Patrick D. Miller, Gebet als Überzeugungsakt. Rhetorik und Intention des Gebets im Alten Testament: „Die Gefühllosigkeit Gottes gehört nicht zum Gebetsverständnis Israels. In Form und Inhalt geht das Gebet um Hilfe davon aus, dass Gott bewegt werden kann und dass Gott über­zeugt wer­den kann, in der Situation zu handeln, damit sie zum Guten verändert wird.“

Gebet als Überzeugungsrede. Rhetorik und Intention des Gebets im Alten Testament

Von Patrick D. Miller

Das Gebet um Hilfe, das gemeinhin als Klage bezeichnet wird, ist die vorherrschende Gebetsform im Alten Testament, nicht nur in den Psalmen, sondern auch in den vielen Beispielen von Gebeten in Prosa und prophetischem Material. Eine sorgfältige Untersuchung dieser Gebete ermöglicht es, wie ich es hier tun möchte, darauf hinzuweisen, dass solche Gebete in verschiedener Hinsicht in erster Linie darauf abzielen, Gott zu überzeugen und zu motivieren, im Namen des Bittstellers zu handeln, der in Schwierigkeiten steckt und Gottes Hilfe braucht. Das zeigt sich in den Gebeten insgesamt, wird aber in bestimmten Aspekten ihrer Form und Rhetorik noch unterstrichen.

I. Warum Gott handeln sollte

Eines der hervorstechendsten Merkmale der biblischen Bittgebete um Hilfe ist das regelmäßige Vorhandensein von Gründen, die vor Gott als Begründung für die Bitte um Hilfe vorgebracht werden, ein Merkmal des biblischen Gebets, das als Motiv oder Motivationsklausel bezeichnet wird. Ihnen wird oft ein syntaktischer Indikator vorangestellt, z. B. „für/weil“, „um dessentwillen“, „damit“ oder „damit nicht“. Unabhängig davon, ob solche Indikatoren vorhanden sind oder nicht, sind die Prosa und die Psalmgebete voll von beharrlichen und begründeten Aufforderungen an Gott, zu handeln. Die Fragen, die ich stellen und versuchen möchte zu beantworten, lauten daher: Was sind die Gründe für die Erwartung von Gottes Hilfe, und was bedeutet es, Gott im Gebet zu drängen? Die Antworten auf diese Fragen führen uns, wie ich meine, direkt zur alttestamentlichen Form des Gebets um den Willen Gottes, einer Dimension des Gebets, die im Neuen Testament viel Aufmerksamkeit erhält, im Alten aber zu fehlen scheint.

Im weitesten Sinne neigen diese Motivklauseln dazu, entweder die Aufmerksamkeit auf eine Eigenschaft von Gottes Wesen und Charakter zu lenken oder einen Aspekt der Situation des/ der Bittsteller(s) hervorzuheben. Oft verweisen sie auf die Beziehung zwischen Gott und dem/ den Bittsteller(n) als Grund für Gottes Antwort. Diese Kategorien helfen bei der Identifizierung der wichtigsten Dinge, die in den Motivklauseln vorkommen, aber man muss sich immer bewusst sein, dass es sich in Wirklichkeit um verschiedene Aspekte einer einzigen Realität handelt.

Um den Charakter Gottes zu veranschaulichen, würde man erwarten, dass ein Gebet, das um Hilfe bittet und diese begründet, ausdrücklich Gottes Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit als ausreichenden Grund anführt. So bittet Jeremia in einem seiner Gebete:

Der HERR der Heerscharen aber richtet gerecht, er prüft Nieren und Herz. Deine Rache an ihnen werde ich sehen, denn dir habe ich meinen Rechtsstreit anvertraut.(Jer 11,20)

Wenn Gott ein gerechter Richter ist (und Jeremia weiß, dass das auf Gott zutrifft), dann geht der Prophet davon aus, dass Gott handeln will, um denjenigen zu befreien, der treu geblieben ist, und um diejenigen zu richten oder zu bestrafen, die ihn verfolgt haben. All jene Klagen, die das Unrecht und die Ungerechtigkeit der Feinde und die Unschuld und Treue des Bittstellers zu begründen suchen, geben implizit oder explizit einen Grund dafür, dass ein gerechter und gerechter Gott helfen soll. Sie hoffen, Gott dazu zu bewegen, zugunsten des gerechten und unschuldigen Bittstellers einzugreifen.[1] Hier sieht man deutlich die Überschneidung zwischen der Situation des Bittstellers und dem Wesen Gottes. Es ist gerade die Ungerechtigkeit in der menschlichen Situation, die erhoben wird, indem implizit an die Gerechtigkeit Gottes appelliert wird. Oder umgekehrt wird ein gerechter Gott angerufen, um in einer Situation zu handeln, die offenkundig unterdrückend und ungerecht ist.

