,9; Tit. 1,15), wenn in den Worten Jesu (Mt. 23,25; Mk. 7,15.21ff.) dieser Gegensatz ausgenommen wird, so gewinnt er eine unausweichliche Schärfe: das Innere, das Herz ist böse, und keine äußerliche Reinlichkeit kann hier helfen (23,25), auch keine kultische Reinigung das böse Herz gut machen (s.z. Mk. 7). Es ist also wieder, wie in der vorigen Seligpreisung, etwas gemeint, was dem Menschen wunderbarerweise geschenkt ist: die Unlauterkeit nicht ertragen können, „aus der Wahrheit sein“ (Joh. 3,21; 18,37). Und wieder, wie in der vorigen Seligpreisung, steht der Inhalt der Verheißung hierzu in nächster Beziehung. Gott schauen, das heißt den leuchtend Lichten schauen, 2.Kor. 3,7; 4,6; 1.Tim. 6,16: „Ein reines Herz allein den Reinen schaut“ (Tersteegen). Dies Gott-Schauen aber ist im ganzen Neuen Testament nirgends gemeint als eine „mystische“ Gottesschau, von der man damals wie heute mannigfaltig sprach. Bei solcher Gottesschau sucht der Mensch sich über sein umgrenztes irdisches Sein hinauszusteigern in eine unmittelbare Schau des Unsichtbaren. Aber alle, die sich solcher Erlebnisse gewürdigt fühlten, bezeugen, daß diesen seltenen und hohen Erfahrungen nur um so schmerzlicher die Dürre und Armut des Alltagslebens gegenübersteht. Im Neuen Testament hingegen wird beim Schauen Gottes an etwas Einmaliges gedacht, das unumschränkt ist. Es ist das „Anschauen Gottes“ in der zukünftigen Welt (Mt. 18,10; Offb. 22,4; 1.Joh. 3,2; 2.Kor. 5,7; 1.Kor. 13,9ff.); und dabei ist zunächst daran gedacht, daß man dem Weltenrichter ins Auge schauen kann und vor ihm nicht beschämt wird (1.Joh. 2,28; Mt. 25,41ff.), ganz ähnlich wie schon im Alten Testament die Hoffnung sprach: Hi. 19,27; Ps. 17,15; 11,7. „Im Alten Testament verbirgt Gott sein Angesicht vor den Seinen, wenn er sich nicht um sie kümmert, und zeigt es ihnen, wenn er ihnen Recht schafft und sie rettet“ (Wellhausen). Es wird also in unserer Seligpreisung wie in allen vorigen von Gottes zukünftigem Gericht und von Gottes zukünftiger Welt gesprochen. Sie wird denen Zugesprochen, die der Art des menschlichen Herzens (Mk. 7,21ff.) entrückt sind, sofern der Glaube (Apg. 15,9; Röm. 10,8ff.), das zugesprochene Wort (Joh. 15,3) das Herz rein macht.

