Arbeit und Kulturleistung in der Bibel
Von Claus Westermann
Einleitend ist zunächst ein Wort zum Verhältnis des Alten und des Neuen Testaments zu dieser Frage notwendig. Würde man die Frage allein an das Neue Testament richten, so wäre der Ertrag an Antworten gering. Das Neue Testament hat seine Mitte in der Botschaft von Christus und ist von dieser Botschaft so erfüllt, daß alles andere ganz an den Rand tritt. Es kommt hinzu: Das Neue Testament ist etwa in einem Jahrhundert entstanden; die in den Evangelien und in der Apostelgeschichte ablaufende Zeit umfaßt nur wenige Jahrzehnte. In ihnen ist die Gemeinschaft der Christen eine Gruppe in Bewegung, in der Nachfolge der Jünger und der Mission der ersten Christengenerationen. Eine ausführliche, intensive Begegnung des christlichen Glaubens mit der Kultur vollzieht sich aber erst in der Zeit der Seßhaftigkeit im Verlauf der Kirchengeschichte. Hier erst stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des christlichen Glaubens zu der Kultur seiner Umwelt.
Das Alte Testament unterscheidet sich vom Neuen Testament darin, daß es in etwa einem Jahrtausend entstanden ist und die Geschichte des Gottesvolkes infolgedessen Zeiten der Gruppe in Bewegung und der Seßhaftigkeit umfaßt. Mit dem Seßhaftwerden in Kanaan begann eine äußerst lebhafte Begegnung und Auseinandersetzung mit der Kultur, der Religion, der Kunst, der Politik der Umwelt, entsprechend der Begegnung der frühen christlichen Kirche mit der Kultur seiner Umwelt. Sie findet einen starken und vielfältigen Widerhall im Alten Testament.
Darin ist es begründet, daß im Alten Testament häufig und ausführlich von Arbeit und Kultur gehandelt und daß es häufig und vielfältig mit dem Reden Gottes und dem Handeln Gottes in Verbindung gebracht wird. Das gilt allem voran für das, was das Alte Testament vom Schöpfer und von der Schöpfung sagt. Arbeit und Kultur sind ein wesentlicher Bestandteil des Redens von Schöpfer und Schöpfung im Alten Testament.
I. Arbeit und Kulturleistung im Zusammenhang der Schöpfung
In der biblischen Erzählung von der Erschaffung des Menschen Genesis 2 wird der Mensch nicht nur als vorhandenes Wesen geschaffen, so daß er hergestellt und nun da ist etwa wie eine Statue, die man aufstellen kann – diesen Eindruck suggerieren uns die vielen Darstellungen der Menschenschöpfung in der bildenden Kunst -, sondern er wird in seiner irdischen Existenz mit deren Möglichkeiten geschaffen: dem Lebensraum, den Lebensmitteln, dem Auftrag zur Arbeit und der Gemeinschaft. Dies alles gehört zu seinem Geschöpfsein; ohne das, was ihm seine Existenz ermöglicht, wäre seine Erschaffung eine bloße Abstraktion. Dabei gehören die Versorgung mit Nahrung und der Auftrag zur Arbeit nahe zusammen, der Schöpfer versorgt sein Geschöpf in der Weise mit Nahrung, daß er ihm den Auftrag gibt, den Garten, in den er ihn setzt, zu bebauen und zu bewahren. Der Segen des Schöpfers läßt die Pflanzen wachsen, die den Menschen ernähren; diesem segnenden Wirken aber ist die Arbeit des Menschen zugeordnet. So gehören der Segen des Schöpfers und die Arbeit des Menschen auch in den Gleichnissen Jesu zusammen.
Bei dem Auftrag, den Acker zu bebauen und zu bewahren, steht dem Erzähler die Ackerbaukultur vor Augen, er ist aber hier in weiterem Sinn gemeint. Es gilt für jede Kulturform, auch schon für die «Jäger und Sammler». Es ist die Aufgabe, die dem Menschen in seinem Lebensraum anvertraut ist und die das Bearbeiten und das Erhalten des Anvertrauten umfaßt.
Das erste der hier verwendeten Verben, das hebr. ābad, entspricht dem lateinischen colere und ist wie dieses eigentlich transitiv, bedeutet also bearbeiten, bebauen, auch darin dem lateinischen colere entsprechend. Dem Bearbeitenden ist das vorgegeben, was bearbeitet werden muß, der Acker bedarf des Bearbeitens. So wird eher verständlich, daß das hebr. ābad wie das lateinische colere die Bedeutung (Gott) dienen bekommen hat und daß in vielen Sprachen der Menschheit von diesem Verb das Wort für Gottesdienst (Kult usw.) abgeleitet wurde. Der Auftrag, den Acker zu bebauen, ist also hier identisch mit dem Kulturauftrag.