In ähnlicher Weise kann man sich auf die Treue Gottes berufen, auf die Beständigkeit seines Handelns in der Welt, die sich in Gottes Verheißungen oder in seinem früheren Verhalten gegenüber einzelnen Menschen und dem Volk widerspiegelt. Als Gott droht, das Volk in der Wüste mit der Pest zu schlagen, weil es sich beschwert, sagt Mose:

Nun aber möge die Kraft des Herrn sich als groß erweisen, wie du gesagt hast: ‚Der HERR ist langmütig und von großer Gnade, er vergibt Schuld und Vergehen, lässt aber nicht ungestraft, sondern sucht die Schuld der Vorfahren heim an den Söhnen bis zur dritten und vierten Generation. Vergib doch die Schuld dieses Volks, wie es deiner großen Gnade entspricht und so wie du diesem Volk vergeben hast von Ägypten bis hierher.‘ (Num 14,17-19)

Der Appell besteht zum Teil darin, dass der Herr in mehrfacher Hinsicht treu sein wird: indem er die Verheißung einhält, indem er nach seinem Charakter handelt (Missetaten vergibt) und indem er konsequent ist, indem er dem Volk jetzt seine Sünden vergibt, wie er es durch alle Zeiten hindurch bis zur Gegenwart getan hat. Aber natürlich appelliert Mose nicht nur an die Treue Gottes. Mose fordert Gott auch auf, gemäß jener Barmherzigkeit oder unerschütterlichen Liebe zu handeln, die für den Herrn so charakteristisch ist und die in der von Mose zitierten Bekenntnisformel ausdrücklich zum Wesensmerkmal des Herrn gemacht wird. Es liegt in der Natur Gottes, treu zu sein, und es liegt in der Natur Gottes, barmherzig zu sein, eine gnädige Liebe und Vergebung zu offenbaren, selbst gegen Gottes eigene Neigung, Treulosigkeit mit Gerechtigkeit statt mit Barmherzigkeit zu belohnen. Die Berufung auf die Barmherzigkeit oder die unerschütterliche Liebe Gottes ist in den biblischen Gebeten als explizites Motiv noch häufiger anzutreffen als die Berufung auf die Gerechtigkeit, und das aus gutem Grund. Gottes Gerechtigkeit kann die Hoffnung des Bittstellers sein, aber sie kann auch sein Verhängnis werden. Im Gedenken an das barmherzige Wesen Gottes, wie es in der alten Formel und auf viele andere Weise bekundet wird, bittet der Betende Gott immer wieder darum, „nach deiner unerschütterlichen Liebe“ und „nach deinem Erbarmen“ zu handeln.[2]

Die andere Art, Gott als Gott anzusprechen, besteht darin, mehr oder weniger direkt anzudeuten, dass Gottes Ruf auf dem Spiel steht, wenn es um die Diener des Herrn geht, die in Bedrängnis und Unterdrückung schreien. Dies geschieht unter anderem durch die häufige Aufforderung an Gott, „um deines Namens willen“ zu helfen. In gewisser Weise ist ein solcher Grund ein Aufruf an Gott, so zu handeln, wie es mit dem Namen des Herrn identifiziert wird, wie es seit der Offenbarung des Namens im Exodus bis heute gezeigt wurde. Aber noch mehr ist dies ein Aufruf an Gott, seinem Namen, d.h. seinem Ruf gerecht zu werden.