9 Die Gabe der künftigen Welt wird in V. 9 als Gottessohnschaft bezeichnet. Es ist die feierliche Einsetzung in die Würde eines Gottessohnes gemeint. Dies geschieht beim jüngsten Gericht, und Gottessohnschaft ist eine Gabe der zukünftigen Welt (Weish. 5,5; Lk. 6,35; 20,36; Röm. 8,23; Offb. 21,7). Es ist in der Tat der höchste Würdename, der sich denken läßt. Erst in der künftigen Welt, wo kein Trug mehr ist, wird sich zeigen, wem diese höchste Würde, Gottes Sohn zu sein, wirklich zukommt – es steht im Griechischen hier wie in V. 45 das Wort „Sohn“ und nicht, wie im Luther-Text, „Kind“. Man wußte von der Gottessohnschaft schon in der Umgebung Jesu. In der Weisheit Salomos (einem Buch, das im 1. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria entstanden ist, aber manche Überlieferungen aus Palästina enthält) erscheint eine Gruppe der Frommen, wo jeder einzelne Fromme „Sohn Gottes“ heißt (Weish. 2,16.18); und auch sonst ist uns bezeugt, daß der Ehrenname „Gottes Sohn“ nicht nur aus das ganze Volk Israel, sondern schon aus den einzelnen Frommen angewendet wurde, ehe Jesus kam (z.B. Sir. 23,1.4). Es ist also nicht so, wie es oft dargestellt wird, als ob erst Jesus den „Gedanken der Gotteskindschaft“ geprägt hätte. Er nimmt es vielmehr hier wie in V. 16.45.48 als selbstverständlich an, daß seine Hörer ihn verstehen, wenn er von Gott als dem Vater der einzelnen spricht und von jedem einzelnen Menschen sagt, daß er seine Gottessohnschaft erweisen solle und könne. Worin aber das Neue in dieser Verkündigung liegt, das zeigt sich schon in unserer Seligpreisung. Gottessohnschaft, die höchste aller Würden, wird erst beim jüngsten Gericht untrüglich von Gott den Seinen Zugesprochen. Wem wird diese Würde zuteil? Jesus preist die Friedensstifter selig. Das Wort meint nicht nur die „Friedfertigen“, die duldend Frieden halten; vielmehr redet unser Wort von solchen, die Frieden stiften. Wer Frieden stiftet zwischen Mensch und Mensch, der trägt Gottes Art. Denn Gott ist der Gott des Friedens (Röm. 15,33; 16,20 u.ö.), und Gott stiftet Frieden zwischen sich und den Menschen, zwischen sich und seinen Feinden. Das wird im Neuen Testament mit dem Wort „Versöhnung“ ausgesprochen (Röm. 5,11; 2.Kor. 5,18ff.); man wußte aber schon vor Jesu Kommen ähnliches zu sagen; nur dachte man an eine Versöhnung von Fall zu Fall, an die Versöhnung etwa beim großen Ver­söhnungstag; das Neue Testament hingegen wird nicht müde davon zu sprechen, daß Gott ein für allemal seinen Frieden durch Christus gestiftet hat (Eph. 2,14f.; Röm. 5,1ff.; Apg. 10,36). Eben dies aber wird in unserer Seligpreisung vorausgesetzt. Sie spricht, wie alle andern Seligpreisungen, mit unbedingter Gewißheit Zukünftiges schon jetzt den Hörern zu. Wer hat die Vollmacht, so zu sprechen? Nur der Messias, der künftige Weltenrichter selbst. In unserer Seligpreisung aber ist, ähnlich wie in den beiden ersten Seligpreisungen, der messianische Klang besonders deutlich hörbar. Die Stelle Jes. 52,7 spricht von dem Freudenboten, der über die Berge kommt: er kündet Gutes, er kündet Frieden und er ruft aus, daß Gott setzt die Herrschaft antritt. Diese Stelle ist zur Zeit Jesu auf den Messias gedeutet worden. Wenn der Messias kommt, „so wird sein erstes Wort Frieden sein“. Er spricht den Frieden Gottes zu, er sagt es an, daß Gott jetzt Herrscher wird, und damit ist Friede und Heil auf Erden (ähnliches s.z. Mk. 1,14f.; 5,34).

Man hat darauf aufmerksam gemacht, daß unsere Seligpreisung an die Ehrentitel erinnert, die man damals den Weltherrschern gab (Windisch). Es ist in der Tat so, daß seit den Tagen Alexanders des Großen und bis zu den späten römischen Kaisern diese Herrscher den Titel Gottessohn führen (s.z. Mk.1,11), und daß man sie als Friedensstifter feiert. Aber diese Ehrennamen sind schon in Persien und Babel, Ägypten und China den Herrschern eigen, und die Hoffnung auf ein großes Friedensreich ist so alt, wie die Menschheit selbst. Doch schon das Alte Testament hat diese höchsten Namen in einen ganz bestimmten neuen Zusammenhang gestellt. Gott handelt und wirkt in einem besonderen einmaligen Geschehen, gegen menschliches Widerstreben und menschliche Schuld. Einmal erreicht Gottes Wirken sein Ziel: Gott selbst wird herrschen, wird seinen Friedenskönig selbst einsetzen, und so wird Friede unter den Menschen sein. Die eine uralte Menschheitserwartung hat unter einer bestimmten Geschichte, die sich zwischen Gott und Menschen abspielt, ihre wahre Ausprägung gewonnen; und auf die so ausgeprägte Hoffnung antwortet Jesu Wort.

7-9 Wenn wir so unsere Seligpreisung messianisch verstanden, so läßt sie uns zugleich die entscheidenden Züge der beiden vorigen Seligpreisungen noch genauer sehen. Der die lauteren Herzen selig preist, ist derselbe, der Mk. 7,15ff. spricht; und was er dort sagt, ist das bedingungslose Gericht über das menschliche Herz (s.d.). Aber der Richter ist es, der hier selig preist! Ähnliches sagt Mk. 2,9-11, s.d. Und wenn Gottes Gericht als Barmherzigkeit beschrieben wurde, so entspricht das wieder einem Grundzuge Jesu. Immer wieder wird von ihm gesagt, daß es ihn „jammert“ (s.z. Mk.6,34); und die Gleichnisse Lk. 15, in denen er so anschaulich von Gottes Barmherzigkeit spricht, hat er gebildet, um an ihnen seine eigene Art, sein Leben und Tun zu beschreiben (s.d.). Alle Seligpreisungen sind messianisch gemeint.