Das zweite Wort des Auftrags ist bewahren oder behüten, das gleiche Wort, das vom Behüten Gottes gebraucht wird: «Der Herr segne dich und behüte dich…» Das Bearbeiten des Bodens zum Zweck des Hervorbringens genügt nicht, die behutsame Pflege, die Bewahrung des anvertrauten Ackers muß hinzukommen. Damit soll von vornherein jeder Raubbau an dem dem Menschen anvertrauten Boden und allen seinen Schätzen ausgeschlossen sein. Alle menschliche Arbeit, die allein auf den Ertrag, den Gewinn aus ist, ohne die Bewahrung und Pflege des Bodens zu berücksichtigen, widerspricht dem Auftrag Gottes[1].
Die beiden Verben miteinander deuten an, daß alle menschliche Arbeit, welcher Art auch immer, am Bebauen und Bewahren des dem Menschen von seinem Schöpfer an vertrauten Lebensraumes teilhaben kann. In beiden Verben ist zunächst nur die körperliche Arbeit gemeint. Der Auftrag umfaßt auch die geistige Arbeit, aber beides ist dann gleichwertig, eine Überordnung der geistigen über die körperliche Arbeit ist dann nicht möglich. Die Freude an der Arbeit gründet in dem Auftrag, der jeglicher Arbeit ihre Würde gibt. Dabei wird aber jeder Idealisierung der Arbeit dadurch gewehrt, daß sie an der Begrenztheit des Menschen teilhat. Die Dornen und Disteln (Gen 3,18) gibt es auf allen Feldern menschlicher Arbeit. Wo ernsthaft gearbeitet wird, gibt es auch schwere Arbeit «im Schweiße deines Angesichts» (Gen 3,19); zur Freude an der Arbeit gehört auch, daß man ihre Schwierigkeiten bewältigt.
Zu dem Gebot, den Acker zu bebauen und zu bewahren, tritt in Gen 4,17-24 die Genealogie Kains, die das Wachsen und Sichverzweigen der Kulturarbeit darstellt. Dem Ackermann folgt der Erbauer einer Stadt (4,17), neben den Ackerbauer tritt der Kleinviehnomade (4,20), sein Bruder ist der Musikant, der die Zither und Schalmei handhabt (4,21). Hinzu kommt der Vater der Schmiede, der Metallbearbeitung (4,22). In dieser Genealogie ist die allmähliche Entwicklung der Kulturtätigkeiten vorausgesetzt. Wie die Generationen aus dem Segen des Schöpfers wachsen, so wächst mit ihnen die Arbeit des Menschen und verzweigt sich, und dieses Wachsen ist im Willen des Schöpfers begründet. Der Gedanke der Arbeitsteilung ist schon hier gedacht.
Das biblische Verständnis, daß die Vielfalt menschlicher Kulturarbeit mit dem Wachsen der Menschheit zusammen aus dem Segen Gottes erwächst, steht im Gegensatz einmal zu dem mytischen Verständnis, daß die Kulturgüter und Kulturwerkzeuge von den Göttern gewirkt und den Menschen geschenkt oder daß sie von den Göttern oder den «Kulturheroen» den Menschen gelehrt worden sind[2]. Hier werden die Werke der Kultur auf Götter oder Halbgötter zurückgeführt, im Gegensatz dazu befähigt in der biblischen Darstellung die Kraft des Schöpfersegens die Menschen in ihrem Wachsen zu der aus ihr erwachsenden Fülle der Kulturbetätigungen. Damit verlieren sie den Nimbus des Göttlichen oder göttlicher Entstehung; der Mensch selber als Gottes Geschöpf ist von seinem Schöpfer befähigt, sie zu schaffen. Das biblische Verständnis steht auch im Gegensatz zu dem griechischen, schon aufgeklärten Mythos von Prometheus, nach dem das Feuer den Göttern geraubt werden mußte[3]. In ihm wird die durch das Feuer ermöglichte Kulturentwicklung im Gegensatz zu der gegenüber dieser immer mehr an Bedeutung verlierenden Religion gesehen.
