C. S. Lewis, Über das Gebet. Brief an einen Freund: „Änderungen sind unvermeidlich. Aber ist dazu jetzt der rechte Augenblick? Zwei Merkmale für den rechten Augenblick fallen mir ein. Erstens eine Einmütigkeit, die es der Kirche – nicht einer im Augenblick siegreichen Partei — erlaubt, im neuen Werk mit vereinter Stimme zu sprechen. Zweitens: irgendwo in der Kirche die überzeugende Gegenwart jener unverwechselbaren literarischen Begabung, die es braucht, um ein gutes Gebet abfassen zu können. Es bedarf nicht einfach sehr guter Prosa, sondern einer ganz besonders guten Prosa-Art, wenn sie sich in wiederholtem und lautem Lesen bewähren soll.“

Über das Gebet. Brief an einen Freund

Von C. S. Lewis

Ich bin ganz von deinem Vorschlag eingenommen, unsern alten Plan auf­zugreifen und für unsere Briefe ein mehr oder weniger festes Thema – ein agendum zu wählen. Weil es daran gemangelt hat, ist während unserer letzten Trennung der Briefwechsel zwischen uns erlahmt. Wieviel besser ist es uns doch in der Studentenzeit gelungen, mit unsern endlosen Briefen über den »Staat«, die klassischen Versmaße und das, was damals die »neue« Psychologie hieß! Nichts bringt einen fernen Freund so nahe wie eine Mei­nungsverschiedenheit.

Du schlägst als Gegenstand das Gebet vor, und das ist etwas, was mich stark beschäftigt. Ich meine, das private Gebet. Falls du an das gemein­schaftliche gedacht hast, mache ich nicht mit. Es gibt auf der lieben Welt kein Thema (den Sport immer ausgenommen), wozu ich weniger zu sagen wüßte als Liturgik. Und das Fast-Nichts, was ich zu sagen habe, mag gleich mit diesem Brief abgetan werden. Ich finde, als Laien haben wir entgegen­zunehmen, was uns geboten wird, und daraus das Beste zu machen. Und das würde uns sehr viel leichter fallen, finde ich, wenn uns immer und überall das gleiche geboten würde.

Nach der Praxis zu schließen, teilen nur sehr wenige anglikanische Geist­fiche diese Auffassung. Sie scheinen zu meinen, die Leute ließen sich in die Kirche locken, indem man den Gottesdienst unablässig kurzweiliger, durch­sichtiger, länger, kürzer, schlichter oder verwickelter mache. Und wahr­scheinlich trifft es zu, daß es einem neuen, eifrigen Geistlichen gelingt, innerhalb seiner Pfarrei eine Minderheit zu bilden, die seinen Neuerungen zustimmt. Die Mehrheit tut es, nach meiner Ansicht nie. Wer bleibt — viele gehen überhaupt nicht mehr zur Kirche —, harrt lediglich aus.

Ist die Mehrheit eben einfach engstirnig? Ich glaube nicht. Sie hat für ihren Konservatismus einen guten Grund. Neuheit hat als solche bloß Un­terhaltungswert. Und man geht nicht zur Unterhaltung in die Kirche. Man geht zur Kirche, um sich des Gottesdienstes zu bedienen oder, wenn du lieber willst, um an ihm teilzunehmen. Jeder Gottesdienst ist ein Gefüge von Handlungen und Worten, womit wir ein Sakrament empfangen, be­reuen, bitten oder anbeten. Und am besten befähigt er uns dazu – wenn du willst: er erfüllt seine Aufgabe am besten -, wenn wir dank langjähriger Vertrautheit mit ihm nicht mehr an ihn selbst zu denken brauchen. Solange man auf seine Schritte achten und sie zählen muß, tanzt man noch nicht, sondern lernt erst tanzen. Gut sitzt ein Schuh, den man nicht beachtet. Man liest erst dann gut, wenn man nicht bewußt an Augen, Licht, Druck oder Rechtschreibung zu denken braucht. Vollkommen wäre eine kirchliche Feier dann, wenn wir ihrer kaum gewahr würden; unsere Aufmerksamkeit hätte dann Gott gegolten.