Der Bittsteller behauptet damit, dass eine Befreiungstat im Namen eines Dieners des Herrn dem Ansehen Gottes als treuer und barmherziger Gott angemessen, wenn nicht sogar notwendig ist. Der Anspruch Gottes, genau die Art von Gott zu sein, die in den anderen Motivklauseln angedeutet wird, steht in dieser Situation auf dem Spiel. Im Gemeinschaftsgebet des Psalms 79 schreit das Volk:

Hilf uns, Gott unserer Hilfe,
um der Ehre deines Namens willen,
rette uns und vergib unsere Sünden
um deines Namens willen. (v. 9)

Dieser Bitte mit ihrem abschließenden Motivsatz folgt eine Frage, die sie ganz klar als Angelegenheit des Ansehens Gottes kennzeichnet:

Warum sollen die Nationen sagen:
Wo ist ihr Gott? (v. 10a)

Die Frage der Völker ist eigentlich eine Herausforderung an die Macht des Gottes Israels. Ihre Notlage zeigt der Welt, so wird suggeriert, dass der Herr unwirksam oder gleichgültig gegenüber denen ist, die in seiner Obhut stehen. Deshalb bittet das Volk am Ende des Gebetes:

Und auf unsere Nachbarn lass siebenfach zurückfallen die Schmach,
mit der sie dich schmähten, HERR. (v. 12)

Gottes Ruf steht bei Israels Schicksal auf dem Spiel. Die Verspottung des Volkes durch die Nationen ist in Wirklichkeit eine Verspottung des Gottes, dessen Volk es ist.

Während jede Motivationsklausel als Teil ihres Appells etwas über Gott aussagt, sind einige dieser Klauseln in erster Linie mit Bezug auf den Betenden formuliert. Am offensichtlichsten geschieht dies, indem kurz oder ausführlich auf die Not und das Elend des Bittenden hingewiesen wird. So sagt Jakob über Esau: „Ich fürchte, dass er kommt und mich erschlägt, mich und die Mutter samt den Kindern.“ (Gen 32,11), und Jeremia betet, dass seine Feinde umkommen mögen, „denn sie haben eine Grube gegraben, um mich zu fangen“ (Jer 18,22). Immer wieder unterstreicht der Beter in den Psalmen seine Bitte, indem er sagt: „denn ich verschmachte, … meine Gebeine sind erschrocken.“ (Ps 6,3), oder „denn die Not ist nahe; keiner ist da, der hilft“ (Ps 22,12), oder „denn mir ist bange“ (Ps 31,10; 69,18). Die Bitte kann durch die Bitte um Gottes Beistand verstärkt werden, damit demBetenden nichts zustößt.[3] Einige Male wird auf die Gefahr hingewiesen, die von den Feinden ausgeht.[4] Es gibt sogar Fälle, in denen die Bitten damit begründet werden, dass die Notlage des Klagenden als Ergebnis göttlicher Bedrängnis dargestellt wird:

HERR, strafe mich nicht in deinem Zorn,

Denn deine Pfeile haben mich getroffen,
und deine Hand ist auf mich herabgefahren.
(Ps 38,2f)

In allen derartigen Motivklauseln wird der grundlegende Grund des Gebets, nämlich das Eingehen Gottes auf den Schrei der menschlichen Not, hervorgehoben. Alle Beschreibungen der Not der Bedrängten, wo immer sie im Gebet vorkommen, gehen von Gottes Fürsorge und Mitgefühl aus, insbesondere für die Bedrängten. Auch hier wird implizit „der Herr, gnädig und barmherzig“ angerufen, der versprochen hat, den Schrei der Bedrängten zu erhören, „denn ich bin barmherzig“ (Ex 22,21-26).

Diese spezifischen Motivklauseln bringen die Grundannahme des Gebets zum Ausdruck, dass das menschliche Leid etwas ist, dem Gott seine Aufmerksamkeit schenkt. Indem sie also diesen Fall darlegen, liefern sie die Gründe für die Bitte. In einem Fall kann der Bittsteller die Aufmerksamkeit auf das Wesen Gottes lenken, in einem anderen auf die Situation, die es Gott ermöglicht, wenn nicht sogar erzwingt, gemäß diesem Wesen zu handeln.