Weil in der christlichen Tradition diese biblischen Grundaussagen zur Arbeit und zur Kultur weithin nicht gesehen oder nicht beachtet wurden, wurde die Weiterentwicklung der Kultur und der Technik eher mit Mißtrauen als vom Mitdenken und Mitbeten der christlichen Kirchen begleitet; die Theologie orientierte sich einseitig an den Geisteswissenschaften, mit den Naturwissenschaften und der Technik wollte sie lange nichts zu tun haben. Erst jetzt, viel zu spät, bahnt sich da ein Wandel an.
Weil diese grundlegende biblische Aussage zur Kulturentfaltung nicht beachtet wurde, konnte auch nicht gesehen werden, daß im gleichen Zusammenhang auf die Gefährdung der Menschheit durch die Kulturentwicklung aufmerksam gemacht wird. Einmal durch das Lamechlied 4,23-24, in dem die neue Technik der Eisenzubereitung die Herstellung einer Vernichtungswaffe ermöglicht, die einem brutalen Macht willen dienen kann. Mit dem Fortschritt der Technik kann dieser Machtwille so gefördert werden, daß er zu einer schweren Bedrohung der menschlichen Gemeinschaft wird.
Eine andere typische Bedrohung menschlicher Gemeinschaft durch die Entwicklung der Kultur und Technik zeigt die Erzählung vom Turmbau zu Babel, Gen 11,1-9. Hier ist es das Streben nach einer die Grenzen des Menschen übersteigenden Größe, dem die Bautechnik dienen soll im Bau eines Turmes, «dessen Spitze bis in den Himmel reichen soll». Hier schon, in den Anfangskapiteln der Bibel, ist erkannt, daß Übersteigerung menschlicher Macht und Größe den Segen menschlicher Arbeitsleistung zum Fluch wandeln können. Dabei ist gesehen, daß solche den Menschen gefährdende Übersteigerung von Macht und Größe von einem einzelnen (4,23-24) wie auch von einer Gruppe (11,1-9) ausgehen kann. Zugleich ist erkannt, daß ihre Wurzeln wie auch ihre Auswirkungen im Zusammenleben der Menschen bemerkbar werden: Lamech will vor seinen Frauen mit seiner Macht protzen; der Turmbau bewirkt, daß die Beteiligten sich nicht mehr verstehen.
Sieht man beides zusammen, die Bejahung und die Warnung, dann gibt die Bibel schon auf ihren ersten Seiten klare und eindeutige Richtlinien für die Einstellung zu Arbeit und Kultur. Grundsätzliches Mißtrauen gegenüber dem Fortschritt der menschlichen Arbeit in Kultur und Technik ist genau so fragwürdig wie die Blindheit gegenüber der Gefährdung des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft durch jede Übersteigerung von Macht und Größe mit den Mitteln der Kultur und Technik.
II. Die Eigenart des biblischen Verständnisses der Kultur
Für ‹Kultur› gibt es in der Bibel keinen entsprechenden Begriff, wir können nur die Phänomene hier und dort vergleichen. Dabei zeigen sich wesentliche Unterschiede. Kultur hat sich für uns fast ganz auf den Bereich des Geistigen verlagert. Unter kulturellen Nachrichten in den Zeitungen erwarten wir Nachrichten aus den Bereichen Wissenschaft, Literatur, Kunst, Theater. Die kulturellen Aktivitäten vollziehen sich in Bereichen, die von der alltäglichen Arbeit im Ackerbau, der Industrie, der Technik, dem Verkehr unterschieden sind. Aber gerade der Ackerbau war einmal einer der Grundvorgänge der Kultur; zur Kultur gehörte ebenso das Anfertigen von Geräten, die Schmiedearbeit, der Hausbau. Die Scheidung zwischen geistiger Kultur und manueller wie technisch-industrieller Arbeit ist im biblischen Verständnis der Arbeit nicht begründet. Eine wirkliche «Humanisierung der Arbeitswelt» müßte damit beginnen, daß alle menschliche Arbeit an der Würde kulturellen Wirkens teilhat und die Unterbewertung körperlicher Arbeit aufhört. Es ist ein schlimmes Symptom, daß in unserem Sprachgefühl das Wort «Arbeiter» noch immer mit «niederer» Arbeit assoziiert wird. Von der Bibel her ist die Überbewertung der geistigen gegenüber der materiellen Kultur nicht begründet.