10 Bei der letzten, der Seligpreisung der Verfolgten, ist dies wieder offensichtlich. Man erwartete seit Jes. 53, daß der Messias leiden muß, und diese Erwartung ist zur Zeit Jesu nicht vergessen gewesen (s.z. Mk. 8,31ff.). Man weiß, daß die „Gerechten“ leiden müssen. Davon reden die Psalmen (etwa Ps. 34,20; und alle Worte von den „Feinden“); diese Erwartung steht im engsten Zusammenhang mit dem, was Zur ersten Seligpreisung ausgeführt wurde. Wenn die Geringen auf die Herrschaft Gottes, seinen Trost und seine Gerechtigkeit warten (V. 3.4.6), so bedeutet dies, daß sie beständig verfolgt werden, und zwar gerade deshalb, weil sie Gerechte sind. Dem Messias aber wird es nicht anders gehen als all den Gerechten; und den Tagen des Messias wird, so erwartete man, eine letzte schwerste Leidenszeit voraufgehen (s.z. Mk. 8,34ff.; Mk. 13,9ff.). Aber gerade dann kommt Gottes Herrschaft: so klingt unsere Seligpreisung mit der ersten zusammen, wie in der Hoffnung, so in der Haltung der Seliggepriesenen.

Aber alles, was von der ersten bis zur letzten Seligpreisung gesagt ist, bildet inhaltlich eine große Einheit. Die Haltung derer, die gepriesen werden, ist immer die gleiche. Es ist das Warten auf Gott, von dem die erste Seligpreisung spricht, in immer neuer Ausprägung. Das ist in der zweiten Strophe nicht anders als in der ersten: auch die in der zweiten Spruchreihe beschriebene Haltung ist ein Warten auf Gott. Menschen werden angeredet mit dem Zuspruch, daß ihr Tun und Sein von Gott stamme: die Barmherzigkeit und Lauterkeit, das Friedenstiften und das Leiden um Gerechtigkeit willen. Immer entsprechen Zuspruch und Verheißung einander: weil Gott der Barmherzige, der Lichte, der Friedensstifter, der Richter alles Bösen ist, darum gilt denen sein ewiges Heil, an denen sich Gottes Tun und Art schon jetzt ausgeprägt.

Man fragt, ob die Worte dieser zweiten Strophe echte Jesusworte sind. Nun geht gewiß die Zusammenstellung unserer Worte auf unseren Evangelisten oder eine schon vor ihm liegende Gemeindeüberlieferung zurück; denn Lukas hat ja (s. o.) nur die Sprüche der ersten Strophe, und in einem andern Zusammenhang als Matthäus. Aber die Echtheit der einzelnen Sprüche ist damit gegeben, daß, wie die Auslegung gezeigt hat, jedes Wort nur zu verstehen ist aus der besonderen Lage der Verkündigung Jesu. Den Wartenden und Hoffenden wird hier mit Vollmacht zugesprochen, daß das kommende Heil der künftigen Welt Gottes ihnen jetzt schon gebäre. Und jede einzelne Seligpreisung hat uns gezeigt, wie hier eine ganz bestimmte Erwartung dadurch in einen neuen Zusammenhang gestellt wird, daß Jesus erschienen ist. Aber die Echtheitsfragen werden in dem Augenblick unwichtig, wo man mit der neutestamentlichen Gemeinde die Überzeugung teilt, daß in ihr und durch sie der erhöhte Christus redet. Auch das, was die Gemeinde sagt, beansprucht ebensosehr Autorität und Wahrheit wie Jesu eigene Worte; dies aber deshalb, weil auch die apostolische Predigt, auch die Worte der ersten Gemeinde nichts anderes sind, als die Entfaltung dessen, was mit dem Erscheinen Jesu gegeben ist, mit seinem Leben, Sterben und Auferstehen.

11.12 V. 11 und 12 sind eine Doppelung zu V. 10. Es ist dieselbe Seligpreisung der Verfolgten noch einmal, diesmal in der Form des „ihr“; die Jünger werden unmittelbar angeredet. Ähnliche Leidensweissagungen kehren in Mt. 10,17-25.34-39; Mk. 13,11-13 Par. wieder. Wir übersetzen unsere Seligpreisung anders, als sie im Luthertext überliefert ist. Dort wird ausdrücklich hinzugefügt: (Wenn sie gegen euch alles Böse sagen) „und dabei lügen“. Es wird also eine ähnliche Warnung ausgesprochen wie 1.Petr. 4,15: die Gefahr liegt nahe, daß man um des Guten willen verfolgt zu werden glaubt, in Wahrheit aber gilt die Feindschaft nur unserer Verkehrtheit. Doch wahrscheinlich ist dieser Zusatz in unserm Text nicht ursprünglich. Denn es ist nicht zu begreifen, weshalb man ihn, wenn er ursprünglich dastand, weggelassen hätte; wohl aber ist gut zu verstehen, daß eine ausdrückliche Warnung der christlichen Leser später eingefügt wurde.