Eine besondere Variante dieses Hinweises auf die Not des Bittstellers ist die Betonung der Schwäche und Niedrigkeit des Betenden. So sagt Jakob: „Ich bin zu unbedeutend“, und weist auf die Todesdrohung für „die Mütter mit den Kindern“ hin (Gen 32,10-11). Mose sagt über das Volk, „denn es ist mir zu schwer“ (Num 11,14). In einem Gebet um Hilfe, das nicht aus der Not heraus entstanden ist, bittet Salomo dennoch um „einen verständigen Verstand zum Regieren“ mit der Begründung, dass „ich nur ein kleines Kind bin“ und „wer kann dieses dein großes Volk regieren?“ (1.Kön 3.7,9). Seine Schwäche und Niedrigkeit für diese Aufgabe ist die Grundlage seines Hilferufs. All diesen Bitten liegt das Bewusstsein zugrunde, dass der Gott Israels von Natur aus den Schwachen, Kleinen und Ohnmächtigen zugeneigt ist. Wenn man sich selbst in diese Kategorie einordnen kann, dann hat man einen gewichtigen Grund vor Gott, der sicher eine positive Antwort hervorrufen wird. Wenn Amos also versucht, das von Gott angekündigte Gericht über das Nordreich aufzuhalten, sagt er,

HERR, vergib doch.
Wie könnte Jakob bestehen?
Er ist doch so schwach!
(Amos 7,2; vgl. v. 5)

Wie der nächste Vers andeutet, war ein solcher Appell ein wirksames Mittel, um das Urteil gegen eine Nation abzuwenden, die sich für eine der mächtigsten in der Region hielt.

II. Die Motivationsstruktur des Gebets

Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes bei weitem sprengen, all die verschiedenen Arten aufzuzählen oder zu katalogisieren, in denen Gott ausdrücklich um Hilfe gebeten wird und Gründe für eine Antwort genannt werden. Es muss jedoch anerkannt werden, dass die meisten Gebete in gewisser Weise auf diese Weise funktionieren. Sicherlich kann die Beschreibung der Notlage des Bittenden, die Klage über Not und Bedrängnis so verstanden werden, dass sie die mitfühlende Antwort Gottes hervorruft oder hervorruft. Auch die verschiedenen Ausdrücke der Zuversicht oder des Vertrauens (z. B. „Du bist mein Gott“, „Gott ist mein Schild“, „Ich vertraue auf dich“) binden den Bittsteller an die Gottheit und stellen den Beter als jemanden dar, der auf Gott vertraut und so handelt, wie Gott es erwartet und wünscht. Wenn Gott in einem Gebet um Hilfe nicht nur angesprochen, sondern auch gepriesen wird, ist dieses Lob eine Möglichkeit, Gott zum Handeln zu ermutigen. Das Gebet von König Joschafat angesichts der Moabiter und Ammoniter (2.Chr 20,5-12) wird ausdrücklich in einer Haltung der Furcht gesprochen (v. 3). Der Anrede „Herr, Gott unserer Vorfahren“ lässt Joschafat diese Fragen folgen:

Bist du nicht der Gott im Himmel und der, der über alle Königtümer der Nationen herrscht? Und in deiner Hand sind Kraft und Macht, und niemand kann dir standhalten. Bist nicht du unser Gott, der die Bewohner dieses Landes vor deinem Volk Israel vertrieben und es der Nachkommenschaft Abrahams, deines Freundes, gegeben hat für immer?
(2.Chr 20,6-7)

Seine Worte preisen Gott nicht nur als Gott im Himmel, als Herrscher über alle Völker, als Herrscher voller Kraft und Macht, als Befreier Israels usw., sondern sie dienen in gewisser Weise auch als Klage und als Motivation. Das Stellen von Fragen an Gott – wenn all diese Dinge wahr sind, warum geschieht dies – ist eine übliche Form der Klage. Ein solcher Lob­preis dient auch dazu, Gott an seinen Charakter und seine Verheißungen zu erinnern, um so die Bitte um Befreiung zu begründen.