Es kommt ein weiterer Unterschied hinzu. Verursacht durch die Scheidung in materielle und geistige Kultur ist in deren Bereich in steigendem Maß die Scheidung in Aktive und Passive, in Darbietende und ihr Publikum beherrschend geworden. So ist es in der Literatur, in der bildenden Kunst, in Theater und Konzert, Museum und Ausstellung, Rundfunk und Fernsehen. Fragt man nach alledem in der Bibel, nimmt man staunend wahr, daß es so etwas für die Menschen der Bibel nicht gab. Aber was wir heute unter Kultur verstehen, braucht nicht ihre einzige Form zu sein. In der Tat ist Kultur bei den Menschen der Bibel etwas völlig anderes. Dies bedürfte einer umfassenden Untersuchung, ich kann nur Beispiele nennen.
1. Kultur im Gemeinschaftsleben: Ich setze ein mit dem Besuch der drei Männer bei Abraham Gen 18. Liest man diese Erzählung sorgfältig und vertieft sich in ihre Feinheiten, so geht einem auf, daß der Besuch der drei Männer als ein Kulturereignis dargestellt ist. Bei den Kleinviehnomaden in jenem Raum und in jener Zeit war ein solcher Besuch ein Höhepunkt, herausgehoben aus langen Tagen und Wochen, in denen man keinen Menschen sah. Das Besondere dieser Begegnung wurde zu einem festlichen Ereignis, bei dem jede Geste, jedes Wort, jede Handlung Form und Stil hatte. Mit ausgesuchter Achtung und «Höflichkeit» (es gab noch keine Höfe) wurden die Gäste begrüßt, eingeladen, aufgenommen, bewirtet. In diesem Rahmen kam den Worten, die dabei gewechselt wurden, eine hohe Bedeutung zu. Man machte keine Konversation, man sprach miteinander. Bei einem solchen Besuch gewechselte Worte wurden bewahrt und weitergegeben. Ein anderes Beispiel aus den Abrahamgeschichten ist der Kauf des Begräbnisplatzes aus Anlaß des Todes der Sara Gen 23, ein anderes die Werbung um Rebekka in Gen 24.
2. In dieser Erzählung entläßt der Bruder (der Vater ist schon tot) seine Schwester, die in die Ferne zieht, mit einem Abschiedssegen: «Du, unsere Schwester, werde zu tausendmal Tausend; dein Same besiege das Tor seiner Feinde!». Der Segen ist rhythmisch geformt, er ist ein kleines Gedicht wie viele Segenssprüche im Alten Testament. Der Abschied ist ein feierlicher Augenblick, er wird zur Feier gestaltet durch dieses gedichtete Wort, das sich jedem Beteiligten aus dieser Stunde einprägt. Solche kleinen Gedichte gibt es in vielen Erzählungen des Alten Testaments im Höhepunkt der Handlung, z.B. auch in dem Ausruf des Mannes bei der Erschaffung der Frau in Gen 2. Das «Gedicht» hat hier einen Ort im Leben einer Gemeinschaft, an dem es aus der Situation heraus erwächst, und in einer solchen Situation kann jeder zum Dichter werden. Im Alten Testament gibt es eine Fülle solcher Gedichte und Lieder, die in ähnlicher Weise aus dem Leben der Gemeinschaft erwuchsen: das Arbeitslied und das Liebeslied, das Siegeslied, der Stammesspruch und viele andere. Später kommen Dichtungen in unserem Sinne hinzu, Werke von Dichtern wie z.B. das Hiobbuch. Aber diese stehen in Verbindung mit jenen und treten nicht an ihre Stelle. Dasselbe gilt auch für das Erzählen, das eine der wichtigsten kulturellen Funktionen im Leben der noch schriftlosen Gemeinschaften erfüllt. Das zu entfalten ist hier nicht möglich; die Fülle und Schönheit der Erzählungen des Alten Testaments sprechen für sich.
3. Ähnliches gilt für die Geschichtstradition. Es hat wenige Völker mit so ausgeprägtem Geschichtsbewußtsein wie das alte Israel gegeben. Es lebte im Volk, und alle hatten daran teil, obwohl es weder Historiker noch Geschichtsunterricht gab. Jeder kannte die Geschichte des eigenen Volkes und vieles darüber hinaus; bei der Opferdarbringung wird das «geschichtliche Credo» gesprochen (Dtn 26), der Bauernsohn Gideon erinnert an das, was Gott früher an seinem Volk getan hat (Ri 6), bei der Gerichtsverhandlung über Jeremia (Jer 26) kann einer das Wort eines früheren Propheten zitieren, die Psalmen sind voll von Geschichtserinnerungen. Auf diesem Boden waren dann auch große Geschichtswerke möglich wie die, aus denen der Pentateuch erwuchs, und die, die das Königtum Davids darstellen.