Dieselbe Überlieferung aber, die den Zusatz wegläßt, weicht auch darin vom Luthertext ab, daß sie in V. 11 wie in V. 10 liest „um Gerechtigkeit willen“, und nicht, wie wir im Luthertext lesen „um meinetwillen“. Es wechselt auch sonst in der Überlieferung (s.z. Mk. 10,29) „um meinetwillen“, „um des Evangeliums willen“, „um des Reiches Gottes willen“; so also wird hier von der Gerechtigkeit gesprochen. Die neue Gerechtigkeit (s.z. 5,20) und das Reich Gottes (12,28) ist mit Jesus erschienen. Und ganz gewiß, wenn man die ersten Christen verfolgte, so richtete sich der Haß gerade gegen ihren Herrn, gegen Jesus als den Gekreuzigten.

Die Verheißung ist, ebenso wie die Seligpreisung selbst, breiter als in den acht Sprüchen vorher. Doch hat gerade V. 12 seine Parallele bei Lukas: 6,23. Es ist frohlockende Freude, um Gerechtigkeit willen verfolgt zu sein, eine Freude, die schon die Art der ewigen Himmelsfreude trägt – das schwingt bei dem Wort „frohlocken“ immer mit. Die Freude weiß vom ewigen „Lohn“. Es lohnt sich, um Gottes willen Zu leiden, es ist nicht umsonst und vergeblich; und Gott weiß, was die Seinen leiden, und bewahrt ihnen den Lohn im Himmel auf. Scheint uns der Lohngedanke fremd? Doch zeigt schon alles Bisherige, daß, was im Himmel, in Gottes anderer Welt, auf Jesu Jünger wartet, nichts ist, was sie verdient, erworben, erzwungen hätten. Die Gaben der zukünftigen Welt, das sagten alle Seligpreisungen, werden umsonst, geschenkweise denen zuteil, die keinen Anspruch und kein meritum (dies lateinische Wort für „Verdienst“ spricht noch deutlicher als unser deutsches Wort) aufweisen. Dennoch bleibt der Lohngedanke in Jesu Worten, wie selbstverständlich: Gott läßt sich nicht umsonst dienen. Aber Lohn und Vergeltung ist Gottes Gnadengabe; es ist ein „Gnadenlohn“, Röm. 4,4 (Näheres s.z. 6,1-18). Zur Frage nach dem Lohn s. ausführlich: Günther Bornkamm, Der Lohngedanke im Neuen Testament, 1946 (Ev. Theol., Heft 2/5).

Neben die Verheißung auf den Lohn tritt noch ein zweiter Zuspruch für die Verfolgten: verfolgt zu werden, ist Prophetengeschick. Die Gerechten, der Messias selbst, sie müssen leiden (s.z. V. 10; Mk. 8,31ff.); alle Propheten haben gelitten. Hierüber wußte die Legende noch mehr zu berichten, als das Alte Testament selbst etwa von Amos, Jesaja, Jeremia erzählt; das klingt Hebr. 11,36ff. nach. Und nun werden Jesu Jünger den Propheten gleichgestellt, den Gottesmännern, vom Geist erfüllt, durch die Gott seine Taten tut und aus denen er redet. Die Jüngergemeinde weiß, daß in ihr sich die Hoffnungen von Joel 3; Jer. 31,33f.; Jes. 54,13 erfüllen: auch der Geringste unter den Christen ist wie ein Prophet, vom Geist Gottes getrieben und gelehrt. Es ist eine Haltung, die im Alten Testament und im Judentum nur als letzte, immer mehr schwindende Hoffnung geahnt wird; das Neue Testament aber weiß um ihre Erfüllung, von Jesus her, der der Geisttäufer ist (3,11 Kar.), der als der Erhöhte den Geist den Seinen sendet; doch die Evangelien berichten davon, daß die Jünger Jesu schon Zur Zeit seines Erdenlebens handeln und reden wie Propheten des Alten Testaments (Mt. 7,21ff.; Lk 9,54ff.; 10,17ff.).

Quelle: Julius Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus übersetzt und erklärt (1936), NTD 2, Göttingen 111964, S. 40-51.

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