Jede Neuerung aber verhindert das. Sie fesselt unsere Aufmerksamkeit an die Feier selbst, und über einen Gottesdienst nachdenken, ist nicht dasselbe wie Gott dienen. Die entscheidende Frage nach dem Gral lautete: »Wozu bedient man sich seiner?« »Nur irrer Götzendienst schätzt Riten höher als den Gott.«

Noch Schlimmeres kann geschehen. Neuerungen können die Aufmerk­samkeit nicht einmal auf den Gottesdienst, sondern auf den Zelebranten lenken. Du weißt, was ich meine. Man mag sich noch so große Mühe geben, die Frage abzuweisen: »Was in aller Welt führt er jetzt im Schild?« – sie drängt sich auf. Mit verheerender Wirkung für die Andacht. Der Mann ist wirklich zu entschuldigen, der gesagt hat: »Ich wollte, sie beherzigten, daß der Auftrag an Petrus gelautet hat: ›Weide meine Schafe‹, und nicht: ›Experimentiere mit meinen Ratten‹, oder auch: ›Lehre meine Zirkushunde neue Kunststücke‹.«

Meine ganze Einstellung zur Liturgik läuft also auf eine Bitte um Be­ständigkeit und Einheitlichkeit hinaus. Ich kann fast mit jeder beliebigen Art von Gottesdienst etwas anfangen, solange sie nur feststeht. Wenn mir aber jede Form entzogen wird, sobald ich beginne, mich darin heimisch zu fühlen, dann kann ich in der Kunst der Anbetung niemals Fortschritte machen. Dann bekomme ich keine Gelegenheit, mir eine durch Schulung erworbene Gewohnheit anzueignen — einen habilo dell’arte. Es mag sein, daß manche Abwandlungen, die mir bloß Geschmackssache scheinen, in Wirk­lichkeit ernsthafte Lehrunterschiede in sich schließen. Aber doch gewiß nicht alle? Sollten nämlich ernsthafte Unterschiede der Lehre tatsächlich so zahlreich sein wie die Abweichungen in der Praxis, dann käme man notwendigerweise zum Schluß, daß es so etwas wie eine Anglikanische Kirche gar nicht gebe. Jedenfalls ist die liturgische Unruhe keine rein anglikanische Erscheinung; ich habe auch Römisch-Katholische darüber klagen hören. Und das bringt mich zum Ausgangspunkt zurück. Als Laien haben wir einfach auszuharren und aus dem Gebotenen das Beste zu machen. Jede Neigung zu einer leidenschaftlichen Vorliebe für eine be­stimmte Art von Gottesdienst muß schlechterdings als Versuchung gelten. Kirchliche Parteiung ist mir ein Greuel. Und wenn wir sie vermeiden, spielen wir dann nicht eine vielleicht sehr nützliche Rolle? Die Hirten gehen aus­einander, »jeder seinen eigenen Weg«, und verschwinden an verschiedenen Punkten des Horizonts. Wenn sich nun die Schafe geduldig aneinanderdrängen und lange genug blöken – vielleicht gelingt es ihnen am Ende, die Hirten zurückzurufen? (Sind manche englischen Siege nicht trotz den Generälen vom gemeinen Mann errungen worden?)

Was den Wortlaut des Gottesdienstes betrifft, so stellt sich die Frage freilich anders. Bei einer muttersprachlichen Liturgie sind Veränderungen unvermeidlich; sonst ist sie schließlich nur noch dem Namen nach mutter­sprachlich. Das Ideal eines »zeitlosen Englisch« ist reiner Unsinn. Keine lebende Sprache kann zeitlos sein. Ebensogut könnte man einen regungs­losen Fluß fordern.

Es wäre womöglich am besten gewesen, wenn die notwendigen Ände­rungen allmählich (für die meisten Leute) unmerklich eingetreten wären; hier ein bißchen und dort ein bißchen; in jedem Jahrhundert ein veraltetes Wort durch ein neues ersetzt – wie die allmähliche Änderung der Schreib­weise in aufeinanderfolgenden Shakespeare-Ausgaben. Wie die Dinge nun einmal liegen, müssen wir uns mit einem neuen Buch abfinden – voraus­gesetzt, die Regierung findet sich damit ab. Wären wir in der Lage – ich danke meinen Göttern dafür, daß ich es nicht bin -, den Verfassern dieses neuen Buches Ratschläge zu erteilen, wüßtest du zu raten? Ich wüßte kaum mehr zu sagen, als – nicht eben hilfreich – zur Vorsicht mahnen: »Aufgepaßt! Es ist so leicht, Eier zu zerbrechen, ohne daß daraus ein Omelett entsteht.«[1]

Die Liturgie ist ohnehin eines der ganz wenigen verbleibenden Bande, die unsere arg zerspaltene Kirche noch einen. Der Nutzen einer Revision müßte schon sehr bedeutend und unzweifelhaft sein, ehe wir auch noch dieses preisgeben. Kannst du dir ein neues Buch vorstellen, das nicht zur Quelle neuer Spaltungen würde?