4. Kultur und Weisheit: Ein Teil der Bibel, die es eigentlich mehr mit Kultur als Religion zu tun hat, ist die Weisheit. Erst in einem späteren Stadium wird Weisheit gelehrt und gelernt; vorher erwächst die Weisheit aus Beobachtung und Erfahrung im Alltag. Die Weisheit ist für das alte Israel einer der wichtigsten Bereiche kultureller Betätigung, an der potentiell jedes Glied des Volkes beteiligt ist. Weise ist ein Mann, der ein Unternehmen klug, sachgemäß anpackt. Weisheit erfordert das Sich-Verstehen und Sich-Zurechtfinden des Menschen in seiner Welt, das Bewältigen der Anforderungen, die das Leben an einen stellt. Die sprachliche Hauptform der Weisheit, der Aussagespruch, bringt gesammelte Erfahrung und gesammelte Beobachtung zum Ausdruck. In solchen Aussagesprüchen, z.B. «Besser wenig mit Gerechtigkeit als großes Einkommen mit Unrecht» (Spr 16,8) kann Erfahrung weitergegeben werden und anderen helfen.
Man kann in der Weisheit eine Frühform der Philosophie oder der Wissenschaft sehen. Das der Welt und dem Menschen zugewandte Suchen und Fragen des menschlichen Geistes erhält in ihr einen Ausdruck; die Beobachtung der Phänomene aber wird hier nicht isoliert und abstrahiert wie in den empirischen Wissenschaften, sie bleibt vielmehr fest verbunden mit der Erfahrung, die ein Wachsen und Reifen der Erkenntnisse erfordert. Das Experiment allein genügt nicht; zum Erwerben der Weisheit gehört die Erfahrung auf den Höhen und in den Tiefen des Lebens. Die Menschlichkeit der Weisheit zeigt sich auch darin, daß sie sich auf das Notwendige und das Wesentliche beschränkt. Im Gegensatz zu den Differenzierungen der Wissenschaften liegt bei der Weisheit im Alten Testament der Nachdruck auf dem, was alles menschliche Wissen verbindet und was allen Menschen gemeinsam sein kann.
5. Kultur im Gleichnis: Eine Unterart des Aussagespruches ist der Vergleichsspruch, z.B. «Ein goldener Ring, ein kostbares Kleinod ¡st ein weiser Warner dem hörenden Ohr» (Spr 25,12). Der Vergleich stellt unseren Begriff des Wertvollen dar, indem er neben die kluge Warnung eines Vorausschauenden, die Gehör findet, das Geschenk eines kostbaren Kleinods stellt. Der Vergleich spricht, indem er einen Zusammenhang zwischen zwei verschiedenen Daseinsbereichen aufzeigt; er ist darin ein sprachliches Kunstwerk, daß er das Vergleichende zum Reden bringt. In diesen Vergleichen wie auch in den sonstigen Sprüchen lebt die Kultur der Dörfer und Städte des alten Israel: Die Städte mit Mauern und Türmen, die Dörfer mit Häusern und Wegen, die Arbeit auf dem Acker und das Handwerk und vieles mehr.
Solcher Vergleichssprüche gibt es eine Fülle. Sie stehen in dem weiteren Kreis von Metaphern, Bildworten und Gleichnissen im Alten Testament und im Neuen Testament. Aus ihnen spricht nicht etwa der Wille zu veranschaulichen, sondern im Reden vom Menschen die Welt des Menschen mitsprechen zu lassen. Die Wirklichkeit, die den Menschen umgibt und ihm vertraut ist, soll das vom Menschen und seiner Gottesbeziehung Gesagte einleuchtender und überzeugender machen. Im Gegensatz zur mathematischen Gleichung ist jeder sprachliche Vergleich, sofern er trifft, ein Kunstwerk. Die darstellende Kunst, Bild und Skulptur, spielen in der Bibel so gut wie gar keine Rolle; an diese Stelle tritt in der Bibel der überreich entwickelte sprachliche Vergleich.