Die Beteuerung der Unschuld des Bittstellers, die in den Psalmengebeten recht häufig vor­kommt, dient eindeutig dazu, Gottes Hilfe zu rechtfertigen. Psalm 17 ist ein hervorragendes Beispiel. Das Gebet beginnt mit anfänglichen Bitten wie „Erhöre eine gerechte Sache, HERR“, „lass deine Augen das Recht sehen“ (v. 1-2) und kehrt in den v. 6ff. zur Bitte zurück. Zwischen diesen Bitten legt der Psalmist dar, dass seine oder ihre Sache gerecht ist:

Du prüfst mein Herz, siehst nach bei Nacht,
du erprobst mich und findest nichts Böses an mir,
mein Mund vergeht sich nicht.
Bei den Taten der Menschen achte ich auf das Wort deiner Lippen.
Von den Wegen des Gewalttätigen bleiben meine Schritte fern,
auf deinen Pfaden wanken meine Tritte nicht.
(v. 3-5)

Mit all diesen Worten rechtfertigt der Bittsteller in direkter Ansprache an Gott, warum der Herr in dieser Situation eingreifen sollte, um den Psalmisten zu schützen (v. 8-9) und die Feinde zu besiegen, die falsche Anschuldigungen erhoben haben (v. 13-15).

Die Motivationsdimension dieser Gebete ist also umfassend und weitreichend. Sie durch­dringt die Gebete und deutet darauf hin, dass eines der Hauptziele des Gebets um Hilfe darin besteht, Gott zu drängen und mit ihm zu argumentieren. Selten versucht ein Gebet nicht, Gott in irgendeiner Weise in Anspruch zu nehmen. Die Bitten werden nicht ohne implizite Rheto­rik und explizite Gründe vorgebracht, um eine positive Antwort von Gott zu erhalten. Es gibt hier eine Art beunruhigende Andeutung, dass Gott nicht antworten wird, wenn man keine Gründe darlegt und keine Argumente vorbringt. Natürlich wird nicht davon ausgegan­gen, dass das Gebet eine mechanische Angelegenheit ist, bei der man einfach um Hilfe bittet und sie erhält. Im Gegenteil, wenn es beim Gebet, wie die hebräischen Wörter für „Gebet“ und „Bittgebet“ (tephillah und teḥinnah) nahelegen, darum geht, eine Sache vor Gott darzulegen (tephillah) oder an Gottes Gnade und Barmherzigkeit zu appellieren (teḥinnah), dann ist es genau das, was in den Motivationsklauseln und der Rhetorik des Gebets geschieht. Gott kann nicht gezwungen werden, aber er kann überzeugt werden. Die Gebete gehen nicht davon aus, dass die Dinge eindeutig sind, dass Gott das Gebet entweder erhört oder nicht. Sie versuchen, eine Antwort hervorzurufen, nicht nur durch die Bitten selbst, sondern durch alle Dimensio­nen des Gebets und insbesondere durch jene Sätze und Klauseln, die Gründe für Gottes Han­deln andeuten wie auch Ergebnisse, die durch Gottes Eingreifen erreicht oder verhindert werden können. Die Gefühllosigkeit Gottes gehört nicht zum Gebetsverständnis Israels. In Form und Inhalt geht das Gebet um Hilfe davon aus, dass Gott bewegt und über­zeugt wer­den kann, in der Situation zu handeln, damit sie zum Guten verändert wird. Die verschie­denen Stellen in der Bibel, an denen Gott einlenkt und nicht das tut, was er geplant hatte, sind regel­mäßig eine Reaktion auf das Gebet und das menschliche Beharren darauf, dass es Grün­de gibt, warum Gott handeln sollte, um zu helfen.

III. Der relationale Gott des Gebets

Der Charakter des biblischen Gebets deutet also stark darauf hin, dass der Betende die Gott­heit wirklich ansprechen kann, dass er Gott dazu drängen kann, im Namen des Bedürftigen zu handeln, so wie Gott beim Erlass des Gesetzes das Volk dazu drängt, zu antworten und zu gehorchen. Das Gebet war der Punkt, an dem das menschliche Geschöpf es wagte, sich der transzendenten, heiligen Gottheit zu nähern, ohne Beschränkungen für das, was ausgedrückt werden konnte; der Mensch war frei, nicht nur in Wut, Zorn, Verzweiflung und Hass zu schreien, wie im klagenden Teil des Gebets, sondern auch zu bitten, zu drängen und zu überreden. Wir haben den Schwerpunkt auf die bittstellerische Dimension des Hilfegebets gelegt, aber diese Motivklauseln weisen darauf hin, dass die Überredung ebenso im Mittel­punkt des Gebets steht wie die Bitte. Der Geist und das Herz Gottes sind empfänglich für die Bitten und die Argumente der menschlichen Geschöpfe.