Von denen, die auf eine Revision drängen, scheinen die meisten ein doppeltes Ziel zu erstreben: eine Modernisierung der Sprache im Interesse der Verständlichkeit und eine Verbesserung der Lehre. Sollte man beide Eingriffe — jeder für sich allein schon schmerzhaft und gefährlich — wirk­lich gleichzeitig vornehmen? Wird sie der Patient überleben? Welche Lehren sind es denn, bei denen man sich darüber einig ist, daß sie dem neuen Buch einzuverleiben seien, und wie lange wird man darin einig bleiben? Ich frage das mit Zittern, denn neulich habe ich die Äußerung eines Herrn gelesen, der zu wünschen schien, aus dem alten Buche sei alles zu tilgen, was sich nicht mit orthodoxem Freudianismus vertrage.

An wen sollen wir bei der Revision der Sprache denken? Ein mir be­kannter Landpfarrer hat einmal seinen Küster gefragt, was er unter dem Ausdruck »Recht sprechen ohne Ansehen der Person« verstehe. Der Mann antwortete: »Das heißt, keinen Unterschied machen zwischen dem einen und dem andern.« »Und was wäre gemeint, wenn es hieße ›unvoreingenom­men‹?« fragte der Pfarrer. »Weiß ich nicht. Nie davon gehört«, sagte der Küster. Du siehst, hier wird etwas verändert in der Meinung, es erleichtere das Verständnis. Aber es hilft weder dem Gebildeten, welcher »ohne Ansehen der Person« ohnehin versteht, noch dem gänzlich Un­ge­bildeten, welchem »unvoreingenommen« nicht vertraut ist. Geholfen ist damit nur einer Mittelschicht der Kirchgemeinde, die vielleicht nicht ein­mal die Mehrheit bildet. Hoffen wir, die Revisoren werden sich auf ihre Arbeit eingehend vorbereiten durch ein empirisches Studium der Volks­sprache, wie sie tatsächlich ist, und nicht wie wir sie uns a priori vorstellen. Wie viele Gelehrte wissen (was ich durch Zufall herausgefunden habe), daß ungebildete Leute oft »unkörperlich« meinen, wenn sie »unpersönlich« sagen? Wie sind Ausdrücke zu behandeln, die zwar altertümlich sind, aber nicht unverständlich? (»Hebe dich hinweg!«) Nach meiner Erfahrung wir­ken Archaismen auf verschiedene Leute ganz verschieden. Sie befremden manche, und auf andere, nicht unbedingt die Gelehrteren, wirken sie höchst numinos und bieten eine echte Hilfe für die Andacht. Wir können es nicht beiden recht machen.

Ich weiß: Änderungen sind unvermeidlich. Aber ist dazu jetzt der rechte Augenblick? Zwei Merkmale für den rechten Augenblick fallen mir ein. Erstens eine Einmütigkeit, die es der Kirche – nicht einer im Augenblick siegreichen Partei — erlaubt, im neuen Werk mit vereinter Stimme zu sprechen. Zweitens: irgendwo in der Kirche die überzeugende Gegenwart jener unverwechselbaren literarischen Begabung, die es braucht, um ein gutes Gebet abfassen zu können. Es bedarf nicht einfach sehr guter Prosa, sondern einer ganz besonders guten Prosa-Art, wenn sie sich in wiederholtem und lautem Lesen bewähren soll. Cranmer mag als Theologe seine Mängel haben; als Stilist schlägt er alle Modernen und viele seiner Vorgänger aus dem Feld. Zur Zeit nehme ich keines der beiden Merkmale wahr. Und doch möchten wir alle gern ein bißchen herumbasteln. Den Satz »Laßt euer Licht vor den Menschen leuchten« sähe sogar ich gern aus dem Offertorium ge­strichen. In diesem Zusammenhang tönt er ganz wie eine Aufforderung, das Almosen so zu spenden, daß es ja alle sehen können.

Ich hatte im Sinn, auf das einzugehen, was du über Rose Macaulays Briefe sagst; aber das muß nun bis nächste Woche warten.


[1] Nach dem englischen Sprichwort: Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zer­brechen.

Hier der Text als pdf.

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