Das gilt in besonderem Maß für die Gleichnisse Jesu im Neuen Testament. Erst wenn man sie auf dem Hintergrund der Gleichnisse, Bildworte und Vergleichssprüche des Alten Testaments sieht, kommt zur Geltung, daß sie zu einem großen Teil von dem handeln, was wir Kultur nennen; dieser Lebensbereich Kultur bekommt durch die Gleichnisse Jesu eine hohe Würdigung. Die damit ausgesprochene Entsprechung bedeutet, daß Arbeit und Kultur des Menschen dabei ist, wo von Gottes Wirken gesprochen wird. Jesus bezieht damit diese Bereiche in das Gesamtgeschehen zwischen Gott und Mensch, dem Schöpfer und seiner Schöpfung ein, was ja dem Auftrag zur Arbeit in der Schöpfungsgeschichte entspricht.
Zur kulturellen Bedeutung der Sprache der Bibel wäre noch viel zu sagen. Es ist vielleicht die größte Kulturleistung der Bibel überhaupt, daß ihre einfache Sprache über mehrere Jahrtausende und auf dem Weg über viele Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verständlich geblieben ist.
III. Teilnahme an kulturellen Leistungen anderer
Was in der Urgeschichte von der Arbeit, ihrem Wachsen und ihrer Verzweigung gesagt ist, gilt von der Arbeit aller Menschen. Damit ist Arbeit und Kulturleistung im Willen des Schöpfers mit der ganzen Menschheit begründet, und das hat zur Folge, daß die Bibel ohne jede Hemmung von der Übernahme kultureller Leistungen anderer Völker durch das Volk Gottes spricht.
Am wichtigsten ist die Übernahme der Schrift. Sie ist eine der wichtigsten kulturellen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte, und sie ist außerhalb Israels erfunden und weitergebildet worden, bis Israel sie übernahm. Die Bibel als Buch ist erst durch sie ermöglicht; das zeigt in aller Klarheit, daß kulturelle Leistungen bejaht und angenommen werden können, auch wenn sie außerhalb Israels und seiner Religion entstanden.
Man kann den Kreis noch weiter ziehen. Auch die Sprache, in der die Heilige Schrift entstand, die Sprache des Gotteswortes, in der den Israeliten verkündet wurde: «Ich habe euer Elend gesehen…», hatte eine lange und verzweigte Geschichte der semitischen Sprachen hinter sich, die sich außerhalb der Geschichte und der Religion Israels abspielte. Auch diese Sprache ist für das, was zwischen Gott und Israel geschah, nicht erst geschaffen, sondern von anderen übernommen worden. Sie ist darum nicht die an sich heilige Sprache, so wenig, wie ihre Schrift heilig ist. Sowohl die Sprache wie die Schrift der Bibel haben an einer kulturellen Entwicklung teil, die sehr weit über Israel und seine Geschichte hinausreicht.
Dasselbe gilt für die Schrift und Sprache des Neuen Testaments, hier noch viel schwerwiegender, weil zwischen der Sprache Jseu und seiner Jünger und der Sprache und Schrift des Neuen Testaments die Grenze zwischen zwei Sprachfamilien liegt. Sprache und Schrift machen es besonders deutlich, daß keine Religion außerhalb der allgemeinen Kulturentwicklung stehen kann; eine wenn auch begrenzte Anerkennung der Arbeit und Kulturleistungen außerhalb der eigenen Religion ist damit gegeben.
Es gibt noch viele andere Bereiche der Kultur, in denen die Bibel solche Übernahmen erkennen läßt. Solange die Religion nur eine Bewegung ist wie das Christentum in der Zeit Jesu und der Apostel, ist davon wenig zu erkennen; die massiven Übernahmen beginnen mit dem Seßhaftwerden, wie es das Alte Testament zeigt. In hohem Maße hat sich Israel in seinem Rechtswesen der vorderorientalischen Rechtskultur angepaßt, als es sich in Kanaan niederließ. Auch hier haben die Kulturleistungen anderer dem Volk Israel dienen können und wurden darin anerkannt, daß sie mit dem «Gesetz Gottes» verbunden wurden. Etwas Ähnliches geschah in der Übernahme des römischen Rechts in den christlichen Völkern.
Eine eigene Architektur hat das Volk Israel nicht entwickelt. Es hat nicht nur den Bau von Häusern und Stadtbefestigungen von den Kanaanäern übernommen, sondern Salomo ließ den Tempel in Jerusalem von kanaanäischen Baumeistern bauen. Das hatte eine wesentliche Bedeutung, weil mit der Bauweise und den Ornamenten auch kanaanäische Kultelemente übernommen wurden.