Es ist jedoch wichtig, sich die Art der Argumente vor Augen zu halten. Sie appellieren an Gott, so zu sein und zu handeln, wie Gott sein und handeln würde. Hier ist das Gebet nicht einfach „dein Wille geschehe“. In der Tat bemüht sich der Bittsteller, der Gottheit seinen Willen, d. h. sein Bedürfnis und seine Vorstellung davon, was Gott tun sollte, einzuprägen. Und doch ist das Gebet, Gott möge „nach deiner beständigen Liebe“ oder „um deines Namens willen“ handeln, in einem anderen Sinn im tiefsten Sinne eine Aufforderung an Gott, zu hel­fen, denn das ist Gottes Wille. Die Motivklauseln weisen darauf hin, dass Gottes Antwort auf den Hilferuf eine Manifestation von Barmherzigkeit und Liebe sein sollte, eine Demonstration von Gottes gerechtem Handeln in der Welt, eine mitfühlende Antwort auf den Leidenden oder den Schwachen und Machtlosen in der Gemeinschaft, ein Akt der Gerechtigkeit, da Gottes Hilfe der zwischen Gott und den Menschen bestehenden Beziehung angemessen sein wird. Aber es hat sich gezeigt, dass diese Gründe, die der Bittsteller in seiner Not vorbringt, genau der Wille und der Weg Gottes sind, wie die lange Erfahrung mit Israel zeigt. Es liegt im We­sen und in der Struktur der Beziehung zwischen Gott und der menschlichen Kreatur, dass man mit der Befreiung von Schmerz und Leid, mit der Überwindung von Bedrängnis, Schuld und Unterdrückung durch andere rechnen kann. Deshalb sind die Psalmgebete über Schmerz und Leid so regelmäßig voller Zuversicht und Vertrauen.

Es besteht die implizite Annahme, dass der Hilferuf angemessen ist und an Gott gerichtet wer­den kann, weil es a priori Gottes Wille ist, die Unschuldigen und Gerechten zu retten. Das heißt, das Gebet steht im Einklang mit dem Willen Gottes, da es etwas sucht, das mit der gött­lichen Natur übereinstimmt. Wenn also, wie wir an anderer Stelle dargelegt haben, der Lob­preis Gottes ein Akt ist, der als ein begründeter, vernünftiger Akt verstanden wird (wie seine Form zeigt, in der der Aufruf zum Lobpreis in einem Grund dafür wurzelt), dann gilt das Gleiche auch für die in der Heiligen Schrift so allgegenwärtigen Klagen oder Gebete um Hilfe.[5] In diesem Fall jedoch werden die Gründe vor Gott in einem Gebet dargelegt, das in all seinen Zügen (einige deutlicher als andere) versucht, Gott davon zu überzeugen, dass göttliche Hilfe die richtige Sache ist.[6]

Patrick D. Miller (1935-2020) war Charles T. Haley Professor für alttestamentliche Theologie am Princeton Theological Seminary, Princeton, New Jersey.

Quelle: Patrick D. Miller, Prayer as Persuasion: The Rhetoric and Intention of Prayer, Word & World 13/4 (1993), S. 356-362.


[1] Für Psalmgebete, die ausdrücklich Gottes Gerechtigkeit oder Rechtschaffenheit als Grund für Gottes Hilfeleistung nennen, siehe Ps 5,13; 31,2; 35,24; 71,2; 143,1.11.

[2] Z. B. Ps 6,5; 25,7; 31,17; 44,27; 51,3; 69,14.17; 86,5.15; 109,21.26; 143,12.

[3] Ps 7,3; 13,4b; 28,1; 143,7b.

[4] Ps 5,9-11; 27,11; 35,7.20; 54,5; 56,2f; 71,10; 109,2; 143,3.

[5] Patrick D. Miller, Interpreting the Psalms (Philadelphia: Fortress, 1986), S. 64-78.

[6] Es ist anzumerken, dass die Argumente und die Überzeugungsarbeit in Gottes Gesetzgebung in umgekehrter Weise ablaufen, denn auch hier werden Motive und Gründe genannt. Aber im Gesetz ist es Gott oder sein Vertre­ter, Mose, der die Argumente vorbringt und versucht, das Volk davon zu überzeugen, dass es angemessen und vernünftig ist, dem Gesetz zu gehorchen.

Hier der Text als pdf.

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