Darüber hinaus kann man von einer religiösen Kultur sprechen, die einzelne Religionen zeitlich und Örtlich weit übergreift. Das Opfer ist Israel nicht erst von seinem Gott geboten worden, es war vorgegeben, wie Gen 4 und Gen 8 zeigen, und wurde von Israel übernommen. Die Jahresfeste ergaben sich aus der Ackerbaukultur und sind entsprechend weit verbreitet. Sie sind, wenn auch mit verändertem Sinn, in der israelitischen wie in der christlichen Religion übernommen worden. Auch bestimmte gottesdienstliche Formen wie das Zusammenkommen in einem großen Gebäude, mit festgelegten Gebärden, Handlungen, Worten übergreifen sehr viele Religionen. Ebenso aber gilt das Umgekehrte: Viele religiöse Elemente gehen in die außerreligiöse Kultur ein und leben in ihr als Kulturelemente weiter. Es braucht nur darauf hingewiesen werden, daß Tempel und Kirchengebäude gleichzeitig Kulturdokumente sind und daß die Museen der ganzen Erde voll sind von Gegenständen und Kunstwerken, die einmal einer Religion dienten. Hierzu gehört eine Fülle von sprachlichen Erscheinungen, deren religiöser Ursprung meist vergessen und nicht mehr bewußt ist. Neben vielen anderen gehört dazu in unseren Sprachen das Wort «Opfer». Das russische Wort für Sonntag heißt «Auferstehung» und das Wort für danken «Ehre geben».
Dieses Ineinandergreifen von Religion und Kultur, das auch in der Bibel die Teilnahme an kulturellen Leistungen außerhalb der eigenen Religion ermöglicht, gibt Fragen auf, über die noch kaum nachgedacht worden ist. Ich nenne nur eine dieser Fragen: Wenn im Neuen Testament eine Fülle von griechischen Sprach- und Denkformen in die Sprache und das Denken der frühen Christenheit aufgenommen worden ist, bedeutet das dann, daß diese kulturellen Anleihen für immer gültig sind?
IV. Kritik der Bibel an der Überbewertung der Kulturleistung
Wir können bei dem zuletzt Gesagten einsetzen: Israel konnte im Tempel von Jerusalem einen religiösen Mittelpunkt haben, vom ganzen Volk geehrt und geliebt, wie es die Zion-Psalmen zeigen, aber es war in Israel zugleich möglich, daß die Propheten Micha und Jeremia die Vernichtung dieses Tempels ankündigten als Gericht Gottes. Der Tempel war kein absoluter religiöser Wert; den mißbrauchten Tempel konnte sein kultureller Wert nicht retten. Ein starkes und klares Zeichen dafür, daß Arbeit und Kultur – selbst auf religiösem Gebiet – nicht zu Selbstwerten werden konnten.
1. Die Überbewertung der Arbeit weist Jesus in dem Gleichnis vom reichen Kornbauern (Luk 12,13-21) ab. In diesem Gleichnis wird die sehr weit verbreitete Meinung abgewiesen, daß Arbeit und Arbeitsleistung das Leben sichern können. Aber Jesus setzt in diesem Gleichnis nicht etwa der Arbeit einen «höheren Wert» entgegen, sondern weist nüchtern auf den Tod: «Du Narr, heute nacht wird man dein Leben von dir fordern!» In den gleichen Zusammenhang gehört das Wort von der Abwehr der Sorge in der Bergpredigt. In ihm weist Jesus auf den Schöpfer, der für seine Geschöpfe sorgt.
2. Diese beiden Worte Jesu erhalten ihren vollen Sinn erst von dem her, was das erste Kapitel der Bibel indirekt von der Arbeit sagt. Die sechs Schöpfungstage gehen auf den siebten zu, an dem der Schöpfer ausruht von seinen Werken. Damit ist die Arbeit zum Teil eines größeren Ganzen erklärt, zu dem die Ruhe als der andere Teil gehört. Der siebte Tag ist nicht mehr nur den Arbeitstagen zugeordnet als das für die Arbeit notwendige Ausruhen, sondern er hat seine eigene Bedeutung als das Ziel, das mehr ist als das mit der Arbeit Geschaffte. Im Werk der Priesterschrift weist der Tag des Ruhens Gottes auf die Gründung des Gottesdienstes voraus; der Rhythmus der Werktage und Feiertage weist darüber hinaus auf das Ganze des menschlichen Lebens, dessen Ziel nicht die Arbeitsleistung, sondern etwas ihr Jenseitiges, in der Ruhe Gottes Angedeutetes ist. Mit dieser universalen Konzeption am Anfang der Bibel ist deutlich gemacht, daß die Arbeit für sie kein letzter Wert ist und daß es eine Verherrlichung der Arbeit als Sinn und Erfüllung des Lebens für sie nicht geben kann. Ebenso deutlich aber wird im Sabbatgebot ausgesprochen «Sechs Tage sollst du arbeiten», d.h. der größere Teil der dem Menschen gewährten Zeit soll der Arbeit gewidmet sein. Das Sabbatgebot hat seine Bedeutung gleichzeitig in der Bewahrung des Rhythmus von Arbeits- und Feiertag und in der Bewahrung des Auftrags Gottes an die Menschen zur Arbeit.
3. Was in Gen 4 und Gen 11 kritisch zur Überbewertung der Kultur für die ganze Menschheit gesagt ist, das haben die Propheten für Israel, das Volk Gottes, aufgenommen in der sozialen Anklage. Sie ist in der christlich-kirchlichen Tradition kaum jemals ernsthaft gehört worden. In ihr wenden sich die Propheten leidenschaftlich gegen eine Bewertung kultureller Werte und Leistungen, die davon absieht, wie diese zustandegekommen sind. Sie wehren sich dagegen, etwas für schön und prächtig und großartig zu halten, wenn es durch Unterdrückung und Ungerechtigkeit zustandegekommen ist:
Wehe dem, der eine Stadt mit Blut baut
Und eine Burg auf Unrecht gründet!
Ja, der Stein in der Mauer schreit,
Und der Balken im Holzwerk antwortet ihm!
(Hab 2,11f.)
Hier ist das Gedicht Jesajas, das den Sturz der Werke menschlichen Hochmuts ankündigt (Jes 2,6-22), ebenso zu nennen wie die Anklage Jeremias gegen den König, «der sein Haus mit Unrecht baut» (22,13-17), die vielfache Anklage gegen den Luxus der Reichen, der durch das Unterdrücken der kleinen Leute gewonnen ist, und viele andere Worte. Ihnen allen ist gemeinsam, daß hier im Namen Gottes die abstrakte Wertung einer Kulturleistung, die durch Unterdrückung und Unrecht zustandegekommen ist, scharf verurteilt wird.
Hier wäre weiter zu fragen, denn auch dieser Aspekt ist in der christlich-kirchlichen Tradition kaum beachtet worden. Was die Bibel vom sozialen und theologischen Aspekt der Kultur und der Kulturleistung sagt, weicht in manchen Punkten von unseren Vorstellungen ab, die ¡m wesentlichen auf die griechisch-römische Kultur zurückgehen, in die das junge Christentum hinein wuchs. Das war möglich, solange die Christenheit im wesentlichen auf den Bereich dieser Kultur beschränkt war. Jetzt sind wir genötigt, auch hierin ökumenisch zu denken. Wir sollten genauer auf die Punkte achten, in denen unsere Auffassung von Kultur und Kulturleistung von der Bibel abweicht. Ein solcher Punkt wäre die starke Objektivierung der Kultur, die die Scheidung in Produzenten und Konsumenten von Kultur gefördert hat. Ein weiterer Punkt wäre unser Begriff der Bildung, der eine Scheidung in «Gebildete» und «Ungebildete» möglich machte. Ein dritter Punkt wäre die in der Objektivierung begründete Vorherrschaft des Elitären in der Kultur. Die prophetische Kritik an abstrakter Größe kann dabei eine Hilfe sein.
CLAUS WESTERMANN
1909 geboren. Promoviert an der Universität Zürich. Pfarrer in Berlin. Seit 1949 Dozent, seit 1954 Professor an der Kirchlichen Hochschule Berlin. Seit 1958 Professor für das Alte Testament an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u.a.: Das Loben Gottes in den Psalmen (1953, 5. Auflage 1957); Lob und Klage in den Psalmen (1977); Forschungen am Alten Testament. Gesammelte Studien. Bd. I 1964; Bd. II 1974 (mit vollständiger Bibliographie); Biblischer Kommentar zum Alten Testament, Bd. I, Genesis (1974). Anschrift: Kettlerstraße 2, D-6837 St. Leon-Rot.
Concilium 16 (1980), 45-50.
[1] Auf den großen Komplex der Ökologie kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu G. Liedke, Im Bauch des Fisches, Ökologische Theologie (Kreuz-Verlag, Stuttgart 1979).
[2] Bibl. Kommentar, Neukirchen, I,1 Genesis, S. 463f.
[3] Vgl. hierzu P. Audet, La revanche de Promethee ou le drame de la religion et de la culture, RB 73 (1966) 5-29.